Berlin: Ehre Letzte
Ein Grabstein, eine Trauerfeier: Eine Kreuzberger Kirchengemeinde war die erste in Deutschland, die Trebern das gab. Bis heute hat sie 34 Obdachlose bestattet. Anderswo in Berlin werden mittellose Menschen ohne Zeremoniell unter die Erde gebracht. Und die Zahl derer, die sich kein Begräbnis leisten können, steigt.
Und dann, kurz vor dem Grab, der Pfarrer hat gerade Gott den Herrn, erwähnt, erhebt er sich aus seinem Rollstuhl. Er will noch was richtigstellen, und das ist so wichtig, dafür muss er einfach stehen. „Was Sie da in Ihrer Rede meinten, Herr Pfarrer“, sagt Andreas und stützt sich auf seiner Rollstuhllehne ab, „dass Günter ein Einzelgänger war, das ist nicht wahr. Der Günter, der war immer für uns da, sogar Alkohol hat der uns abgegeben. Stimmt’s, Hotte?“ Und Hotte nickt. Ja, das stimmt, darum ging’s ja auch in seinem Lied. Hat es extra für Günter geschrieben und vorhin in der Kapelle gesungen, aber das hat Andreas wohl schon wieder vergessen. Bei anderer Gelegenheit würde Hotte ihm das vielleicht vorhalten, „Mensch, Andreas, hast du nicht zugehört? Ich hab’ doch …“, würde er poltern, aber nicht jetzt, nicht hier. Heute, an diesem Julitag, begleiten Andreas und Hotte ihren Freund Günter auf seinem letzten Gang, obwohl Andreas selbst kaum noch laufen kann. Unsicher tappt er vorbei an Pfarrer Storck, vor zu dem Loch, in dem die Urne jenes Mannes liegt, dem er und Hotte das vielleicht größte Lob ausgesprochen haben, das es gibt in ihren Kreisen: dass er mit ihnen geteilt hat, was sie am nötigsten brauchen – Alkohol.
Andreas. Hotte. Günter. Am Rande des Lebens und mitten in Berlin zu Hause. Auf der Straße, unter der Brücke, an der Tanke, in Notunterkünften. Drei von denen, die pöbeln und palavern, saufen und stinken, an denen man Kinder schnell vorbeizieht, die sich selbst nur mit Vornamen vorstellen, als hätten sie das Recht auf eine ordentliche Anrede, auf ihren vollen Namen verwirkt. Jetzt, da er tot ist, hat zumindest Günter ihn wieder. Günter Rutkowski wird bald auf einem Stein stehen, eingraviert in goldenen Lettern. Auf den Friedhöfen vor dem Halleschen Tor hat die Kreuzberger Kirchengemeinde Heilig Kreuz-Passion die einzige Beerdigungsstätte für Mittel- und Obdachlose in Berlin geschaffen – das Grab mit vielen Namen. Wie viel es kostet, dass Rutkowskis Name nun dazukommt, wie teuer die letzte Ehre für einen ist, dem im Leben keine zuteil wurde – „keine Ahnung“, sagt Pfarrer Storck, als er nach der Andacht mit Andreas und Hotte in dem Wohnheim für Alkoholiker in der Nostitzstraße sitzt, in dem Günter Rutkowski so etwas wie ein Zuhause fand. Er sei kein Zahlenmensch, er tue einfach das, was richtig sei. „Die Rechnung wird schon kommen.“
Er ist heimgegangen, entschlafen, der Herr hat ihn zu sich gerufen. So schön klingt der Tod, vorausgesetzt, es zahlt jemand für solche Worte auf Papier oder Stein. Anders hört es sich eigentlich an, wenn ein Armer wie Günter Rutkowski stirbt. Dann ist von der Ordnungsaufgabe in Angelegenheiten des Leichen- und Bestattungswesens die Rede, nachzulesen in Nummer 16, Absatz 8 des Zuständigkeitskataloges Ordnungsaufgaben sowie in der Anlage zu Paragraf 2, Absatz 4, Satz 1 des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes.
