Seniorensport: Für Fitness ist es nie zu spät
Beim Seniorensport geht es locker, aber auch konzentriert zu. Ob mit 60, 70, 80 oder 90 – das Alter spielt dabei keine Rolle. In Berlin gibt es laut Landessportbund 1200 Kursangebote für Ältere. Wir haben einen davon in Pankow besucht.
Ruckartig fliegt die Tür auf. „Zwei Straßenbahnen sind ausgefallen! Die S-Bahn fährt nicht!“ Erika – graue Haare, Brille – steht im Türrahmen, schüttelt genervt den Kopf und lässt ihren Frust raus. „Ach herrje!“ und „Oh nein!“ werden ihr von der anderen Seite des Raumes mitfühlend entgegengebracht. Es ist kurz nach 9 Uhr an diesem Montag. Bereits seit fünf Minuten sollte hier in einem Gebäude in Pankow auf beigem Linoleum stattfinden, was man als Seniorensport oder – wie es Übungsleiterin Jessica Wöhler tut – als Gesundheitssport bezeichnen könnte. Frauen und Männer über 60 Jahre halten sich gemeinsam fit. In einem ehemaligen Kindergarten an der Binzstraße sowie an einigen weiteren Standorten in Berlin bietet der SC Drehscheibe seit 2001 Sportkurse für Senioren an. „Aktives Herz“, „Aqua-Fit“ oder „Locker vom Hocker“ heißen die Angebote.
Während Erika kurz in der Umkleidekabine verschwindet, kramen Christine, Dagmar und Maike schon einmal die Gewichte, Matten und Handtücher hervor. Waltraud kämpft noch mit dem Fenster. Ein bisschen frische Luft will sie an diesem heißen Sommertag hineinlassen. Dass Erika es heute nicht pünktlich geschafft hat, stört hier keine der Damen. Man kennt sich ja. „Seit wann?“ „10 Jahre“, „15 Jahre“, „Na, gefühlt schon immer“. Montag ist eben Sporttag.
"Was erwarten sie von uns?" "Wie viel darf ich Ihnen zumuten?"
Als Erika zum zweiten Mal an diesem Morgen durch die Tür schaut, steht sie dort entspannt und freudig lächelnd. Den Ärger über die Bahn hat sie in der Umkleide gelassen. In ihren schwarzen Trainingshosen, den grauen, rosa- und türkisfarbenen T-Shirts schauen die Frauen – 75 bis 81 Jahre alt – nun erwartungsvoll zu Trainerin Jessica, eine sportliche junge Frau, die Haare zum Dutt nach hinten geknotet und nicht mal halb so alt wie die Teilnehmerinnen. Da Jessica heute nur als Urlaubsvertretung da ist, müssen sich beide Seiten zunächst ein bisschen kennenlernen: „Was erwartet sie von uns?“ Und: „Wie viel darf ich ihnen zumuten?“
„Füße auseinander, Rücken aufrichten. Wir gehen jetzt in die Mobilisation“, ruft Jessica – bestimmt, aber nicht streng. Penibel erklärt die 33-Jährige jeden der Schritte. Zunächst kreisen die Frauen mit den Schultern, während die Füße leicht gebeugt sind. „Gelenkschonend“ sollen die Übungen sein, hatte Jessica zuvor angekündigt. Dann werden die Hände in die Seiten gestemmt. „Einen schönen Hüftschwung will ich sehen“, ruft Jessica und lacht. Bis auf ein kurzes Schmunzeln geben die Frauen keinen Laut von sich. Keine Klagen, kein Gestöhne. Jede schaut konzentriert nach vorne, damit beschäftigt, die Übungen genau nachzuahmen.
Der Kurs, den die fünf Frauen besuchen, nennt sich „Bewegter Rücken“. Dabei ist es viel mehr als das: zehn Minuten Aufwärmen, 15 Minuten Kraft, dann ein kleines Spiel, zum Schluss Entspannung. Ein Ganzkörpertraining für Senioren, das ist der Plan von Jessica Wöhler. Früher war sie im Fitnessstudio beschäftigt, heute arbeitet sie mit Vereinen und ist spezialisiert auf Rehasport und Orthopädie. Worauf achtet sie, wenn sie mit Senioren trainiert? „Ich muss viel sensibler vorgehen“, erzählt sie. Der Körper der Senioren sei nun mal nicht mehr so fit wie mit 20 oder 30 Jahren. Schlaganfälle, Herzinfarkte, Gelenkschmerzen, Osteoporose, Rheuma – die Liste möglicher Erkrankungen ist lang. Wer sich gut fühle, könne aber mitmachen. Wer fitter sei, könne zum Beispiel mehr Gewicht auf die Geräte packen oder die Übungsabfolge häufiger wiederholen. Ob mit 60, 70, 80 oder erst mit 90 Jahren, das Alter spiele beim Sport keine Rolle. Erst wenn jemand spezifische Erkrankungen – etwa am Herzen – habe, sollte er einen Arzt um Rat fragen, bevor er sich in Kursen wie diesem betätige. 1200 Seniorensportangebote gibt es inzwischen in Berlin, wie der Landessportbund weiß.
