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der Armenfriedhof Berlins ist der Alte Dom Friedhof St. Hedwig in Mitte.
© Thilo Rückeis

Sammelgräber in Berlin: "Ich bin doch etwas Besonderes"

Siegfried Hausberg lebt in einem Wohnheim für Alkoholkranke. Wenn er stirbt, will er, dass man sich seiner erinnert. Vielen Armen der Stadt ist das verwehrt.

Der Eisbär, wie ihn alle nennen und er sich selbst, nimmt eine gespielt staatstragende Haltung an, ruckelt noch kurz das Hörgerät hinterm rechten Ohr zurecht, macht eine übertrieben schwungvolle und doch sehr elegante Bewegung mit dem linken Arm, dann rezitiert er aus einem seiner zahlreichen Gedichte: „Zum Weiterleben muss es einen geben, der unsere Innenwelt zusammenhält …“

Dann lacht der Eisbär laut auf, öffnet dabei seinen zahnlosen Mund und wird sofort wieder still. Der Tod, sagt er, trete erst ein, wenn niemand mehr über einen rede. Deshalb, fährt er fort, wolle er, dass auf seiner Beerdigung unbedingt „der Helmut“, ein ehrenamtlicher Mitarbeiter und guter Freund, die Rede hält. Er würde sich freuen, wenn „ganz viele Menschen kommen“, seine Freunde, sie sollen um ein Lagerfeuer sitzen, Gitarre spielen und singen.

Sein bürgerlicher Name, Siegfried Hausberg, ist ihm egal, Hauptsache, auf dem Grabstein steht „Eisbär“.

Wieder Gekicher. Er kann nicht anders, als mitten im Erzählen und Rezitieren noch schnell die neuesten, ihm ständig ins Hirn schießenden Wortwitze mitzuteilen: „Ohne Zähne mach mir keine Szene! Sagt der Zahnarzt!“ Der Eisbär kann auch über sich selbst Witze machen.

[91 Tote, 91 Kerzen: "Macht nächstes Mal die katholische Kirche mit?" So lief die 1. Gedenkfeier in Spandau - hier der Text. Die Tagesspiegel-Newsletter für jeden Berliner Bezirk gibt es kostenlos und in voller Länge hier: leute.tagesspiegel.de]

Siegfried Hausberg ist ein ziemlich schlanker, schlauer Mann, dessen lange, sonnenverwöhnte Arme und Beine lustig herumschlackern, wenn er sich bewegt. Seine wenigen Haare liegen wie dünne Watte auf seinem Kopf. Aber der Kopf ist voller Einfälle, Ideen und Wissen. An einem Spätsommertag steht er im vierten Stock des Wohnheims der evangelischen Kirche für alkoholkranke Männer in der Kreuzberger Nostitzstraße, Zimmer 401, hinter ihm kann man aus zwei Panoramafenstern des Eckzimmers auf den Berufsverkehr am Mehringdamm schauen. Draußen tobt das Leben, hier drinnen hat der Eisbär sein eigenes fein säuberlich an die Wand geklebt. Mit Tesafilm und möglichst kleinem Abstand zum nächsten Bild. Auf Hunderten von Blättern im DIN-A4-Format, meist mit Kugelschreiber gezeichnet, hat er sein Leben verewigt – vom Treppenhaus im dritten Stock aufwärts zum vierten, hinein in sein Zimmer und bis unter die Decken.

Das Heim, in dem 46 Männer wohnen und in dem er mit seinen 78 Jahren der Älteste ist und einer der sehr wenigen, die nach der Alkoholabhängigkeit wieder trocken wurden, ist für ihn, wie er sagt, „kein Abstellgleis, sondern meine Heimat. Und das Beste, was mir passieren konnte“.

