Früherer Finanzsenator Thilo Sarrazin: Haben Sie Berlin kaputtgespart, Herr Sarrazin?
Der frühere Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin spricht im Interview über Milliardenlöcher, geknechtete Bezirke – und den Aufstieg Berlins, der kein Selbstläufer sei.
Vor 15 Jahren, im März 2003, startete der Tagesspiegel unter dem Titel: „Wie retten wir Berlin?“ eine Serie, mit der eine Debatte über die Sparpolitik in Berlin geführt wurde. Die Stadt stand in jenen Jahren finanziell vor dem Abgrund. Ein Autor der Serie war der damalige Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD), der im Januar 2002 auf Vorschlag des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit (SPD) ins Amt gekommen war und sich zum Ziel gesetzt hatte, den Berliner Haushalt radikal zu sanieren. Damals wie heute wird Sarrazin vorgehalten, die Stadt kaputtgespart zu haben. Wie sieht er das selbst, mit gebührendem Abstand? Wir haben ihn dazu befragt.
Herr Sarrazin, Sie waren von 2002 bis 2009 Finanzsenator von Berlin. Fühlen Sie sich von dem Vorwurf getroffen, damals die Stadt kaputtgespart zu haben?
Als ich Finanzsenator wurde, hatte Berlin ein Haushaltsdefizit von 5,2 Milliarden Euro jährlich. Das waren ein Viertel des Ausgabenvolumens. So konnte es nicht weitergehen. Die öffentlichen Ausgaben waren, im Vergleich zu den Einnahmen und den vergleichbaren Ausgaben anderer großer Städte, weit überhöht. Ich habe damals gesagt: Berlin hat kein Einnahme-, sondern ein Ausgabeproblem. Und dieses Problem habe ich im Verlauf meiner Amtszeit gelöst. Darauf bin ich nach wie vor sehr stolz.
Schaut man sich die sprudelnden Steuereinnahmen heute an, könnte man ja auch sagen: Berlin hatte damals nicht genug Einnahmen, um die notwendigen öffentlichen Ausgaben zu finanzieren?
Die Einnahmen Berlins waren schon zu meiner Amtszeit, in der Summe der Steuereinnahmen, des Länderfinanzausgleichs und des Solidarpakts Ost sehr hoch. Bezogen auf die Einwohnerzahl höher als in allen anderen Bundesländern, einschließlich der reichen Hansestadt Hamburg. Nein, das Fünfmilliardenloch im Landeshaushalt war ausschließlich ausgabenbedingt. Die Konsolidierung begann erst 1996, als die SPD-Politikerin Annette Fugmann-Heesing Finanzsenatorin wurde. Aber es war zu spät und zu wenig, was damals getan wurde. Hinzu kam die Krise um die Bankgesellschaft und ein Konjunktureinbruch. Die Lage war absurd bis verzweifelt.
Ausgerechnet Sarrazin! Durch seine rigorose Streichung von Finanzmitteln u. a. für das Bildungswesen hat er seinen gehörigen Anteil an den Miseren [...] in Berlin. Dass er jetzt jede Verantwortung dafür ablehnt, spricht gegen ihn.
schreibt NutzerIn aladin1
Und Sie haben alles besser gemacht?
In den sieben Jahren meiner Amtszeit fielen die Ausgaben um 9,2 Prozent. In den letzten sieben Jahren, das ist jetzt keine Kritik, sind die Ausgaben um 25 Prozent gestiegen. Hätte der Senat zu meiner Zeit die Ausgaben so erhöht, wäre aus dem Fünfmilliardendefizit kein Haushaltsüberschuss geworden, sondern ein Defizit von heute 8 Milliarden Euro jährlich. Der Umstand, dass Berlin seit 2007, mit Ausnahme der Rezession 2009 bis 2011, regelmäßig Überschüsse erwirtschaftet, kommt daher, dass der Ausgabensockel von mir nach unten geführt wurde.
Ihr Benchmark war Hamburg, stimmt’s?
Ja. Als ich ins Amt kam, lagen die Ausgaben pro Einwohner um 22,5 Prozent über dem Hamburger Niveau. Als ich ging, waren sie nur noch 6 Prozent höher. Ich habe meinen Nachfolgern also noch etwas Arbeit übrig gelassen.
Der Abbau des öffentlichen Personals geht auf Ihr Konto.
Berlin hatte, als ich kam, 41 Prozent mehr Vollzeitkräfte pro Einwohner als Hamburg. Es war unverzichtbar, von diesem Niveau herunterzukommen.
Wie kam es, dass Sie Ihre Sparpolitik ausgerechnet mit der SPD und der Linkspartei, damals noch PDS, umsetzen konnten?
Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit kam damals ins Amt, weil die schwarz-rote Koalition finanzpolitisch versagt hatte. Die Sozialdemokraten waren daran nicht unschuldig, aber das bogen sie geschickt weg und lasteten den Bankenskandal der CDU an. Wowereit wusste, dass er die Notlage der Stadt ändern musste, das konnte am besten jemand von außen. Ein Fachmann, der gegenüber der Stadt keine Verpflichtungen und keine emotionalen Bindungen hat. Diese Person fand er in mir. Die SPD-Fraktion trug diese Entscheidung mit Murren mit, trotzdem hat der damalige SPD-Fraktionschef Michael Müller die Sparbeschlüsse mitgetragen, auch wenn es oft Kontroversen gab.
Und die PDS?
Deren neue Kader waren eher links-grün gestrickt, wie etwa der Fraktionsvorsitzende Harald Wolf. Ohne emotionale Bindungen an das alte West-Berlin. Und die alten Genossen aus dem harten, roten Kern der Partei hatten schon ein Staatswesen untergehen sehen, das seine Rechnungen nicht bezahlt hatte. Solange man ihre Steckenpferde mit Takt und Rücksicht behandelte, trugen sie den Sparkurs mit einer großen inneren Bereitschaft mit.
Die harten Schnitte waren schmerzhaft. Taten Ihnen die Betroffenen nicht leid?
Ja, natürlich. Gerade dann, wenn man harte Sachen macht, muss man sich in die andere Seite hineinversetzen. Ich habe immer überlegt, was wird objektiv gebraucht, um die öffentlichen Aufgaben zu erfüllen? Die Universitäten brauchten beispielsweise Planungssicherheit, deshalb bekamen sie langfristige Hochschulverträge. Die Bezirke mussten ihre Sparvorgaben beim Personal erfüllen, aber wer die Vorgaben übererfüllte, konnte das eingesparten Geld zeitweilig anders nutzen.
Klar, es hat unter Sarrazin Sparschäden gegeben. Aber ohne harte Vorgehensweise gegen die Berliner Verschwendungs- und Subventionsmentalität wäre die Stadt früher oder später in der Pleite gelandet.
schreibt NutzerIn Beobachter11
Wer war Ihre wichtigste Stütze im Senat?
Neben Wowereit war dies der SPD-Innensenator Ehrhart Körting. Mit ihm konnte man sich die Probleme der Verwaltung in der notwendigen Tiefe anschauen. Dabei stellte sich zum Beispiel heraus, dass der Personalüberhang bei der Polizei, im Vergleich zu Hamburg, nicht bei den Vollzugsbeamten, sondern in der Polizeiverwaltung lag. Deshalb haben wir für zwei Jahre die Ausbildung von Polizeischülern ausgesetzt und dann auf der Hamburger Struktur aufgesetzt. So habe ich für jeden Bereich ein eigenes Modell entworfen.
Auch für die Landesunternehmen?
Viele Landesbeteiligungen waren völlig überschuldet und in Unordnung. In meinem ersten Amtsjahr fuhren sie Verluste von 700 Millionen Euro ein, als ich den Senat verließ, erwirtschafteten sie ein Jahresplus von 350 Millionen Euro. Die Verkehrsbetriebe, die Wasserbetriebe, die Wohnungsbaugesellschaften usw. sind seitdem gesunde Unternehmen. Das ist wichtig für eine gute öffentliche Daseinsvorsorge, auf diesen Erfolg bin ich stolz.
Sie galten als entschiedener Befürworter von Privatisierungen. Zu Recht?
Ich war immer ein Befürworter einer vernünftigen Arbeitsteilung zwischen Staat und Privatwirtschaft. Nehmen wir die Wohnungswirtschaft. Als ich kam, war der Verkauf des Wohnungsunternehmens GSW schon vorbereitet. Wegen des unakzeptablen Kaufpreises habe ich dafür gesorgt, dass die Verhandlungen abgebrochen wurden. Ein Jahr später bekamen wir für die GSW einen sehr guten Preis von 2,2 Milliarden Euro. Danach entschied die SPD-Fraktion, keine weiteren Wohnungsunternehmen mehr verkaufen zu wollen, wogegen ich mich gar nicht wehrte. Denn mittlerweile hatte ich mir die Wohnungsbaugesellschaften näher angeschaut, die sich über ständige Eingriffe der Politik beklagten. Ich sagte den Vorständen: Ich bin der Beteiligungssenator, nur ich darf euch anweisen, nicht der Regierende, die Senatoren oder Bezirke. Ich lasse euch in Ruhe, wenn jede Gesellschaft mir jährlich drei Dinge liefert: etwas weniger Personal, etwas weniger Schulden und etwas steigende Mieteinnahmen. Das hat funktioniert.
