Kostüme, Röhrenfernseher und Diskokugeln: Im Berliner Techno-Club „Wilde Renate“ wird jetzt immersive Kunst gezeigt
Wie könnte eine Welt nach Corona aussehen? In der Wilden Renate zeigen Performer und Installationen den Besuchern fremde Realitäten: „Overmorrow“
Der Eintritt in die Welt „Overmorrow“ ist ein Weg von oben nach unten: Steile Treppenstufen und kaltes Neonlicht führen in den Keller der Wilden Renate, einem Friedrichshainer Club, wo normalerweise wilde, bunte und freizügige Partys mit elektronischer Musik gefeiert werden.
Die Räume in dem Altbau nahe der Elsenbrücke erinnern mehr an eine sehr große WG-Party denn an einen Club – doch seit der Coronapandemie blieben sie leer.
Nun haben 40 Künstlerinnen und Künstler in ihnen ein immersives Gemeinschaftswerk geschaffen – mit Live-Performances, Video- und Rauminstallationen. Die Besucherin ist eingeladen, in eine alternative Realität einzutauchen, dabei ist jeder Raum eine ganz eigene, kreative Welt für sich.
Utopie oder Dystopie - wohin führt der Weg?
In einstündigen Zeitfenstern soll die begehbare Installation in englischer Sprache einen Einblick geben, wie die Welt nach der Pandemie aussehen könnte. „Overmorrow“ ist ein altenglisches Wort für „übermorgen“. Laut Projektleiter Florian Wozny beschreibt das Wort einen Tag, der niemals kommt. Eine magische Traumwelt, „Utopie oder Dystopie. Wohin führt uns der gemeinsame Weg?“, heißt es auch in der Ankündigung.
Im Keller der Wilden Renate werfen die Besucher erst mal einen Blick Richtung Dystopie. Während die Berliner Clubwelt von Freiheit und Ausschweifungen bestimmt ist, gelten hier strenge Regeln: Eine uniformierte Kontrolleurin schreit der Besucherin durch einen Fernseher die Vorschriften zu Abstand, Hygiene und Masken entgegen. Sie gelten auch in der alternativen Kunst-Welt der Installation.
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Nach dieser ersten Sequenz wird es traumartiger, die Treppe führt nach oben zu wärmerem Licht. Eine Videoprojektion zeigt eine grüne Naturlandschaft und empfiehlt langsames Ein- und Ausatmen, während dunkle Bässe den Raum vibrieren lassen. Geometrische Formen transformieren sich und erinnern an ein Auge – das Logo der Installation.
Tanzende Menschen im Club: Vor Corona, nach Corona?
Der Blick in die Zukunft kann beginnen. Durch einen Türspion im Treppenhaus ist er kurz zu erhaschen: Kostümierte Menschen, darunter die Hula-Hoop-Künstlerin Dunja Kuhn, feiern ausgelassen. Doch das Bild ist Schein, eine Videoaufzeichnung. Vor Corona, nach Corona?
Den Weg durch das Club-Labyrinth weisen aufgeklebte Pfeile und „Safety Power Rangers“. Mit ihren weißen Overalls und Masken erinnern sie an medizinisches Nothilfepersonal in Krisengebieten. In der Renate passen sie auf, dass sich niemand verirrt und die Abstandsregeln eingehalten werden.
Trotzdem ist die Besucherin selbst aktiv, schlüpft hinter Vorhänge oder gar in einen Kleiderschrank und durchläuft so insgesamt etwa 15 Räume, trifft immer auf neue Künstlerinnen und Künstler. „Wenn du Angst hast, ist jetzt ein guter Moment, zu gehen“, warnt eine Performerin in einem gruseligen Schlafzimmer.
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Man könnte den Raum also durch eine niedrige Tür verlassen ohne die Gutenachtgeschichte zu hören – oder sich stattdessen mit der Performerin unterhalten. In einem anderen, höhlenartigen Raum wurden Augen in vaginaartige Gebilde eingenäht, die an den Wänden hängen.
Die Wilde Renate ist einer der 38 Kulturorte, die nach der coronabedingten Schließung vom Senat eine Förderung bekommen haben. Die Miete sei dadurch bis Ende August gedeckt, die Zuwendung soll bis zum Jahresende verlängert werden, berichtet Ingo Schwerdtner, einer der Club-Gesellschafter. Der Club kann so erst mal überleben, die Einnahmen aus dem Biergarten seien gerade „ein Tropfen auf den heißen Stein“ dessen Öffnung nur bei gutem Wetter möglich.
Auch vielen Künstlern geht es durch Corona wirtschaftlich schlecht
Nicht nur die Berliner Clubs sind in eine schwierige Situation geraten – auch Künstlerkollektiven wurde die Existenzgrundlage genommen. „Wir haben Overmorrow sehr schnell auf die Beine gestellt, um Künstlern eine Bühne zu geben“, sagt Florian Wozny.
Das sei insbesondere für Künstlerinnen und Künstler jenseits des Mainstreams wichtig, die an der Installation mitwirken, wie beispielsweise Bad Bruises. Das Kollektiv ist bekannt für seine immersive Theaterkunst, in burlesken Raumdekors wurde in der Wilden Renate vor der Pandemie gemeinsam mit kostümierten Gästen die Sexualität in ihrer Vielfalt gefeiert.
Auch die anderen queeren Kollektive, die mit der Wilden Renate zusammenarbeiten, stellen in „Overmorrow“ heteronormative gesellschaftliche Konventionen infrage. So auch der Raum der Künstlerinnen Antina Christ und Hottie de Paris: Auf einer rosa eingefärbten Seite sind vermeintlich weiblich konnotierte Gegenstände zu sehen (Bügelbrett, Softeis, Spielzeugpferd), auf der anderen, blauen Seite Werkzeuge und Autos.
Die beiden verschiedenen Raumteile sind mittig durch ein Kreuz getrennt. Stereotype? Vielleicht. Dystopie, Utopie? In jedem Fall geht es hier um individuelle Grauzonen und die spielerische Auflösung von Geschlechtergrenzen. „Räume wie Overmorrow machen die Berliner Subkultur für viele Menschen zugänglich,“ sagt Wozny. „Vielleicht wird sogar das eine oder andere Ressentiment abgebaut.“
Overmorrow läuft in der Wilden Renate (Alt-Stralau 70) bis Ende August von Mittwoch bis Sonntag, Zeitfenster (14-22 Uhr) buchbar auf www.overmorrow.de. Tickets kosten 25 Euro.
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