In diesem Haus, das in gewisser Weise auch ein Hospiz ist, weil die meisten hierbleiben, bis sie sterben, und dabei begleitet werden, werden die Biografien der Männer in Ehren gehalten. Wenn sie sterben, kommen sie, auch wenn sie keine Mittel oder Angehörige haben, in das „Grab mit Namen“, das die Heilig Kreuz-Passion der evangelischen Kirche im Jahr 2001 initiiert hat. Auf dem Friedhof „Vor dem Halleschen Tor/Jerusalemfriedhof“ gibt es einen Erinnerungsstein, der Pfarrer spricht, eine Trauerfeier wird abgehalten und meistens trifft man sich danach auch zum Leichenschmaus. Denn bei dem wird schließlich über den Verstorbenen geredet und sich erinnert. Manchmal kommen viele Menschen, manchmal nur ein paar aus dem Wohnheim. 59 mittellos Verstorbene, die ansonsten per ordnungsbehördlicher Bestattung begraben worden wären, sind mittlerweile auf dem Friedhof beigesetzt. Jede Namensgravur kostet 275 Euro, die meist über Spenden bezahlt werden.

Die Namensschilder sind aus grünem Plastik

Doch ein solches Begräbnis für obdachlose oder mittellose Menschen, die keine Angehörigen mehr haben oder bei denen die Angehörigen nicht mehr zu finden sind und sich auch nicht kümmern wollen, ist in Berlin eine Ausnahme. Normalerweise landen diese Menschen nun auf einem Friedhof in Mitte nahe dem Humboldthain, der sich seit rund zwei Jahren still und leise und von einer breiten Öffentlichkeit völlig unbemerkt zu dem Armenfriedhof der Stadt entwickelt hat – weil er der kostengünstigste im Geschäft mit ordnungsbehördlichen Bestattungen ist. Mehr als 2000 Menschen werden hier jährlich auf Urnenreihengrabstätten beerdigt, 40 Zentimeter Abstand liegen zwischen den Urnen. Der Eisbär möchte nicht dort enden.

An einem sonnigen Tag im September ist dieser Alte Dom Friedhof St. Hedwig der katholischen Kirche in der Liesenstraße nahe dem Humboldthain gegen elf Uhr vormittags fast menschenleer, von Weitem sehen einige Grabstellen so aus, als würden unzählige kleine, vollkommen hellgrüne Blumen auf dem Grab stehen. Diese futuristischen „Blumen“ stehen im Kontrast zu den oft alten, aber sehr großen und schweren denkmalgeschützten Grabsteinen. Kommt man näher an die Gräber heran, erkennt man Dutzende von Plastikschildern in hellgrüner Farbe. Sie sind immer dort eingesteckt, wo besonders alte Grabsteine stehen, die von ihren ursprünglichen Pächtern nicht mehr genutzt werden. Auf den Plastikschildern, den sogenannten Merkpfählen, sind die Namen der Toten, Geburtstag und Todestag vermerkt sowie eine Registraturnummer.

 "Eisbär" heißt mit bürgerlichem Namen Siegfried Hausberg.
"Eisbär" heißt mit bürgerlichem Namen Siegfried Hausberg.
© Kai-Uwe Heinrich

Ein paar Meter weiter hat ein Mann im schwarzen Anzug eine Urne zur Andacht in die kleine Kapelle gebracht. Drei große Kerzen brennen neben dem Altar aus Marmor, weiße Blumen stehen vor dem Tisch für die Urne. Es ist niemand gekommen, um zu trauern. Trotzdem bleibt die Urne 15 Minuten stehen. Dann trägt der Mann, ein Bestatter einer Firma, die vom Friedhof für solche Begräbnisse beauftragt wird, die Urne zum Grab, spricht ein Gebet und verbuddelt sie – neben den vielen anderen Urnen, die bereits in der Erde sind. Dies entspricht den behördlichen Anforderungen dieser sogenannten ordnungsbehördlichen Bestattungen, wie die korrekte amtsdeutsche Bezeichnung für diese Art von Beerdigungen lautet. Die Mitarbeiter der jeweiligen Gesundheitsämter der Bezirke haben sieben Tage Zeit, um Angehörige zu ermitteln. Ermitteln heißt, beim Melderegister und beim Standesamt nachzufragen. Sind Angehörige im Ausland oder werden nicht gefunden, haben sie Pech. Die Rechnung bekommen sie dann nach dem Begräbnis – so ist die Gesetzeslage. Freunde oder Bekannte darf das Amt nicht benachrichtigen.

