Erfolgsmusical zu Gast in Berlin: Go, Chicago, go
Nur das „Das Phantom der Oper“ läuft länger: Mit „Chicago“ gastiert eines der erfolgreichsten Musicals in Berlin. Die Geschichte ist so aktuell wie eh und je.
Gründerzeit, Weltkrieg, Mauerbau, Mauerfall, Mietenwahnsinn: Berlin hat viel mitgemacht – aber ein Jahrzehnt ragt in der kollektiven Erinnerung immer noch heraus: Die „goldenen“ 20er Jahre sind hier Legende. Stichworte wie Bubikopf, Josefine Backer oder Kit Kat Club beschwören die Phantasmagorie einer Stadt herauf, in der eben noch das obrigkeitsstaatliche Kaiserreich regierte und plötzlich die neuen Freiheiten einer Republik, der ersten auf deutschem Boden, für alle spürbar waren.
Der eine, schreckliche Krieg war gerade zu Ende gegangen, den zweiten, noch viel schrecklicheren, ahnten nur einige besonders hellsichtige Köpfe voraus. Was häufig vergessen wird: Diese Sandwich-Epoche war ein weltweites Phänomen, auch andere Städte hatten „ihre“ 20er Jahre, vor allem natürlich Paris (Hemingway! Gertrude Stein! James Joyce!) – und, ja, auch eine andere Metropole, mitten in den nordamerikanischen Weiten: Chicago.
Das nach dieser Stadt benannte gleichnamige Musical, das ab 3. Juli für zehn Tage im Berliner Admiralspalast zu sehen ist, bedient sich reichlich bei dem Milieu, für das die Stadt damals weltberühmt war. Jazz galt noch als verwegen und ruchlos, Louis Armstrong hatte New Orleans 1922 verlassen und war an den Michigansee gezogen, vor allem aber beherrschte ein Mann die Schlagzeilen: Al Capone.
Denn während andernorts – natürlich auch in Berlin – gefeiert wurde, um die Wunden des Krieges möglichst rasch zu vergessen, hatte sich in Amerika die Prohibition übers Land gesenkt und den Star-Kriminellen vervorgebracht: Celebrities, die hofiert wurden, obwohl sie eigentlich Verbrecher waren. Sucht nach Ruhm und Aufmerksamkeit ist kein Vorrecht des Instagram-Zeitalters, sie diktierte Denken und Fühlen vor 100 Jahren genauso wie heute.
Die Geschichte des Muscials stammt aus den 20er Jahren
„Chicago“ basiert auf einer tatsächlichen Story, aus der die Gerichtsreporterin Maurine Dallas Watkins 1926 ein Theaterstück gemacht hat. Vaudeville- Tänzerin Roxie Hart ermordet ihren Geliebten, als der sie verlassen will. Im Gefängnis lernt sie die ebenfalls wegen Mordes einsitzende Velma Kelly kennen. Beide sind Zynikerinnen, größere moralische Probleme mit ihren Taten haben sie nicht, stattdessen konkurrieren sie um die Aufmerksamkeit der Zeitungen - und um die von Staranwalt Billy Flynn, der aber vor allem einen Menschen liebt: sich selbst.
Trotzdem schafft es Flynn, dass Roxie freigesprochen wird. Dumm nur, dass inzwischen schon wieder ganz andere spektakuläre Kriminalfälle Schlagzeilen machen. Roxie droht das Schlimmste: ins Vergessen abzurutschen. Da hilft nur, sich mit der inzwischen ebenfalls aus der Haft entlassenen Velma zusammenzutun. Aus ihnen werden gefeierte Jazz-Sängerinnen.
Erst viele Jahrzehnte später, 1975, griff das legendäre Trio aus John Kander (Musik), Fred Ebb (Buch) und Bob Fosse (Regie und Choreografie) den Stoff auf, formte daraus ein Musical. Das war aber nur zwei kurze Jahre am Broadway zu sehen. Warum das Revival von 1996 so viel mehr Erfolg hat und seit nunmehr 22 Jahren am Ambassador Theater in der 49th Street läuft, zwei Blocks nördlich vom Times Square, mit Stars wie Richard Gere oder Ute Lemper in den Hauptrollen – das ist eines jener Phänomene, die selbst dem knallhart aufs Weltliche, aufs Monetäre geeichten Broadway immer wieder mal einen mysteriösen Anstrich geben.
