Ruhezonen in Kreuzberg: Gebt den Parklets eine echte Chance!
Die Ruhezonen in der Bergmannstraße sind ein wunderbares Experiment – und ziehen bisher leider vor allem Hass auf sich. Eine überfällige Verteidigung.
Die Empörung ist riesig. Je nach Kritiker sind die Neuanschaffungen „eine Katastrophe“ oder „Peinlichkeit“, dazu „dreckig, nutzlos, teuer“, ihr Aufstellen sei „Irrsinn“, „pure Schikane“ beziehungsweise ein „total idiotisches Projekt“. Oh Gott, was haben unsere unfähigen Berliner Politiker nun schon wieder verzapft?
Sie haben es gewagt, etwas auszuprobieren. Den Bürgern ein Angebot zu machen. An zwei Orten, in der Kreuzberger Bergmannstraße und an der Schönhauser in Prenzlauer Berg, wurden vor einigen Monaten sogenannte Parklets aufgestellt: kleine Ruhezonen mit Bänken, Drehstühlen oder auch Liegen, dazu Blumenkästen und Tische. Manche bieten Platz zum Fahrradanschließen. Jedes Parklet verdrängt Autoparkplätze, es verschiebt sich also, wenn auch nur minimal und temporär, die Aufteilung des öffentlichen Raums.
Zwei Kernargumente gegen die Parklets lauten „Die werden doch gar nicht genutzt“ sowie „Da grölen ständig Leute rum“. Beides gleichzeitig geht eigentlich nicht.
Die Empörung über Änderungen im Straßenbild hat Tradition: Vorigen Sommer hieß es etwa, die vielen neuen Leihfahrräder verschandelten die Stadt, wobei das Meer aus parkenden und fahrenden Autos drumherum hübsch ausgeblendet wurde. Über die Einführung von Radwegen regt man sich ebenso auf wie über jede noch so moderate Tempolimitforderung. Selbst das Schmücken einer Baumscheibe werten manche als Angriff auf die alte Ordnung.
Die Schönheit der Chance
Berlins Parklets sind Experimente. Also der Versuch, eine Idee zu verwirklichen. Dazu gehört, dass man Erfahrungen sammelt, hinzulernt, sich korrigiert, auch Kompromisse sucht, natürlich Anfängerfehler abstellt, sich etwa nicht mehr bei den Maßen vertut, vielleicht mal weniger knalliges Gelb verwendet. Komplettes Scheitern ist ebenfalls möglich. Aber sollte man dem Experiment nicht zumindest eine echte Chance geben und, anstatt die Testphase in der Bergmannstraße, wie die BVV von Friedrichshain-Kreuzberg nun forderte, vorzeitig zu beenden? Ob die Parklets angenommen werden, zeigt sich schließlich im Frühjahr, Sommer und Herbst.
Selten so unschön ausgeruht wie auf dem Parklet Schönhauser Allee. 'Cause traffic goes wruumm wruumm wruummm...
schreibt NutzerIn timmi
Spoiler: Berlins Straßenbild wird sich in den kommenden Jahrzehnten radikal verändern. Die Stadtentwicklung, die Verkehrswende, die Wirtschafts- und Klimapolitik erfordern es. Wäre es da nicht klug, auf dem Weg dorthin viel auszuprobieren und herauszufinden, was nützt und guttut?
Ein internationales Erfolgsmodell
Parklets sind keine Schnapsidee von ausgeflippten Berlinern. Das Konzept entwickelten Stadtplaner Ende der Nullerjahre in San Francisco, die Verwaltung stimmte einer Testphase in Downtown zu. Auch dort folgte zunächst ein Aufschrei, die Argumente ähnelten jenen, mit denen sich aktuell in Berlin empört wird. Doch dann haben die Bewohner ihre Parklets mögen und nutzen gelernt, die Idee setzte sich durch, im ganzen Land und auch in etlichen europäischen Metropolen. Mittlerweile gibt es zig Varianten, Ruhezonen mit Liegewiese, Tischkicker, Bällebad oder Minigolfanlage, sogar mit Hühnerstall.
Dieses Wochenende werde ich ein Parklet in der Bergmannstraße ausprobieren. Bringe auch ein Backgammon-Brett mit. Kommt noch wer?
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