Vor der kleinen Kapelle auf dem katholischen Friedhof Alter Dom steht nun auch Galina Kalugina, die Friedhofsverwalterin der katholischen Kirche. Andere Friedhöfe haben ihr Preisdumping vorgeworfen. Sie sagt: „Was wir hier machen, ist nichts anderes, als unsere soziale Aufgabe zu erfüllen.“ Auf dem Spaziergang über den Friedhof erläutert Galina Kalugina ihr Konzept. Sie hat die großen, alten und sehr teuren Gräber, deren Nutzungsrechte ausgelaufen sind oder die von den jeweiligen Pächtern nicht mehr verlängert werden, die aber aus Denkmalschutzgründen trotzdem vom Friedhof gepflegt werden müssen, quasi umgewidmet. In der Friedhofsgebührenordnung fielen früher 96 Euro für eine „gärtnerische Erstanlage einer Urnenwahlgrabstätte“ an. Jetzt werden die ordnungsbehördlichen Bestattungen auf vorhandenen Gräbern vollzogen, sodass der Friedhof die 96 Euro einspart. Damit konnte Kalugina den vormaligen Preis von 461 Euro auf 365 Euro drücken. Berlinweit ist sie damit am günstigsten.

Bisher hat es in Berlin Friedhöfe gegeben, wie etwa den Parkfriedhof in Neukölln, die einmal im Monat ordnungsbehördliche Beerdigungen im Minutentakt durchgeführt haben. Mit anonymen Gräbern. Das gibt es auf dem Friedhof in der Liesenstraße nicht. Die Urnen werden auch nicht wie in Neukölln per Schubkarre zur Grabstelle transportiert, sondern getragen. „Ein Gebet wird auch gesprochen“, sagt Kalugina und findet: „Arm und Reich haben hier bei uns zusammengefunden.“ Allerdings mit dem für manche womöglich irritierenden Charme, dass die Toten, von denen sich die meisten zu Lebzeiten eine Grabplatte niemals hätten leisten können, nun unter teuren Marmormonumenten begraben liegen, die unter Denkmalschutz stehen.

Manche sagen, die Urnenfeldgräber sehen wie Massengräber aus

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Es gibt Menschen, die finden, dass die Anmutung solcher Gräber der eines Massengrabs entspricht. Dazu gehört der Superintendent der Evangelischen Kirche in Stadtmitte, Bertold Höcker. In Köln hat Höcker Ende der 90er Jahre gemeinsam mit der Stadt und anderen Trägern eine Initiative ins Leben gerufen, die ermöglicht, dass es keine anonymen Bestattungen mehr geben muss. Doch dafür brauchte die Kirche die Namen der Verstorbenen. Man einigte sich auf ein Verfahren. In Berlin ist Höcker gescheitert, seine Initiative „Gottesdienst für Unbedachte“ mit Hilfe der Politik ins Leben zu rufen. Höcker sagt: „Ich finde nicht, dass ein Merkpfahl aus Plastik einer würdevollen Namenserinnerung gleichkommt. Berlin muss sich fragen, was die Bürger dem Staat nach dem Tod noch wert sind. Statt sich human zu zeigen, denkt der Senat in Kostenkategorien.“ Jeder Mensch, ob reich oder arm, verdiene eine Trauerfeier. „Diese aus Kostengründen einzusparen, halte ich für unwürdig. Und das Grab sollte den Namen wenigstens auf einer kleinen Grabplatte tragen.“ So sieht es auch der Eisbär. Er weiß zwar noch nicht, wie sein Grabstein aussehen soll, aber „das gehöre dazu“. Würden wiederum auf dem Friedhof in Mitte solche Grabplatten angebracht werden, würde der Denkmalschutz intervenieren. Dann wäre das denkmalgeschützte Gesamtensemble in Gefahr. Durch den grünen Plastikschilderwald nicht. Und so wird der Wunsch des Eisbären in Erfüllung gehen, weil er bereits jetzt alles dafür organisiert hat – für Tausende andere, die sich Ähnliches wünschen, nicht.