Die Bezirke fühlten sich vom Finanzsenator Sarrazin geknechtet.
Ich habe sie auch geknechtet. Als ich kam, gab es für die Bezirksämter keine Personalstatistik, ich habe mit großer Mühe, weil der Datenschutzbeauftragte dagegen war, bis 2005 ein Personalstatistik-Gesetz geschaffen. Auf einmal hatten wir einen Überblick. Um ein Beispiel zu nennen: Es gab damals eine große Diskussion über fehlende Sozialarbeiter in den Bezirken. Ich habe daraufhin die neue Personaldatenbank durchsehen lassen und es stellte sich heraus, dass mehrere hundert Beschäftigte als Sozialarbeiter ausgebildet waren, die sich von der zugigen Straße auf warme Plätze in den Ämtern verlagert hatten. Die wurden wieder als Sozialarbeiter eingesetzt, ein paar Stellen habe ich noch draufgegeben. In den Bezirksämtern gab es in vielen Bereichen Ressourcen, die nicht gehoben wurden.
Sie hatten eine schlechte Meinung über die zwölf Bezirke?
Ich habe es für einen Fehler gehalten, dass die Fachaufsicht über die Bezirke vor meiner Zeit weitgehend abgeschafft worden ist. Jeder Mensch braucht einen Chef. So aber machte jeder Bezirk, was er für richtig hielt. Das ließ sich auch am Zustand der Schulbauten ablesen. In Neukölln, wo der Ex-Baustadtrat Heinz Buschkowsky als Bürgermeister seine Hand über den Bauetat hielt, waren die Schulen in Ordnung. Woanders nicht, weil beispielsweise in Friedrichshain-Kreuzberg lieber links-grüne Experimente finanziert wurden.
Apropos Schulen. Wie hielten Sie es mit den Berliner Lehrern?
Mir ging es um eine vorausschauende Personalpolitik. Als Jürgen Zöllner 2006 neuer SPD-Bildungssenator wurde, hatte Berlin einen starken Lehrerüberhang. Trotzdem habe ich mit ihm zusammen für die Einstellung neuer Lehrer gesorgt, um den hohen Altersdurchschnitt zu senken. Ich habe auch davor gewarnt, den Beamtenstatus für Lehrer abzuschaffen, weil dies die Wettbewerbssituation Berlins gegenüber den anderen Bundesländern verschlechtern würde. Wie man heute sieht, war meine Einschätzung richtig.
Was sehen Sie als Ihren größten Erfolg?
Die Sanierung der Bankgesellschaft und deren Verkauf zum märchenhaften Preis von 5,3 Milliarden Euro. Aber auch die Sanierung der Berliner Verkehrsbetriebe und den Ausstieg aus der Anschlussförderung des sozialen Wohnungsbaus, die den Berliner Haushalt jedes Jahr mit Milliardenausgaben belastete.
Was haben Sie falsch gemacht?
Mir wurde oft vorgeworfen, dass ich mich zu sehr in die Fachressorts des Senats eingemischt hätte. Es war mein Fehler, dass ich dies nicht häufiger getan habe, sonst hätten wir heute in Berlin eine bessere Bildungspolitik.
Das Bundesverfassungsgericht hat 2006 die Klage Berlins auf Anerkennung einer extremen Haushaltsnotlage abgewiesen. Die Stadt bekam keine Finanzhilfen des Bundes. War das ein gerechtes Urteil?
Es war absolut gerecht. Sehen Sie, die Klage war für mich ein absolutes Gewinnerthema. Vor der Entscheidung konnte ich sagen, wir können uns dies und jenes nicht leisten, weil es sonst unsere Chancen in Karlsruhe gemindert hätte. Nach dem Urteil konnte ich sagen, es gibt keine Hoffnung auf Geld von außen, wir müssen da jetzt durch.
Kurz nach Ihrer Amtseinführung erklärten Sie, dass Sie den Berliner Haushalt für verfassungswidrig hielten. Was war denn das?
Das war ein tolles Husarenstück, wenn auch stressbeladen. Es ging um die Verabschiedung des Haushalts 2002/03, als CDU und Grüne mit einer Klage vor dem Berliner Verfassungsgericht drohten, weil der Etat verfassungswidrig sei. Ich bestätigte das vor dem Abgeordnetenhaus, worauf der Regierende Bürgermeister Wowereit ans Rednerpult trat und sagte, der Haushalt sei doch verfassungsgemäß. In diesen Minuten wäre ich mein Amt schon nach wenigen Monaten fast wieder losgeworden. Eineinhalb Jahre später entschied das Landesverfassungsgericht, dass der Berliner Etat in der Tat verfassungswidrig sei. Also habe ich damals den guten Ruf des Senats gerettet.
