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Betriebe in Deutschland bilden immer mehr Flüchtlinge aus. Trotzdem lohnt es sich für viele oft nicht.
© Andreas Arnold/dpa

Fehler im System: Für viele Geflüchtete lohnt sich eine Ausbildung nicht

Geflüchtete sollen helfen, die Fachkräftelücke in Deutschland zu schließen. Doch diese Rechnung geht nicht auf.

„Azubis händeringend gesucht!“ Mit diesem Appell wendet sich die Industrie- und Handelskammer (IHK) an die Öffentlichkeit. Denn zum Start des neuen Ausbildungsjahres am Sonntag sind in Berlin bei der IHK noch mehr als 5500 Ausbildungsplätze unbesetzt. Auf der Lehrstellenbörse der Handwerkskammer Berlin im Internet sind darüber hinaus noch 577 Lehrstellen im Handwerk unbesetzt, sagt Sprecher Wolfgang Rink. Die reelle Zahl dürfte höher liegen, nicht jeder Betrieb meldet eine Vakanz auf der Service-Plattform. Eine besondere Herausforderung ist die Integration Geflüchteter über Arbeit oder Ausbildung – das wahre Leben ist anders als die Theorie, zeigt sich.

Generell können sich alle Jugendlichen völlig unabhängig von der Herkunft an das Programm „Passgenaue Besetzung“ der IHK Berlin wenden. „Vor allem für kleine und mittelständische Betriebe ist die Azubilücke ein Problem“, sagt Jan Pörksen, Geschäftsführer „Bildung & Beruf“ bei der IHK. Die „Passgenaue Besetzung“ suche vor allem für die Berufsgruppen Büro, Hotel- und Gaststättengewerbe, IT-Branche und Handel nach Bewerbern. Es gibt aber auch für viele weitere Berufsbilder noch freie Plätze. Ausbildungsberater besprechen Stärken, Schwächen, berufliche Vorstellungen – und Erwartungen des Betriebs. Jugendliche könnten noch bis Oktober eine Ausbildung beginnen. Das Programm wird aus Mitteln des Bundes und dem Europäischen Sozialfonds gefördert. Auch im Berliner  Handwerk gibt es passgerechte Beratung, auch, um die Abbrecherquote in der Ausbildung zu senken. Derzeit sind etwa Lehrstellen frei als Friseur, Anlagenmechaniker oder Mosaikleger.

Viele Erfolge und viel Ernüchterndes

Viele Betriebe hoffen, dass junge Geflüchtete die Lücke an Lehrlingen füllen. Da gibt es schon viele Erfolge zu vermelden, aber auch Ernüchterndes. So ist das Prinzip der dualen Ausbildung, also Schule und Praxis, in den meisten Herkunftsländern nicht bekannt. Da gibt es junge Männer, die in Iran oder in Somalia erfolgreich Autowerkstätten betrieben haben, aber hier eine Mechatroniker-Ausbildung vorweisen müssten. Diese könnten sie aber sprachlich auch nach vier Jahren in Berlin oft nicht absolvieren. Hochmoderne Auslesegeräte, in der Heimat kaum üblich. In erste Integrations- oder Volkshochschulkurse kommt man erst nach langen Wartezeiten, und dort wird Alltagsdeutsch gelehrt. Mancher kommt da nicht mit, viele Kurse werden abgebrochen. Berufsschulfachsprache ist sehr viel schwerer.

Probleme, ins Arbeitsleben einzusteigen, haben Bildungsexperten zufolge auch jene Zuwanderer etwa aus arabischen Ländern, die im Alter von 15, 16, 17 Jahren nach Deutschland kamen oder kommen. Sie haben es in einer Willkommensklasse – meist werden sie wegen des Spracherwerbs ein bis zwei Jahre zurückgestuft – vielleicht gerade geschafft, mit der Schreibweise von links nach rechts statt rechts nach links, mit völlig anderer Schrift und anderen Zahlen klarzukommen. Und können sich nach Wechsel in eine Regelklasse auf einfachem Niveau verständigen. Da die Eltern aber meist schlechter Deutsch sprechen als die Kinder, können ihnen diese auch nicht helfen. Berufsbildungsreife oder Mittlerer Schulabschluss sind oft nicht zu schaffen.

Besser haben es unbegleitete minderjährige Geflüchtete, die seit ein paar Jahren in Berliner Pflegefamilien leben und intensiv und persönlich gestärkt und gestützt werden. Aber das sind nur ein paar Dutzend. Und auch kleine Kinder wachsen schneller ins Leben hier hinein.