"Ich bin doch etwas Besonderes!", sagt der Eisbär

Der Eisbär hat auch lange darüber nachgedacht, ob er nicht wie die vielen anderen aus dem Heim auf dem Friedhof der Heilig Kreuz-Passion in Kreuzberg begraben werden wolle. Aber er hat sich erst einmal anders entschieden, auch wenn er das Projekt „Grab mit Namen“ sehr unterstützenswert findet. Der Eisbär möchte aus guten Gründen viel lieber auf den Luisenfriedhof am Fürstenbrunner Weg, gleich hinter der A100 zwischen Spandauer Damm und der Spree gelegen, unter die Erde kommen. Der Ort liegt ihm am Herzen, weil seine „Wandervögel“, denen er seit Kindeszeiten angehört, dort ein Vereinshaus haben, die Rabenklaue, und gleich gegenüber liegt der Friedhof. Eisbär sagt: „Hier im Heim in der Nostitzstraße ist meine Heimat, aber dort sind meine Freunde. Ich würde mich freuen, wenn alle dorthin kommen.“ Er überlegt, er weiß ja, von Kreuzberg aus ist es weit bis fast nach Spandau hinaus, aber die Wandervögel sind nun mal sein Leben, sie machen ihn aus, sie haben ihn geprägt, er hat nichts anderes getan, als auf Wanderschaft zu sein.

Daran soll man sich nach seinem Tod erinnern. Das Leben ist vielleicht nichts anderes als die Ansammlung von persönlichen Geschichten. Sie verdichten sich zu einem Bild, zu einer Identität. Und der Name, ob bürgerlich oder erfunden, symbolisiert am Ende dieses Leben. Fällt der Name, werden Erinnerungen wach. Aus allen diesen Geschichten, den alten und neuen, den vergangenen wie den gegenwärtigen, zieht der Eisbär eine Erkenntnis, die er wie gewohnt grinsend mitteilt und dabei ein wenig hüpft und tanzt und sagt: „Ich bin doch etwas Besonderes. Ich schwimme gegen den Strom.“

Der Eisbär hat sein Begräbnis bereits geplant, er wünscht sich eine Rede von einem Freund, Lagerfeuer, Gesang.
Der Eisbär hat sein Begräbnis bereits geplant, er wünscht sich eine Rede von einem Freund, Lagerfeuer, Gesang.
© Kai-Uwe Heinrich

Der Eisbär ist 1939 in Wuppertal geboren. Als er acht Jahre alt ist, steht er am Fluss vor der Müngstener Brücke, die höchste Eisenbahnbrücke Deutschlands, die die Wupper zwischen Remscheid und Solingen überspannt. Dann klettert er alleine die 1897 fertiggestellte Stahlkonstruktion hinauf – 107 Meter hoch. Er erinnert sich, dass er keine Angst hatte. Nicht vor so etwas! Aber bevor er zum Eisbär werden konnte, musste er ein Vogel sein. Ein Wandervogel der bündischen Jugend. Dieser Schüler- und Jugendorganisation, einst 1901 in Berlin-Steglitz gegründet, gehört der Eisbär an. Bis heute. Er trägt das rote Barett auf dem Kopf, hat die Ordenskleider im Schrank und den blauen Wimpel mit dem weißen Vogel auf dem Tisch. Sein Orden ist der der Rabenklaue. Wandern, reisen, singen und einen eigenen Geist entwickeln hat sich dieser Jungenbund zur Aufgabe gemacht. Die Bewegung der Wandervögel hat das Jugendherbergswerk und die Reformpädagogik geprägt.