„Chicago“ ist das am längsten laufende amerikanische Broadway-Muscial
Der heute 80-jährige Produzent Barry Weissler erzählt, dass er für das Revival eine Hypothek auf sein Haus aufnehmen musste. Es hat sich gelohnt: Diese Version von „Chicago“ ist das am längsten laufende amerikanische Broadway-Musical, getoppt nur von Andrew Lloyd Webbers „Phantom of the Opera“ – das aber eine britische Produktion ist. Auch Rob Marshalls Verfilmung von 2002, die mit sechs Oscars ausgezeichnet wurde, hat das Musical nicht gekillt, wie es sonst häufiger der Fall ist, sondern dessen Popularität noch befördert.
Auch jetzt, während des Gastspiels im Admiralspalast, wird am Broadway nicht pausiert, denn in Berlin ist die internationale Tournee-Version von „Chicago“ zu sehen. Das Musical hat an der Spree inzwischen seine eigene Aufführungsgeschichte. 1988 lief es erstmals hier, mit Katja Ebstein als Roxie, Hans Clarin sang Ehemann Amos – ein Typ, der unter seiner eigenen Unscheinbarkeit leidet und einem Profi-Lächler wie Billy Flynn nicht das Wasser reichen kann.
1999 war „Chicago“ im Theater des Westens zu sehen, als eine der letzten Produktionen des damals noch staatlich geförderten Hauses, bevor es privatisiert wurde. 2015 zeigt die Stage Entertainment am gleichen Ort ihre Version von „Chicago“. Jetzt ist also der Admiralspalast dran. Ein Besuch im New Yorker Ambassador Theater zeigt: Die Berliner dürfen richtiges Theater erwarten.
Das Revival ist neu choreografiert
Keinen Farben- und Soundüberwältigungsrausch, der in manchen Musicals von der Dürftigkeit der Story ablenken soll. In „Chicago“ ist die Bühne leergeräumt, reduziert auf das Wesentliche, skelettiert fast. Das Zentrum dominieren Orchester und Dirigent. Sie lassen noch reichlich Platz für die Spielfläche, auf der unter anderem Velma den wohl größten Hit des Musicals singen wird: „All that Jazz“.
Doch „Chicago“ lebt nicht nur vom Gesang, sondern auch vom Tanz, und das heißt: von der Handschrift des 1987 verstorbenen Bob Fosse. Tänzerin Ann Reinking war in den 70er Jahren mit ihm liiert. Sie hat seine Choreografien völlig verinnerlicht und das Revival von 1996 – also die Version, die jetzt in Berlin zu sehen ist – in seinem Sinne neu choreografiert.
Beim Besuch in New York schwärmt sie von Fosses Ideal der „Power of Nothing“: Tänzerinnen und Tänzer sollen in bestimmten Momenten gar nichts tun, sich nach Innen wenden, die Kraft der Erdanziehung spüren, fokussieren, die Energie halten und gerade damit die Geschichte besonders eindringlich erzählen.
„Ich erkenne seine Choreografie aus einer Meile Entfernung“
Denn Zuschauer und Zuschauerinnen bekommen auf diese Weise die Chance, die Fäden selbst zu knüpfen. Ein Tanzstil, von dem auch Michael Jackson fasziniert gewesen sein soll. „Unsere Tänzer dürfen in der Anspannung niemals nachlassen, selbst wenn sie dem Publikum den Rücken zuwenden“, sagt Reinking. Für sie entstammt Fosses Ästhetik zwar eindeutig einer bestimmten Ära, ist aber trotzdem zeitlos: „Ich erkenne seine Choreografie aus einer Meile Entfernung.“
Fosse und seine beiden Mitstreiter kann man übrigens getrost als Kompetenzteam für die 1920er Jahre bezeichnen. Haben doch Kander und Ebb neben „Chicago“ noch ein weiteres Erfolgsmusical geschaffen, das den Geist der Zeit einfängt, wie er sich damals in Berlin kristallisierte: „Cabaret“, nach dem Roman von Christopher Isherwood. Bekannt wurde vor allem die Verfilmung von 1972 mit Liza Minelli. Der Regisseur war Bob Fosse.
„Chicago“, 3. bis 13. Juli, Admiralspalast. Die Reise in die USA fand auf Einladung des Veranstalters BB Promotion statt.