Dass alle Menschen sterben müssen, ist ein Gesetz des Lebens, dass jeder bestattet werden muss, verfügt der Staat. Die Kosten haben die Angehörigen zu tragen, doch viele können sich den Tod nicht mehr leisten. 6000 Euro zahlt man laut der Verbraucherinitiative Aeternitas für eine Standardbeerdigung mit Sarg, Grabstein, Musik und Blumen, Hartz-IV-Empfängern fehlt oft selbst für eine bescheidenere Variante das Geld. Aus diesem Grund gibt es die Sozialbestattung, bei der die Bezirke die Kosten übernehmen, die Angehörigen aber trotzdem Anspruch auf Blumen und eine Trauerfeier haben (siehe Kasten). Gibt es keine Angehörigen, richtet das Land Berlin die Beerdigung aus. Man spricht dann von einer ordnungsbehördlichen Bestattung – und bei ihnen benimmt sich Berlin wie ein knauserige und herzlose Verwandte, der nicht sonderlich viel am Toten lag: Die ordnungsbehördlichen Bestattungen werden jedes Jahr ausgeschrieben, den Zuschlag bekommt der Bestatter, der es am billigsten macht, und billig heißt im Zusammenhang mit Sterben: Verbrennen und vergraben, im Sammelgrab und ohne Namen, keine Blumen, keine Feier, kein Gedenken.
Ob man so mit seinen Toten umgehen will, diese Frage wird sich in den kommenden Jahren immer drängender stellen. Laut aktueller Mikrozensus-Umfrage lebt in Berlin fast jeder Dritte allein, rund 42 3000 Menschen empfangen Hartz IV, um die 7000 wohnen auf der Straße. Günter Rutkowski war einer von ihnen. Auch er wäre anonym verscharrt worden, gäbe es nicht Menschen wie Pfarrer Storck, die sich nicht nur im Leben, sondern auch im Tod um andere kümmern.
Wenn Peter Storck ein Held ist, dann einer wider Willen. Eine Viertelstunde hat er für Fragen anberaumt, dass es länger dauern könnte, leuchtete ihm nicht ganz ein. Nun sitzt er in seinem Büro in der Heilig-Kreuz-Kirche. Es ist eng hier und wirkt noch enger durch ein Sportrad, das an der Wand lehnt. Eigentlich habe es der Besitzer nur kurz unterstellen wollen, sei dann aber ins Gefängnis gekommen, erzählt Peter Storck so nebenbei, als sei der Knast einem Pfarrer naturgemäß ebenso nah wie die Kanzel. Er kümmert sich schon lange um die Randständigen, gründete die erste Notunterkunft für Frauen in der Stadt und betreut nun das Grab mit vielen Namen. Sein Vorgänger Joachim Ritzkowsky hatte 2002 das prächtige, aber verfallene Grab der Familie von Dallwitz auf den Friedhöfen vor dem Halleschen Tor gepachtet und daraus die erste Ruhestätte für Arme in Deutschland gemacht. Allein die Restaurierung kostete 10 000 Euro. Heute sind hier 34 Obdachlose beerdigt, ihre Namen stehen auf dem dunklen Granitstein. Pfarrer Ritzkowsky blieb ihnen selbst im Tod verbunden. Als er 2003 an Krebs starb, wurde seine Urne hier beigesetzt.
Das Erbe, das Pfarrer Storck damals antrat, ist kein leichtes, Psalm und Paragraf, scheint es, vertragen sich nicht gut. Da will man einem Menschen einen würdigen Abschied bereiten, mit Blumen und Musik, Gebet und Gedenkstein, und im nächsten Augenblick verhandelt man mit Behörden über die Herausgabe von Asche und die Deckung von Zusatzkosten. Bei Günter Rutkowski vergingen Wochen, bis die Beerdigung stattfinden konnte; die zuständige Amtsperson war krankgemeldet. Und erst einige Wochen nach seiner Beisetzung stand fest, welche Kosten der Gemeinde entstehen. Es sind rund 400 Euro, dazu braucht man bald ein neue Grabstelle, weil die bestehende nur Platz für 40 Urnen bietet, und auch das wird Geld kosten. Trotzdem: „Die Menschen haben das Recht auf einen würdevollen Abschied“, sagt Pfarrer Storck. Dass der sich unter Obdachlosen meist etwas anders gestaltet als sonst üblich, findet er „erfrischend pietätlos“. Und so freut es ihn, wenn Hotte in der Kapelle ein selbst getextetes Lied anstimmt oder Andreas am Grab die Frage ausdiskutieren will, wie Günter wirklich war.