Er fuhr nach Finnland - natürlich im Januar bei minus 40 Grad

Der Eisbär hat alle Stufen durchlaufen, er ist Ritter geworden, später Ordensritter. Aber im kalten Februar 1959, am Oberlauf der Lahn bei Marburg, als er 14 Jahre alt ist, da hat sein Dasein womöglich erst richtig begonnen. Es ist der Tag seiner zweiten Namensgebung. Die jungen Naturfreunde der Wandervögel laufen mit ihrem Gruppenführer durch den Wald zum Wasser. Der Fluss, ein Nebenarm, ist vereist. Aber der junge Siegfried ist bereit, sich zu beweisen. Und so tritt er von hinten nach vorn, erinnert er sich heute, zerschlägt das dünne Eis mit einem Stein, wirft diesen hinein und springt hinterher. Als wäre es eine Mutprobe.

Als er dem frostigen Nass entsteigt, zeigt der Gruppenführer auf ihn und sagt feierlich: „Und das ist unser Eisbär!“

Bis heute unterschreibt Siegfried Hausberg mit „Eisbär“, auch amtliche Dokumente.

Angst vor Abenteuern hatte er also nie, aber doch womöglich ein großes Unbehagen vor den bürgerlichen Erwartungen der anderen, vor dem Eingezwängtsein in Konventionen und Etiketten. Das Zuhause, auf das er stolz ist, war streng bürgerlich, der Großvater war Pfarrer einer Freikirche, sang im Chor, spielte Theater, der Vater war Architekt und Sänger, aber als die Schwester in der Schule immer besser und besser wurde, da wurde er eher schlechter. Musste sogar zweimal die Klasse wiederholen und wollte irgendwann einfach nur da raus – und Geld verdienen.

Er wurde zunächst Handelsfachpacker, heute nennt man das Logistiker, im Bäckereifachgroßhandel, und weil er deshalb ständig in Bäckereien war, sagt der Eisbär, wurde er gleich auch irgendwie Bäcker und Konditor. Später war er Wachschützer und Möchtegernstudent, jobbte im SFB und auf dem Bierpinsel in Steglitz, war Handwerker und Seelsorger, baute mit an Vereinshäusern, leitete Jugendgruppen, machte „mehr als 50 Berufe“, weil er „mitreden wollte“ und neugierig war, vor allem aber um unterwegs sein zu können auf dieser Welt. Seine Sozialarbeiterin Conni sagt: „Er ist ein Idealist. Er hat immer höhere Ziele, aber er liebt die Gemeinschaft, auch wenn er einen Rückzugsort braucht.“

Mit der eigenen Ente und einer Freundin fuhr er nach Finnland – natürlich im Januar, um es allen anderen zu zeigen. Eigentlich reiste man als Bündischer dort nur im Hochsommer hoch, aber „dann fressen einen die Mücken auf". Und so übernachtete der Eisbär bei minus 40 Grad hoch droben im Land der Samen. Später hat er auch mal geheiratet, die Frau hatte einen Sohn, aber der, erzählt der Eisbär, sei ein Müttersöhnchen gewesen und fuhr mit auf Hochzeitsreise nach Prag. Ist nicht lange gut gegangen, hätte er sich denken können, sagt er. Aber: „Wieder was gelernt!“

Bertold Höcker, Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Stadtmitte, hält ordnungsbehördlicher Bestattungen für "unwürdig".
Bertold Höcker, Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Stadtmitte, hält ordnungsbehördlicher Bestattungen für "unwürdig".
© Martin Kirchner

