Kritik an autofreier Zone in Berlin-Mitte: „Geben Sie der Friedrichstraße noch eine Chance“
Die Klagen der Anrainer über das Experiment auf der Friedrichstraße werden lauter. Ein Abbruch vor Januar wurde aber ausgeschlossen.
„Gefährlich“, „konzeptlos“, „geschäftsschädigend“ – auf dem zweiten Netzwerktreffen zur autofreien Friedrichstraße haben sich die Töne noch einmal verschärft.
Im Veranstaltungssaal des Russischen Hauses hatte der Bezirk Mitte gemeinsam mit der Senatsverwaltung für Umwelt und Verkehr am Donnerstag zum Gespräch geladen. Besonders von den örtlichen Geschäftsleuten mussten die Verantwortlichen einiges an Kritik einstecken.
Dabei hatte die Projektleitung eigentlich ein paar Erfolge seit dem vergangenen Treffen im September zu berichten. So wurden etwa fünf neue, sogenannte „Showcases“ am Rande der Straße errichtet. Sie sollen als kostenlose Werbemöglichkeit für anliegende Geschäfte dienen. Zusätzlich klären Informationstafeln über die Ideen und Motivationen hinter der autofreien Zone auf.
„Es kam vor allem ganz viel Feedback, was die Bäume auf der Fläche anbelangt", erklärte Projektplanerin Antje Osterburg. Um die Pflege der Pflanzen zu sichern, habe man Baumpatenschaften in Kooperation mit den Anwohnern vergeben und eine Firma engagiert, die sich um die Bewässerung kümmert. „Den Bäumen geht es gut“, versicherte sie. Auch für die zum Teil zugemüllten Parklets zwischen dem Grün wurde ein Unternehmen mit der Instandhaltung beauftragt.
Für die Galeries Lafayette ist derweil ein Wunsch vom letzten Treffen in Erfüllung gegangen: Die Fahrradstraße soll ab sofort bündig an der U-Bahn-Insel vorbeiführen und so für freien Gestaltungsraum auf der Straßenseite des Kaufhauses sorgen.
Doch nicht alle Anrainer dürften so viel Glück haben. Es seien bereits viele andere Vorschläge bei der Projektplanung eingegangen, sagte Osterburg. Um sie allesamt zu realisieren, fehle letztlich jedoch der Platz. Auch die zusätzlichen fünf Showcases sind bereits ausgebucht.
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Ein richtiger Weihnachtsmarkt wird dieses Jahr auf der Friedrichstraße nicht stattfinden. „Das müsste ausgeschrieben werden und dann wären wir bei Weihnachten 2021“, sagte Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel (Bündnis 90/Die Grünen).
Auch die aufgrund der Pandemie notwendigen Sicherheitsvorkehrungen stellten ein Hindernis dar. Dennoch könnte man im kommenden Winter beim Schlendern über die Straße auf ein paar Stände treffen. Diese sollen vereinzelt möglich sein, wenn die Anrainer individuell das Gespräch mit Weihnachtsmarkt-Betreibern suchen.
Nach wie vor liegen zu den tatsächlichen Auswirkungen der autofreien Zone kaum konkrete Zahlen vor. Laut dem städtischen Abteilungsleiter für Verkehrsmanagement, Christian Haegele, sind diverse Untersuchungen zum Personen- und Fahrradverkehr zwar bereits in Gange, Ergebnisse lägen jedoch noch nicht vor.
Sorgen ums Geschäft
Die Galeries Lafayette, die zuletzt noch von keiner signifikanten Änderung ihrer Kundenzahlen sprach, bezifferte nun einen Rückgang zwischen 25 und 35 Prozent.* Dass man selbst Mittel aufbringen müsse, um die Weihnachtsmarktstände vor der eigenen Tür zu finanzieren, sei nicht nachvollziehbar, erklärte ein Vertreter des Kaufhauses.
Nach wie vor zeigen sich Geschäfte und Bewohner der angrenzenden Straßen besorgt. "Eine einfache Umleitung von der Friedrichstraße in die Charlottenstraße kann nicht das Ziel sein", beschwerte sich die Besitzerin eines Weinladens.
"Wir fühlen uns hier wie die Abstellkammer der Friedrichstraße", so ihr Fazit. Ein weiterer Anrainer beschwerte sich über mangelnde Kommunikation von Seiten der Projektleitung. Er habe von den fünf bereits schon ausgebuchten Showcases erst jetzt erfahren und somit nie eine Chance dazu gehabt, das Angebot zu nutzen.
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Einmal mehr als Reizthema entpuppte sich die Kritik an vermeintlich rasenden Radfahrern. Während einige Anrainer ständigen Tempoüberschreitungen anprangerten, verwies Haegele auf Stichkontrollen der Polizei, bei denen kein einziges Fahrrad zu schnell gefahren sei.
Nach wie vor lägen zudem keine Meldungen über Unfallverletzungen auf der Straße vor. „Dass ein Radfahrer, der 20 fährt, eine größere Gefahr ist als Autos mit 50 ist objektiv, denke ich, nicht so zu bestätigen“, so der Verkehrsbeauftragte.
Den Wunsch mancher Ladenbesitzer, die Straße komplett in eine Fußgängerzone umzuwandeln, schloss Haegele grundsätzlich nicht aus, bemerkte aber: „Ich verstehe die Sicht der Geschäftsleute am Radverkehr nicht so ganz, denn letztendlich ist das ja Potenzial, das Kunden bringen kann.“
Die Idee hinter der Fahrradstraße sei, dass man auf dem Rad, anders als beim Auto, spontan anhalten und einen Laden aufsuchen könne.
Von Dassels Appell
Den Rückgang der Besucherzahlen erklärte die Projektleitung mit Verweis auf die sich wieder verschärfende Lage rund um die Corona-Pandemie. Das Verkehrsaufkommen in den Seitenstraßen wie etwa der Charlottenstraße soll zudem weiterhin geprüft werden.
Falls sich hierbei eine Überlastung herausstellt, wollen die Verantwortlichen das Problem mit neuen Einbahnstraßen unter Kontrolle bekommen.
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Die Nerven einiger Anrainer scheinen blank zu liegen. Dennoch stellte ein Vertreter der Industrie- und Handelskammer auf dem Treffen fest, dass die Mehrzahl der Unternehmen dem Versuch nach wie vor positiv gegenüberstünden.
So beschwor von Dassel die Anwesenden noch einmal: „Geben Sie der Friedrichstraße noch eine Chance!“ Der Einkaufsmeile sei es schon zuvor nicht gut gegangen, so der Bezirksbürgermeister. Den Versuch noch vor seinem Ende im Januar abzubrechen, schloss von Dassel aus.
*Hinweis: Auf der Veranstaltung sprach der Vertreter des Kaufhauses wörtlich von „einem Rückgang der Frequenz zwischen 25 und 35 Prozent“. In einem Dementi haben die Galeries Lafayette nun die Angaben richtiggestellt und sich deutlich für das Projekt auf der Friedrichstraße ausgesprochen. Obwohl im Herbst weniger Besucher auf der Flaniermeile verweilten, sei die Zahl der eigenen Kunden nach der Wiedereröffnung im April „stetig gewachsen“. Auch seit dem Start des Verkehrsversuchs habe man keine Abnahme der eigenen Kundenzahlen feststellen können.