Ein grüner Ordner ist alles, was als offizielle Antwort auf diese Frage bleibt. Er steht im Büro des Wohnheims in der Nostitzstraße, darin abgeheftet sind die Spuren, die einer wie Rutkowski hinterlässt – Anträge an Behörden, Mahnungen von Gläubigern und viele Vorgangsnummern. Was sich aus ihnen rekonstruieren lässt, ergibt eher Lückentext als Lebensgeschichte: Am 18. Dezember 1934 in Essen geboren, Arbeit im Bergbau, Umzug nach Berlin, wohnhaft in der Arndtstraße in Kreuzberg, 2005 zwangsgeräumt. Seitdem auf der Straße und im Wohnheim. Am 6. Mai 2012 Tod durch Herzversagen. Aber dann sind da noch zwei Fotos. Bild Nummer eins klebt in einem alten Personalausweis, ausgestellt am 15. Juli 1986. Zu sehen ist ein Mann mit Elvistolle, markanten Brauen und großen Augen, kurz: einer, nach dem man sich auf der Straße umdreht, auch wegen der kanariengelben Krawatte, halb elegant, halb geckenhaft. Bild Nummer zwei hängt im Aufenthaltsraum des Heims. Jahre sind vergangen, die gelbe Krawatte trägt der Mann nicht mehr, dafür ein rotes Holzfällerhemd, sein Haar ist struppig, die Nase schief wie nach einem Faustkampf. Wie sie im Gesicht und Rutkowski im Leben verrutschte, das bleibt ein Geheimnis. Der Freund Andreas zumindest kann es nicht erzählen. „Ich habe getrunken“, sagt er, „vielleicht morgen.“ Und Hotte stimmt lieber ein Lied an, selbst geschrieben und nur vier Zeilen lang, dementsprechend häufig kehrt der Refrain wieder, „Wir wollen leben“, lautet er.
Es gab mal eine Zeit, da war das Sterben ein einträgliches Geschäft. Die Bestatter verdienten gut, weil es sich nicht ziemte, angesichts des Todes zu knausern, und Kommune und Kirche hatten ihr Geld sicher, weil Menschen nur auf Friedhöfen begraben werden durften. Und da der Tod kein Auslaufmodell ist wie Autos oder Fernseher, dachten alle, dass es ewig so weitergehen würde. Doch dann passierte es: Die Menschen wurden immer älter und tendenziell ärmer, die Zahl der Toten in Berlin sank (siehe Kasten), dazu wurde 2004 das Sterbegeld abgeschafft, mit dem die Krankenkassen jede Beerdigung bezuschusst hatten. Die Folge: In den vergangenen 20 Jahren halbierte sich die Zahl der Erdbestattungen in Berlin, denn dafür braucht man einen Sarg und viel Platz auf dem Friedhof, und beides kostet. Der Trend geht stattdessen zur Billigbestattung in der Urne.
Dass Rüdiger Kußerow vielleicht seinen eigenen Beruf bald zu Grabe tragen muss, merkt man ihm an diesem Julinachmittag nicht an. Gut gelaunt sitzt er in seinem Büro nahe der Hermannstraße, auf der Anrichte steht ein Engel, auf seinem Computer ist als Hintergrundbild ein Schäferhund im grünen Gras zu sehen. „Meine Doda, schon im Himmel“, sagt Kußerow und lächelt dabei, als wolle er sagen: „Keine Sorge, mir bleiben ja die schönen Erinnerungen“, und da weiß man: Dieser Mann versteht sein Handwerk.
Kußerow ist so etwas wie der Chefbestatter Berlins. Er ist der Vorsitzende der Berufsinnung und führt seit mehr als 30 Jahren das vom Großvater gegründete Bestattungshaus. Seitdem hat sich viel verändert. Der Theodor-Heuss-Sarg zu 7726 Euro etwa – massive Eiche, Kupferbeschläge, genau das Modell, in dem der erste Bundespräsident lag – ging früher ein paar Mal im Jahr weg, heute kauft ihn keiner mehr. Auch einen Musiker wollen viele nicht mehr engagieren, und so fährt Kußerow inzwischen mit CD-Spieler auf manche Beerdigung. Immer mit dabei hat er außerdem eine, wie er es nennt, „Notfallrede“, damit er einspringen kann, wenn der Pfarrer ausfällt, „das ist Ehrensache“, sagt Kußerow.
