Spaziergänge durch Berlin: Im Wald begegnen wir nicht nur den eigenen Instinkten
Spazierengehen darf man auch während der Pandemie. Hier erzählen Tagesspiegel-Autorinnen und -Autoren von ihren liebsten Routen in Berlin. Heute: Tegeler Forst.
Als Kind habe ich den Tegeler Forst an Wandertagen kennengelernt. Als Jugendlicher bin ich regelmäßig an warmen Sonntagen von unserer Weddinger Wohnung aus mit dem Fahrrad hingefahren.
Den eigentlichen Forst, der erst hinter dem Schwarzen Weg, den Bootsanlegern an der Großen Malche und der Dicken Marie beginnt, habe ich mir erst in meinen späten Zwanzigern erschlossen, als eine Phase der Spazierfreundschaften begann – die pflegt man mit Menschen, mit denen man regelmäßig lange Spaziergänge unternimmt und sonst nichts.
Einmal blieben meine Spazierfreundin und ich inmitten einer Lichtung instinktiv stehen. Es roch nach Tier, was bei uns Städtern offenbar irgendeinen urtümlichen Alarm auslöst.
Man bewegt sich plötzlich vorsichtig, redet nicht, mustert die Umgebung sehr genau. Dabei ist das Stillwerden eigentlich das Letzte, was man tun sollte, falls wirklich ein größeres Tier nah ist, denn die heimischen Arten sind ja keine Menschenjäger, sie suchen lieber das Weite, bevor es zu vis-à-vis-Begegnungen kommt.
Wenn sich Menschen aber leise gegen den Wind nähern, kann es zu unangenehmen Überraschungen kommen. Wir musterten also stumm die Umgebung und stellten fest, dass wir inmitten vielleicht eines halben Dutzends von Abdrücken in Wildschweingröße standen, auf denen sich das flachgedrückte frische Gras gerade wieder langsam aufrichtete. Die Tiere dürften uns gerochen und sich gerade rechtzeitig aus dem Staub gemacht haben.
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Ein andermal, das ist schon länger her, war der Waldboden von einer für Berliner Verhältnisse dicken Schneeschicht bedeckt. Nichts deutete darauf hin, dass nur wenige Meter von uns entfernt unter dem Schnee ein Wildschwein schlief, bis es plötzlich mit solcher Wucht aufschoss und Schnee aufwirbelte, dass es kurz zu schneien schien. Und davonlief. Zum Glück ein Einzelgänger, vermutlich ein Eber. Bachen schließen sich eher zu Rotten zusammen.
Zahlreiche Wühlplätze lassen auf eine gesunde Population schließen, die Hochsitze in unmittelbarer Nähe verursachen Schauer. Sie sollen notwendig sein, wenn man keine Überbevölkerung, dafür aber den Braten will. Auf letzteren kann uns Städtern wiederum der Appetit vergehen, wenn wir Schüsse in der Ferne hören.
Das Waldleben erwacht, wenn der Mensch weg ist
Einen der schönsten Eindrücke, zumindest wenn man die Dunkelheit nicht fürchtet, gewinnt man kurz vor Einbruch der Dämmerung, wenn die Vögel still werden und man das Knarzen des Holzes im Wind hört. Die Geräuschkulisse erfährt eine räumliche Tiefe, die man in der Stadt niemals hat.
Man meint auch weit Entferntes zu vernehmen, das man nicht identifizieren kann und spürt, dass das Waldleben erst mit Einbruch der Dunkelheit richtig beginnt, wenn der Mensch hier verschwunden ist. Mit etwas Glück sieht man Rehe über die für uns unwegsame Hügellandschaft mühelos dahingleiten und die Konturen des Geländes nachzeichnen.
Sich von feinsten Stimuli leiten lassen
Die Bewegung, die ein Molekül in einem Tropfen Wassers vollzieht, nennen Physiker Random Walk. Das Teilchen bleibt nie stehen und zieht gemächlich seine Bahnen, schlägt aber immer wieder plötzliche Richtungswechsel ein. Die Kräfte, die diese Wechsel verursachen, sind für uns nicht messbar gering.
Ein bisschen was vom Random Walk kann auch der Spaziergang durch den Forst haben, wenn der Wald in der Dämmerung still wird, keine anderen Menschen mehr anzutreffen sind, man sich in Details der Umgebung verliert und von den feinsten Stimuli, die man mit der üblichen Alltagsaufmerksamkeit gar nicht wahrnehmen würde, mal hier-, mal dahin gelockt wird.
Die tief stehende Sonne taucht alles in rotoranges Streiflicht, das die Bäume unendlich scheinende Schatten werfen lässt. Dazwischen erstrahlt der Waldboden gülden.
Manchmal dröhnt genau dann ein Dorfdisco-Beat irgendwo los, gerne von unweit wohnenden, sauflustigen Jugendlichen genau jener Eltern, die sich später über die aus dem Wald in ihre Vorgärten fliehenden Wildschweine ärgern. Nichts gegen sauflustige Jugendliche, aber der Wald ist einfach für ganz andere Schweinereien gemacht.