Das Ausbildungsgehalt ist oft weniger als die Jobcenter-Leistungen

Jenen Neueingestiegenen in Deutschland, die kurzfristig denken, erscheinen die Mühen einer Lehre zudem nicht besonders attraktiv, weil das Ausbildungsgehalt in der Regel teils unter oder mit Aufstockung beim Amt nur auf gleicher Höhe wie die Summe aller staatlichen Jobcenter-Leistungen lag oder liegt. Was selbst erarbeitet wurde, wird gleich wieder verrechnet, psychologisch ungünstig. Das haben auch schon Firmen als Fehler im System kritisiert. Arbeit bringt dabei doch mehr als Geld, nämlich oft Freunde, Selbstbestätigung, Tagesstruktur. Viele Sonderprogramme der Senatsverwaltungen versuchen, zu motivieren.

Nach Erfahrungen des berufsvorbereitenden Integrationsprojektes Arrivo gebe es vor allem bei jungen erwachsenen Geflüchteten die Lage, dass sie mit einem Helferjob mit Mindestlohn finanziell weit besser dastehen, als wenn sie nochmal eine Ausbildung begännen. Zumal oft Verwandte im Herkunftsland finanzielle Forderungen stellen und große Erwartungen an die nach Deutschland Gegangenen oder Geschickten haben.

Es bräuchte zeitgemäße Ausbildungen mit flexibleren Strukturen - zum Beispiel Blockunterricht an den Berufsschulen statt wöchentlichem Schulbesuch. Auch Ausbildungsvergütungen, die besser an der Lebenssituation des Lehrlings orientiert sind, würden helfen [...].

schreibt NutzerIn Boandlgramer

Ein Drittel aller Geflüchteten lebt nicht von den Jobcenter-Leistungen, sondern von Arbeit, aber überwiegend in Helfer-Tätigkeiten. Die Jobcenter-Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II umfassen laut Bundesagentur für Arbeit allgemein Miete, Heizung, Kranken- und Pflegeversicherung, Meldung an die Rentenversicherung, der Rundfunkbeitrag entfällt, es gibt die Regelbedarf-Auszahlungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes; Einrichtungspauschalen, Berlinpass.

Um in gut bezahlten Mangelberufen arbeiten zu können, müssten die meisten Erwachsenen nochmal eine Ausbildung machen. Viele Geflüchtete besitzen keine hier erforderten Zertifikate, manche werden nicht anerkannt. Für einen Job nochmal bei Null anzufangen, für viele frustrierend. Zudem dürfen etwa erfahrene und hoch motivierte Lehrerinnen, die sich weiter qualifizieren würden, in Berlin nicht arbeiten, weil sie Kopftuch tragen. Dieses würden sie aber aus Tradition und Überzeugung nicht ablegen. Viele Frauen aus der arabischen Welt streben eine Berufstätigkeit zudem nicht an, sie sind es aus der alten Heimat gewohnt, sich als Frau in der Kindererziehung und im Haushalt zu profilieren, nicht als Arbeitnehmerin. Syrische Männer sind hingegen eher nicht so sozialisiert, dass sie unbedingt in Pflegeberufe in Altenheim oder Krankenhaus gehen.

Einige junge Geflüchtete wollen dringend eine Ausbildung machen

Andererseits gibt es wieder junge männliche Geflüchtete, die dringend eine Ausbildung machen wollen, „egal, was“, um so ihren Aufenthalt in Deutschland durch die 3+2-Regel zu ermöglichen, bestätigt auch bei Arrivo. Darunter sind viele junge Afrikaner und Afghanen, denn eine sichere Bleibeperspektive haben derzeit nur Syrer und Eritreer.

Laut Handwerkskammer stammten von den rund 3800 Jugendlichen, die 2018 neu eine Ausbildung begonnen haben, 345 aus den acht Hauptherkunfts-Fluchtländern. Das Amt für Statistik wies in Berlin zuletzt 1198 Lehrlinge aus einem der acht Hauptherkunftsländer Geflüchteter aus, in Brandenburg waren es 469. Im Willkommensjahr 2015 waren es 121 und 24. Im August 2019 gab es laut Bundesagentur für Arbeit, Regionaldirektion Berlin-Brandenburg, 20.446 Bewerber für Ausbildungsstellen unter 25 Jahre, darunter 2455 Geflüchtete. Es könnten aber real mehr Flüchtlinge sein, denn bei der Fluchtmigrationsstatistik werden Geflüchtete mit Niederlassungserlaubnis gar nicht mehr erfasst, und auch die über den Familiennachzug Gekommenen fallen dort nicht hinein.

Berater „Passgenaue Besetzung“: Claudia Denkmann (030 315 10 490), Sema Gökkaya-Süzen (315 10 300), Jaafar Sakr (315 10 523). Am 3. September ist bei der Handwerkskammer „Azubi-Welcome-Day“.

Annette Kögel

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