Dieses Wort wird er noch mehrere Male benutzen, er ist ein Bestatter alter Schule und einen solchen muss man sich als eine Art Mädchen für alles in Sachen Tod vorstellen. Kußerow kümmert sich nicht nur um Sarg, Träger, Überführung und die Trauerfeier, er sitzt auch bis zu drei Stunden mit Wartemarke im überfüllten Bürgeramt, um den Toten abzumelden. Den Hinterbliebenen, sagt er, könne man so etwas nicht zumuten. Manchmal muss er die Angehörigen aber erst finden. Dann macht er einen Aushang im Haus des Verstorbenen und telefoniert herum. All das ist im Leistungskatalog eines Bestatters nicht enthalten, schon gar nicht bei einer Sozialbestattung, für die das Land Berlin nur 750 Euro zahlt (siehe Kasten). Für diese Summe, sagt Kußerow könne man kaum kostendeckend arbeiten. Trotzdem fährt er auch zu diesen Terminen stets mit CD-Player und Notfallrede, „Ehrensache“, sagt er wieder. Zutiefst unehrenwert findet er die ordnungsbehördlichen Bestattungen. Wie viel die Firmen veranschlagen, die sie gewonnen haben, weiß keiner so genau, es kursiert die Summe von 400 Euro inklusive Sarg, Träger und Überführung – so wenig, dass Kußerow sich fragt, ob man dafür ordentlich arbeitet.
Seitdem in Berlin die ordnungsbehördlichen Bestattungen für das Jahr 2008 erstmals ausgeschrieben wurden, herrscht Unfrieden unter denen, die für die ewige Ruhe verantwortlich sind. Die meisten Bestatter finden es pietätlos, dass der Tod zum Gegenstand eines Wettbewerbs wurde, Landesvertreter dagegen meinen, es habe keine andere Möglichkeit gegeben, und daran seien auch die Bestatter schuld. „Sie haben es übertrieben mit ihren Preisen, durch die Ausschreibung haben wir das reguliert“, sagt eine Mitarbeiterin des Landesverwaltungsamts. Nun steht für jeden Bezirk fest, welcher Betrieb für die ordnungsbehördlichen Bestattungen zuständig ist und zu welchem Preis er sie durchführt. Dieses Jahr haben insgesamt vier Firmen den Zuschlag bekommen, ihnen werfen die anderen Bestatter nun einiges vor. Etwa, dass sie aus Kostengründen nur einen Träger zur Abholung einer Leiche schickten, der den Toten dann wie Müll in das dafür vorgesehene Behältnis kippe, und dass sie überhaupt eher Entsorgungsbetrieben als Bestattungsinstituten glichen. Und dann hätten sie noch diese ganzen unseriösen Namen, damit sie im Telefonbuch ja weit oben ständen. „Alles Quatsch“, sagt Nico Schröder vom Bestattungshaus AADEE. Die vor ein paar Jahren gegründete Firma ist der neuen Platzhirsch in der Branche. Sie hat den Zuschlag für die Bezirke Mitte, Charlottenburg-Wilmersdorf, TempelhofSchöneberg, Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg bekommen, war damit auch für die Einäscherung von Günter Rutkowski verantwortlich und steht tatsächlich sehr weit oben im Telefonbuch. Trotzdem, die Vorwürfe der anderen seien der pure Neid, sagt Schröder. Er und seine Leute seien genauso pietätvoll wie andere Bestatter, dafür aber vielleicht die besseren Geschäftsleute. Und da verzichte man eben auf bestimmte Sachen. „Wir machen keinen Aushang im Haus und wir telefonieren uns auch nicht die Finger wund, um Angehörige zu finden.“
Das ist verständlich, täte aber oft not in einer Stadt wie Berlin. Mehr als eine Million Menschen leben hier allein, viele haben ihre Angehörigen in anderen Städten und Ländern, hinzu kommen all jene, deren Familien eher Patchwork als DIN-Norm sind. Um da Hinterbliebene zu finden, bräuchte es mehr als der gesetzliche Rahmen vorgibt. Zwar müssen Behörden ermitteln, ob es Verwandte gibt, aber das, was nach kriminalistischem Spürsinn klingt, ist eine reine Schreibtischaufgabe. Die Polizei prüfe das Melderegister, sie selbst schrieben die Standesämter an, sagt eine Mitarbeiterin vom Bezirksamt Mitte. In die Wohnung des Toten gehe man nicht, auch Freunde und Nachbarn würden nicht befragt, es habe alles schnell zu geschehen, so stehe es in den Vorschriften. Und ja, hin und wieder passiere es, dass Angehörige erst nach der Einäscherung auftauchten. „Aber wir können eine Leiche ja nicht unbestattet liegen lassen.“ Auch da gebe es Vorschriften.
