Leben mit Down-Syndrom: „Genauso normal, lustig, motzig wie andere auch“
Die Fotografin Jenny Klestil besuchte Familien, in denen Kinder mit Trisomie 21 leben. Ihre eindrucksvollen Bilder sind ab jetzt in Steglitz zu sehen.
Es war eine Premiere, als im März die 21-jährige Mélanie Ségard im Fernseh- Sender France 2 die Wettervorhersage präsentierte. Die junge Frau hatte sich schon länger gewünscht, dort für einen Abend „Miss Météo“ sein zu dürfen. Der französische Behindertenverband Unapei machte es möglich.
Eine Premiere war auch der Auftritt der 18-jährigen Natalie Desdreux in der Wahlarena der ARD, kurz vor der Bundestagswahl im September. Die junge Bürgerin in der modischen Lederjacke fragte die Bundeskanzlerin, was sie denn gegen die Möglichkeit von späten Schwangerschaftsabbrüchen zu tun gedenke. Sie selbst sei jedenfalls froh zu leben. Angela Merkel reagierte spontan und emotional: „Danke, dass Sie hier sind. Es steckt so viel in jedem.“
Zweimal waren damit junge Erwachsene mit einer Trisomie 21 zur besten Sendezeit im TV präsent. Bei Menschen mit dieser chromosomalen Besonderheit liegt das Chromosom 21 in den Zellen des Körpers dreimal vor. Die gesundheitlichen Folgen einer Trisomie 21, die nach dem britischen Arzt John Langdon Down auch als Down-Syndrom zusammengefasst werden, reichen von langsamerer motorischer Entwicklung und verminderten kognitiven Fähigkeiten über Probleme mit dem Hören und Sehen bis hin zu schweren Herzfehlern.
Nicht zuletzt kann man aber auch sehen, dass ein Mensch das Extra-Chromosom in seinen Zellen trägt: Am etwas runderen Gesicht, am charakteristischen Schnitt von Lidern und Augen.
Normal und doch besonders
Jenny Klestil hat inzwischen über 800 Familien kennengelernt, in denen ein Kind mit dem dreifachen Chromosom 21 lebt. 2015 hat sie angefangen, die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen zu porträtieren. Die ersten Bilder wurden damals für den 21. März gemacht – den Welttag des Down-Syndroms. Inzwischen hatte die Fotografin schon über 70 Ausstellungen, bei denen sie oft auch Foto-Shootings für Familien anbietet.
Derzeit kann man Bilder von ihr in Steglitz in der Praxis der Physiotherapeutin Antje Niehus betrachten. „Durch die Ausstellung sollen Ängste und Hürden abgebaut werden, sie sollen Familien Mut machen, die ein Kind mit dem Down-Syndrom erwarten“, sagt Klestil. Sie wirbt mit ihren schönen Bildern für eine „tolerante und bunte Gesellschaft, in der Menschen von klein bis groß mit einer Behinderung als genauso normal, bunt, lustig, glücklich und motzig wahrgenommen werden wie alle anderen auch.“
Die Trisomie 21 ist in dieser Hinsicht allerdings etwas Besonderes: Schließlich gibt es Tests, mit denen sich die chromosomale Abweichung erkennen lässt. In neun von zehn Fällen entscheiden sich Frauen und Paare für einen Abbruch der Schwangerschaft, wenn sie die Diagnose bekommen. In Ländern, aus denen es präzise Zahlen gibt, macht sich das deutlich bemerkbar. In Dänemark sind im Jahr 2015 nur 31, in der Schweiz 90 Kinder mit dem Down-Syndrom auf die Welt gekommen.
Eine Diagnose, viele Fragen
Wie sehr ein Paar um die Frage des Schwangerschaftsabbruchs ringen kann, zeigt der viel beachtete Film „24 Wochen“, der im letzten Jahr auf der Berlinale lief. Die junge Regisseurin Anne Zohra Berrached erzählt darin von den Konflikten eines Paares, das spät in der Schwangerschaft mit der Diagnose Trisomie 21 konfrontiert wird und erfährt, dass das gemeinsame Kind mit gravierenden Herzproblemen zur Welt kommen würde.
Meist steht heute der Verdacht auf eine Trisomie 21 schon früher im Raum als bei dem jungen Paar im Film. Wenn im Ultraschall eine Flüssigkeitsansammlung im Nacken des Ungeborenen erkennbar ist, kann eine Untersuchung des Fruchtwassers Klarheit bringen. Seit 2012 kann man bei besonderem Verdacht aber zuvor auch den „Praena-Test“ machen, bei dem im mütterlichen Blut nach Schnipseln der DNS des Kindes gefahndet wird – ohne das Ungeborene zu gefährden.
Neben Respekt schlägt Eltern von Kindern mit einer Trisomie 21 deshalb schon seit Jahren – unausgesprochen, oft aber auch ausgesprochen – die Frage entgegen, ob man das nicht auch hätte vermeiden können. „Auch in meinem Wartezimmer fragen andere Patienten die Eltern ab und zu, ob sie es denn vorher gewusst hätten“, berichtet Physiotherapeutin Antje Niehus. Und fügt gleich hinzu: „Mich selbst interessiert diese Frage überhaupt nicht.“
Ihre Praxis liegt im selben Haus wie die von drei Kinderkardiologen, die sich der Herzprobleme von Kindern mit einer Trisomie 21 annehmen. Sie behandelt deshalb einerseits „Intensivkinder“, die nach einer Herz-OP täglich Atemtherapie benötigen, und die bei Bedarf sie auch zuhause besucht.
Gemeinsam stärker
Ein anderer Schwerpunkt ihrer Arbeit ist es, Kindern mit dem Down-Syndrom beim Gehen- und Stehen-Lernen zu helfen. Wegen der geringeren Körperspannung und wegen Problemen mit Füßen und Rücken brauchen sie dafür etwas länger. „Die Kinder werden allerdings oft unterschätzt: Wenn man sie gezielt unterstützt, lernen sie es schneller.“ Mit zwei bis zweieinhalb Jahren haben sie es meist geschafft. Dann brauchen sie dafür oft die Hilfe eines Logopäden, um deutlich sprechen zu lernen.
Niehus versucht, die Familien, die zur Behandlung von Folgen der Trisomie 21 in ihre Praxis kommen, durch regelmäßige Treffen zu vernetzen. Sie habe größte Bewunderung dafür, wie die Väter und Mütter für ihre Kinder kämpfen, sagt die Physiotherapeutin. Sie betont allerdings ausdrücklich, dass auch die andere Entscheidung Respekt verdient, die gegen die Fortsetzung der Schwangerschaft. Und dass sie die Angelegenheit der Paare ist, die vor dieser Situation stehen.
Die Fotos sind noch bis Ende November zu sehen in der Praxis Antje Niehus, Feuerbachstraße 53 in Steglitz, Mo-Fr 10-18 Uhr. In ihrem Buch „Glück kennt keine Behinderung“, Band 1, versammelt Fotografin Jenny Klestil Geschichten von 50 Familien, in denen Kinder mit Down-Syndrom leben, und illustriert sie mit rund 300 Fotos (Verlag Das bunte Zebra, 24,95 Euro).
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Adelheid Müller-Lissner