Später hat er sich selbst eingestanden, dass er schwul ist. Aber ein Mann seiner Generation und mit seinem Leben konnte sich nicht so einfach bekennen. Er redet darüber nicht, doch deutet an, dass er vor diesen Problemen davonwanderte, er durchpflügte Landschaften auf der Flucht vor der Einsamkeit. Schließlich wurde der Alkohol sein Freund. Und es begann der Absturz – irgendwo in Sachsen-Anhalt landete er in einem Heim. Und trank, bis der dortige Heimleiter sich an die Berliner wandte, wo er gemeldet war. Die Leute aus der Nostitzstraße holten ihn ab und brachten ihn zurück nach Kreuzberg. Das war 2007. Er fand seinen Anker ausgerechnet an einem Ort, an dem fast alle anderen sich bis in den Tod trinken. Eisbär aber entschied von einem Tag auf den anderen: Jetzt ist Schluss. „Ich hatte genug“, sagt er. Und wurde lieber Veganer. Dann sagt er mit Blick auf seine Bilder an der Wand: „Man muss erst im Sumpf gestanden haben, um zu verstehen, dass auch aus dem Saulus wieder ein Paulus werden kann.“ Er vergleicht das Leben mit Wegen, irgendwann komme man in eine Einbahnstraße, sehe ein Stoppzeichen. Und dann – „kommt die Erkenntnis“. Und so hat sich der Eisbär immer wieder neu erfunden.

Der Tod ist im Haus in der Nostitzstraße Alltag. Denn die schwerkranken Männer sterben. Und die vielen Freunde, die der Eisbär über seine bündische Bewegung hat, sie sterben auch. Irgendwann entschied er, dass er Abschied nehmen wolle, und hat möglichst viele Beerdigungen besucht. Zusammen mit Conni. Es war schon bei seinem Vater so, zu dem er lange keinen Kontakt hatte, dass er irgendwann plötzlich spürte, ich muss jetzt heim, er stirbt. Und so war es dann auch. Der Vater hat noch auf ihn gewartet, ohne zu wissen, dass er kommt, per Anhalter, sie haben sich verabschiedet. Das war 1992.

Er liest Böll, Lenz, Hein oder Tucholsky und nennt sich "panreligiös"

Jetzt organisiert der Eisbär seinen eigenen Abschied, aber er redet nicht darüber. Er sortiert, räumt auf, hält Ordnung: Im Zimmer stehen drei Holzgitarren, eine Ukulele, eine Mandoline, eine Zither, „alles vom Mund abgespart", und selbstverständlich spielt der Eisbär alle Instrumente ohne Noten. Ist schließlich ein Freigeist. Und Romantiker. Er bezeichnet sich selbst als „panreligiös“, unter der Regenbogenfahne im Eckzimmer stehen zwei kleine Buddhas, darüber Bilder seiner Familie, zu der er noch Kontakt hält, und auf dem Fensterbrett, ordentlich sortiert, Bücher von Heinrich Böll, Siegfried Lenz, Christoph Hein, Kurt Tucholsky und Heinz Erhardt, seinem Lieblingsschriftsteller. Den Leiter der Unterkunft, Ulrich Davids, hat der Eisbär kürzlich höflich angewiesen, von seinem Geld einen Sprayer zu beauftragen, der zwei Eisbären an die Häuserwand sprühen solle. Die einzige Bedingung: Es müsse noch vor seinem Geburtstag im Oktober erfolgen.

Davids kennt den Eisbären schon lange, der würde selbst nie darüber reden, dass er sehr darauf achte, seine Pläne und Projekte, nun möglichst zügig fertig zu bekommen. Weil er insgeheim fürchtet, zu sterben, bevor er seine Dinge geregelt hat? Wenn der Eisbär seine Bilder zeigt und erklärt, fängt er unten im dritten Stock an und arbeitet sich dann Treppenstufe für Treppenstufe nach oben, die vielen Städte, die er gezeichnet hat und in denen er war, die Tiere, die Menschen, Freunde, wie sie gemeinsam singen, und dann rutscht ihm eine Formulierung heraus, von der man schon glauben darf, dass er sie sehr ernst meint, obwohl er natürlich wie immer über sie hinweglacht: „Das hier ist meine Ruhmeshalle.“ Er breitet die Arme aus und guckt zufrieden.