Doch scheint man bei aller Gesetzestreue einen Paragrafen mitunter zu vergessen. Kein Wunder, er ist auch leicht zu übersehen und besteht aus nur einem Satz. „Wer mit Leichen umgeht, hat dabei die gebotene Ehrfurcht vor dem toten Menschen zu wahren“, lautet der zweite Paragraf des Bestattungsgesetzes. Und obwohl das da so steht, werden in Berlin immer wieder Menschen verbrannt, die niemals als Asche enden wollten. Eine ältere Frau zum Beispiel hatte den Wunsch, in einem Sarg neben ihrer Schwester auf dem Neuköllner Emmaus-Friedhof zu liegen, das Grab war bestellt und bezahlt, doch als man das herausfand, war sie längst anderswo anonym in einer Urne beigesetzt. Und eine andere Frau erfuhr vom Tod ihres Stiefvaters erst, nachdem er eingeäschert und eine Bestattung auf dem Parkfriedhof Neukölln anberaumt worden war. Alles, was sie noch tun konnte, war einen Pfarrer zu bitten, sie dorthin zu begleiten. Vor Ort erlebten sie dann fassungslos eine Beisetzung im Akkord.
10.45, 10.46, 10.47, 10.48 steht auf der grünen Terminliste im Friedhofsbüro, dahinter jeweils ein Name. Es ist der letzte Mittwoch im Juli, und wie jeden Monat finden auf dem Parkfriedhof Neukölln heute die Bestattungen im UGG, kurz für Urnengemeinschaftsgrab, statt – mitten auf einer Wiese, immer mehrere Urnen hintereinander weg im Minutentakt, eine kurze Pause, dann die nächsten Urnen. Jetzt ist es kurz nach zehn, eine vierrädrige, laute Maschine mit dem Namen Profihopper mäht das Gras, und ein Mann im froschgrünen T-Shirt inspiziert die frisch ausgehobenen Löcher auf einer Rasenfläche. Eine dreiviertel Stunde später lädt derselbe Mann, nun mit weißen Hemd und Krawatte, oben vor dem Friedhofsbüro vier schwarze Urnen in einen Koffer, der auf einem Bollerwagen steht, und um 10 Uhr 53 geht es rumpelnd den Hügel zur Rasenfläche hinunter. Mehr als ein Dutzend Menschen folgen dem Wagen, einige weinen, vielleicht haben auch sie zu spät davon erfahren, dass so eine Beerdigung veranlasst wurde. Um 10 Uhr 57 senkt der Mann eine Urne nach der anderen in die Löcher hinab, nennt jedes Mal den Namen des Toten und fügt ein „Ruhe in Frieden“ dazu. Um eine Minute nach elf können die Trauergäste Abschied nehmen. Der Mann wartet derweil unter einem Baum mit einem kleinem silbernen Schild. 656 steht darauf, wie jeder Baum auf dem Parkfriedhof hat er eine eigene Nummer, die Menschen, auf die Nummer 656 seinen Schatten wirft, bekommen nicht einmal das. Dort, wo sie liegen, wird bald nichts mehr an sie erinnern. Um 11 Uhr 11 holt der Mann die Schubkarre und schaufelt die Löcher zu, und um 11 Uhr 19, nur 34 Minuten nach Beginn, ist direkt neben den Löchern, wo gerade vier Menschen ihre letzte Ruhe gefunden haben, der vierrädrige Profihopper schon wieder lautstark im Einsatz.
Diese Stechuhr-Bestattungen zeigen, wenn auch in extremer Form, eine allgemeine Entwicklung in der Stadt. Die Friedhöfe kämpfen um ihr Überleben, denn auch sie funktionieren nach den Gesetzen des Marktes und zuletzt gab es einen Friedhofsüberhang: Da Urnen weniger Platz als Särge brauchen, liegen in Berlin immer mehr Beerdigungsflächen brach, und den Friedhofsträgern, die an Feuerbestattungen weniger verdienen als an Erdbestattungen, fehlt das Geld, sie alle instand zu halten. 39 der insgesamt 221 Friedhöfe sind bereits geschlossen. Ein Teil des Tempelhofer St.-Simeon- und St.-Lukas-Friedhofs wurde als Bauland verkauft, und der Neuköllner St.-Thomas-Friedhof verhandelte mit der Tentstation darüber, ob der Campingplatz dorthin übersiedeln sollte. Auch darüber, wie man mit Gebeinen umgehen würde, sprach man: Sie sollten gesammelt und nachbestattet werden.