Wer sich weniger bewegt, ist anfälliger für neue Erkrankungen
Zwei- bis dreimal pro Woche sollten sich die Senioren eine Stunde lang sportlich betätigen, rät Jessica Wöhler. Ein ambitioniertes Ziel, das wissen die Teilnehmerinnen selbst. Dagmar erzählt, dass sie es sich immer wieder vornehme, auch zu Hause Übungen zu machen. Schließlich lasse sie es dann aber doch sein: „Zu Hause ist man einfach zu faul.“ Also macht sie lieber beim SC Drehscheibe einmal in der Woche Sport. Hier hat sie einen festen Termin, eine Anleitung und gesellige Mitstreiterinnen sowieso. So geht es auch Waltraud. Zwar schwärmt sie davon, ein Fahrrad und einen Gymnastikball daheim zu haben, als jedoch jemand fragt: „Und machst du damit auch was?“, kommt prompt als Antwort: „Eben nicht.“ Und darüber muss die 81-Jährige dann selbst ein bisschen lachen. Christine ist da ehrgeiziger: „Musst doch nur zehn Minuten am Tag!“. Zwar bereiten der Seniorin Hüfte und Schulter Probleme, dennoch geht sie regelmäßig wandern. „Und dann habe ich noch ein Grundstück. Da gibt es immer was zu tun.“ Freunde und Bekannte, die sich weniger bewegten, seien weniger fit, schwergängiger und anfälliger für neue Erkrankungen. Die anderen nicken. „Jaja, das merkt man.“ Ein Satz, in dem jede Menge Stolz mitschwingt.
Damit das auch so bleibt, geht es als Nächstes an die Gewichte. Hanteln in die Hände, Hüfte nach hinten schieben, die Knie beugen, hoch und runter kommen. „Und keine Pressatmung! Sonst bekommt ihr Herzrhythmusstörungen.“ Dann die Arme mit den Hanteln nach oben strecken und beugen, bis die Arme in einer U-Form ankommen. Christine verzieht dabei erst das Gesicht, schüttelt dann den Kopf: „Geht nicht“. Die Schulter schmerzt ihr. Jessica rät ihr, ohne Hanteln weiterzumachen. Christine nickt dankbar. Als die Gruppe zu den Gleichgewichtsübungen kommt, ist es Waltraud, die ein wenig schwächelt. Die Frauen müssen ein Bein anheben und den Fuß kreisen lassen. Waltraud hält sich zur Sicherheit mit einer Hand am Heizkörper fest. „Kein Problem“, findet Jessica. Tempo und Schwierigkeitsgrad solle jeder selbst wählen dürfen. Ihr Tipp: Auch beim Zähneputzen sollten sie ab und zu ein Bein anheben. So ließen sich die Übungen in den Alltag einbauen.
Am Ende: konzentrierte Stille, bewusstes Ein- und Ausatmen
„Und wie geht’s euch jetzt?“, fragt Jessica, als alle wieder mit beiden Beinen auf dem Boden stehen. „Wir fallen schon nicht um“, sagt Waltraud. Die anderen lachen. Das Taschentuch wird dann aber doch einmal rausgeholt und über die Stirn gewischt. Ein paar Schweißperlen haben sich angesammelt. Noch einen Schluck trinken, dann geht es auf die Matte. Auf den Rücken legen, Beine aufstellen, Hintern und Hüfte nach oben schieben. „Super, super!“, sagt die Trainerin immer wieder, läuft dann von Christine zu Maike, von Maike zu Waltraud und schaut, ob sich auch jeder Körperteil in der richtigen Position befindet. „Ihr sollt ja keine Rückenschmerzen bekommen. Die kennen ja vielleicht einige von euch schon“, sagt sie. „Hmm ...“ kommt es kleinlaut von den Matten.
Vorbei ist es mit dem Ziehen und Zwicken, der konzentrierten Stille und dem bewussten Ein- und Ausatmen, als Jessica Wöhler verkündet: „Und jetzt wird gespielt!“ Blitzschnell sind Hanteln und Matten verschwunden. Stattdessen hat jede einen Tennisball in der Hand. Sie sollen durch den Raum laufen, ihn hochwerfen und wieder auffangen. Mal mit der linken, mal mit der rechten Hand. „Ah nein!“ und „Mist“ hört man sie durch den Raum rufen. Denn der Ball will nicht so, wie die Frauen es gerne hätten. Er plumpst auf den Boden, rollt unter die Schränke, unter die Heizung oder in andere Ecken des Raumes. Noch schwieriger wird es, als sie mit jeder anderen Frau, der sie im Raum begegnen, die Bälle werfend austauschen sollen. Die Missgeschicke sorgen für viele Lacher, für amüsiert ausschauende Gesichter, für gut gelaunte Frauen.
Nach fast einer Stunde gibt es dann nur noch eines zu tun: entspannen. In einem Stuhlkreis kommen sie noch einmal zusammen, setzen sich gerade hin, strecken die Arme nach oben, machen die Beine lang, dehnen sich und atmen noch einmal tief ein und aus. Bevor die Frauen wieder Richtung Straßenbahn, in ihre Wohnzimmer oder Gärten verschwinden, erinnert Jessica Wöhler sie noch an einen Satz, den sie sich nicht oft genug sagen können: „Mir geht es gut!“
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