Davids hat den Eisbären als einen Menschen schätzen gelernt, der sich in Diskussionen einmischt und der etwas zu sagen hat. Wenn es politische Themen in ihren wöchentlichen Debattierrunden gebe, dann sei der Eisbär immer am Start. Er hat dezidierte Ansichten, zum Beispiel, sagt er im Gespräch, würde er in Schulen niemals Noten geben. „Waldschulen ohne Zensuren“, dafür ist der Eisbär und erklärt, dass er ein Verfechter der Pädagogik Rudolf Steiners sei.

Siegfried Hausberg hat noch Kontakt zu seiner Familie, aber sein Leben war eine Flucht vor bürgerlichen Konvention.
Siegfried Hausberg hat noch Kontakt zu seiner Familie, aber sein Leben war eine Flucht vor bürgerlichen Konvention.
© Kai-Uwe Heinrich

Über sich selbst und seine eigene Situation kann er sehr reflektiert reden und findet, dass er hier „ein Betreuter und ein Betreuender zugleich“ sei. Er sieht in seinem Dasein an diesem Ort in Kreuzberg einen Sinn, weil sich nicht nur um ihn gekümmert wird, sondern er sich kümmern kann. Es gibt Männer aus vielen Nationen, Rumänien, Polen, Sri Lanka. Als letztens die Feier zum 20-jährigen Jubiläum der Einrichtung anstand, hat er eine Rede gehalten, natürlich in Reimform. Und jeder der Mitarbeiter und Angestellten wurde mit mindestens einem Satz bedacht. Noch heute schwärmen die Mitarbeiter davon. Somit ist er im Reinen mit sich, auch wenn das Hören sehr schwerfällt und er seinen eigenen Gesang als Musiker nicht mehr richtig wahrnehmen kann.

Doch die Gemeinschaft und die Biografien der anderen, die er ein bisschen kennt, weil er nachfragt, ohne aufdringlich zu sein, sind auch indirekt ein Glück für ihn selbst. Jeder Mensch in diesem Heim hat schließlich ein eigenes, vielleicht ähnlich spektakuläres Leben gehabt wie er. Das ist die Lehre aus seinem Leben, dass Namen nicht Schall und Rauch sind, sondern Identitätsanker, die Überschrift in der Biografie. Aber nun wird es doch wieder zu ernsthaft, da grinst er lieber und sagt: Früher habe er Erzieher werden wollen, jetzt sei er einer und zudem ein, Achtung Wortspiel, „Klasse-Sprecher“, wo er doch schon nie Klassensprecher sein durfte.

Das Leben hinter seinem Namen ist nichts Geringeres als ein epischer Roman. Aber über das Ende hat Siegfried Hausberg vermutlich erst vor wenigen Jahren angefangen nachzudenken. Er spricht auch nicht über seine Krankheit. Er spricht lieber darüber, wie agil er sei, dass er „topfit ist und 100 Jahre alt wird“. Aber an der Wand und in seinen Tagebüchern hat der Eisbär angefangen, auf sein Leben zurückzuschauen. Im Zimmer stechen beispielsweise ein paar Bilder heraus, die farbenprächtiger wirken als andere. Da ist das Bild der Eltern mit dem satten grünen Hintergrund, Vater und Mutter sitzen am Tisch, die Gesichter klar konturiert, Instrumente sind zu sehen und eine Weinflasche mit dem Schriftzug „Prestige“ auf dem Etikett. An die Wand gegenüber hat er ein prächtiges Fachwerkhaus geklebt, der Großvater hat es erbaut. Die Eltern von der anderen Wand blicken hierher. Und der Rest der großen Familie ist an der dritten Wand aufgestellt. Für einen Besucher ist es nicht ersichtlich, aber der Eisbär erklärt: „Jedes Bild hat seinen Platz, alles korrespondiert miteinander.“

Im Rückblick ist das Gemalte an den Wänden gewolltes Chaos und ersehnte Harmonie zugleich. Es zeugt in jedem Fall von dem unbändigen Willen des Eisbären, frei zu sein und gleichzeitig etwas Bleibendes zu hinterlassen.

Armin Lehmann

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