Das ist Stoff für Horrorfilme, zum Gruseln ist aber auch, wie die bestehenden Friedhöfe um Tote und damit um Einnahmen konkurrieren. Da ist zum Beispiel die Rivalität zwischen landeseigenen und evangelischen Friedhöfen. Beide haben ihre eigene Gebührenordnung, die städtischen verlangen für eine anonyme Urnenbestattung 726 Euro, die konfessionellen 537 Euro – wodurch die evangelische Kirche, zum Ärger der Kommune, im Preiswettbewerb besser abschneidet. Viel gravierender ist jedoch, dass sich gar nicht alle an diese verbindlichen Preise halten. So haben sich in Berlin regelrechte Armenfriedhöfe gebildet, auf denen Beisetzungen billiger als anderswo angeboten werden. Auf dem Böhmischen Gottesacker in Neukölln etwa, einem evangelischen Friedhof, kostet die preiswerteste Bestattung nur 436 Euro. Wie das sein kann, möchte der zuständige Mitarbeiter aus dem Konsistorium lieber nicht erklären, gibt aber zu, dass mancher Friedhofsverwalter „kreativ“ in Auslegung der Gebührenordnung sei. Die wenigen katholischen Friedhöfe – in ganz Berlin gibt es nur neun – unterliegen keiner Gebührenordnung, hier ist das Preisdumping noch ausgeprägter: 391 Euro kostet eine anonyme Urne auf dem Neuen St.-Michael-Friedhof in Tempelhof, „das preiswerteste, was man in Berlin kriegen kann“, versichert eine Mitarbeiterin vom Friedhof am Telefon.
Der städtische Parkfriedhof Neukölln möchte da offenbar gern mithalten. Wie viel eine Mittwochsbestattung im Akkord kostet, will die Verwaltung nicht sagen, in der Branche spricht man von rund 400 Euro. Klar ist, dass der Friedhof versucht, Kosten zu drücken. Alle Arbeiten auf dem Gelände werden von einer Spandauer Gartenbaufirma ausgeführt, selbst die Bestattungen, obwohl die laut Friedhofsordnung hoheitliche Aufgabe sind. Die für Friedhöfe zuständige Frau in der Senatsverwaltung sagt, sie hätten Hinweise bekommen, dass das nicht mit der nötigen Pietät ablaufe, der Neuköllner Bezirksstadtrat Thomas Blesing verwahrt sich dagegen. „Da passiert das normale Ritual, da läuft doch keine Rockmusik.“ Und überhaupt, sagt er, und seine Stimme wird lauter durchs Telefon: Was man denn erwarte bei einer ordnungsbehördliche Bestattung, zu der sowieso keine Angehörigen erschienen? „Soll man da vorher das Ave Maria spielen?“ Er sehe keinen Änderungsbedarf, „das läuft alles reibungslos.“
Und so rollt an diesem letzten Mittwoch im Monat der Bollerwagen um 12 Uhr das zweite Mal los. Dieses Mal mit fünf Urnen, vorbei am braunen Kasten mit der Aufschrift: „nicht verrottbare Abfälle“ und dem grünen für „verrottbare Abfälle“, und kommt vor fünf neuen Löchern zum Stehen. Wieder sind vier Menschen erschienen, der eine hat ein Holzkreuz dabei, „Silvio“ steht darauf. Er legt es auf dem Erdhügel nieder. Lange wird es dort nicht liegen bleiben, Trauergaben, so informiert ein Schild, sind auf der Rasenfläche nicht gestattet. Neben Silvios Erdhügel sind schon die nächsten Löchern ausgehoben, Bollerwagen und Mähmaschine werden an diesem Tag unentwegt und lärmend im Einsatz sein, „Es lebe der Friedhof“ steht auf der lila Fahne, die am Eingang weht. Etwa zehn Kilometer weiter, am Grab mit vielen Namen, ist es ganz still. Hier hat Günter Rutkowski tatsächlich Ruhe und seine Nächsten einen Platz zum Trauern gefunden. Auf einem verwitterten Stein schräg gegenüber vom Grab steht eine abgebrochene Weinflasche, und weiter links ist ein silberner Balkonstuhl abgestellt, vielleicht für jemanden, der nicht mehr gut laufen kann.
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