Nach der Klatsche, die sich Berlin 2006 in Karlsruhe abholte, erholten sich die Berliner Finanzen auf wundersame Weise. Glück oder Zufall?
Weder noch. Was uns nach dem Urteil half, waren die Hartz-IV-Reformen und die wirtschaftliche Erholung. Trotzdem hat der Haushaltsüberschuss 2007 mich selbst am meisten überrascht. Ein Jahr später konnten wir den Erfolg wiederholen. Ich konzentrierte mich aber weiter auf eine rigide Ausgabenpolitik. Denn es ist ein Risiko, sich auf gute Einnahmen zu verlassen, es kann immer geschehen, dass sie wegbrechen. Derzeit fließen etwa 27 Milliarden jährlich in die Landeskasse. Lassen Sie mal eine Wirtschaftskrise kommen, dann sind es vielleicht nur noch 24 Milliarden Euro. Da gibt es keinen Automatismus.
Der Sanierungsstau in Berlin ist immens, weil früher nicht genug investiert wurde. Haben Sie das nicht mitzuverantworten?
Es ist vielleicht ein bisschen taktlos, sich in Entscheidungen der Nachfolger einzumischen. Mit aller Vorsicht werde ich das trotzdem tun. Natürlich hat die Konsolidierung des Haushalts zu geringeren Investitionen geführt und es ist gut, wenn der Sanierungsstau jetzt aufgelöst wird. Allerdings gibt es dabei wohl Probleme. So wurden im vergangenen Jahr 436 Millionen Euro für den Hoch- und Tiefbau eingeplant. Abgeflossen sind aber nur 292 Millionen Euro. Das kann an schlechten Verwaltungsabläufen liegen, aber auch andere Gründe haben. Investitionen, das zeigen alle Erfahrungen, müssen sachgerecht durchgeplant und entschieden umgesetzt werden. Man muss den Leuten dabei auf den Füßen stehen.
Welche Empfehlungen haben Sie noch?
Ich fände es richtig, wenn sich die Stadt weiter entschuldet. Derzeit zahlt Berlin durchschnittlich nur 2,2 Prozent Zinsen, aber langfristig gesehen sind die Zinsausgaben ein hohes Finanzrisiko.
Wo steht Berlin in zehn Jahren?
Das hängt wesentlich vom Ausgabeverhalten der Regierung ab. Denn die Lücke bei der Wirtschaftskraft, im Vergleich zu anderen Ballungszentren, kann Berlin nur sehr allmählich füllen. Immer noch leben in Berlin 25 Prozent der Einwohner von Sozialtransferleistungen, das sind mehr als je zuvor, und die durchschnittlich sehr schlechte Bildungsleistung an den Berliner Schulen sinkt immer weiter. Die Nettozuwanderung von wirtschaftlich starken Menschen liegt bei null. Ich glaube nicht, dass der weitere ökonomische Aufstieg Berlins ein Selbstläufer ist.
Haben Sie noch Kontakt zu früheren Amtskollegen und Parteifreunden?
Ja, auch in die SPD hinein und zu ehemaligen Mitarbeitern pflege ich Kontakte. Ab und zu treffe ich bei Veranstaltungen Klaus Wowereit oder Michael Müller. Wir reden miteinander, und ich habe den Eindruck, dass sie meine Leistungen als Finanzsenator nach wie vor anerkennen, auch wenn uns das eine oder andere politisch trennt.
Was halten Sie vom heutigen Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen?
Ich kenne ihn seit Anfang der neunziger Jahre, er war damals verheiratet mit Doris Ahnen, der persönlichen Referentin des rheinland-pfälzischen Wissenschaftsministers Zöllner. Ich war Staatssekretär im Finanzministerium. Bei SPD-Fraktionsfesten oder anderen Gelegenheiten standen wir zusammen und jedes Mal versuchte ich den idealistischen Kollatz-Ahnen von der Härte der Finanzwelt zu überzeugen. Ob es mir gelungen ist, weiß ich nicht, aber ich wünsche ihm viel Glück.
Würde es Sie noch einmal reizen, Berliner Finanzsenator zu sein?
Das ist vorbei, man steigt niemals in denselben Fluss. Aber diese Zeit war, neben der Mitgestaltung der deutschen Einheit im Bundesfinanzministerium, das Highlight meiner beruflichen und politischen Laufbahn.
Das Gespräch führte Ulrich ZawatkaGerlach.