Beziehung statt Erziehung: Freundschaft mit der Zahnbürste
Viele Kinder mögen Zähneputzen nicht. Manche Zahnärzte raten dann zum Festhalten. Das ist Gewalt, sagt unsere Autorin. Sie hat Tipps, wie man es anders angeht.
„Oft sind es die kleinen Nebensächlichkeiten, die dir als Ehemann die Schweißperlen auf die Stirn treiben. Ein Klassiker der alltäglich kleinen Grenzerfahrungen ist für Männer das Zähneputzen. Ein Dauerbrenner im Gespräch ist die Frage, ob man Frauen festhalten darf, um ihnen die Zähne zu putzen. Männer äußern in diesem Zusammenhang die verschiedensten Ängste: Von „Ich habe Angst, meiner Frau ein Trauma zuzufügen“ über „Ich möchte nicht, dass sie die Lust am Zähneputzen verliert“ ist alles dabei.
Oftmals funktioniert das Zähneputzen bei jüngeren Frauen ohne Probleme. Leider geht diese Phase bei den meisten Ehefrauen auch einmal zu Ende, und dann berichten die Ehemänner alle das Gleiche: Die Frauen schreien, wehren sich, strampeln – kurz: sie tun einfach alles, um ihrem Mann das Leben schwer zu machen. Und ja, wenn die Frau schreit und strampelt, darf sie auch festgehalten werden!
Entscheidend hierbei ist, dass dies durch eine Vertrauens- und Bezugsperson geschieht, was der Ehemann im Normalfall ja ist. Der Mann solle entspannt bleiben und seiner Frau dadurch vermitteln, dass alles ok ist.
Eine gute Variante ist, sich auf eine weiche Unterlage zu setzen, die Frau auf den Rücken zwischen die Beine zu legen, mit den Oberschenkeln sanft die Arme zu fixieren. Da der Kopf der Frau zwischen den Beinen zum Liegen kommt, ist auch dieser gut fixiert. Dadurch hat man beide Hände frei und kann sehr gut unter Sicht nachputzen. Dabei kann gerne gesungen und mit kleinen Fingerpuppen für Ablenkung gesorgt werden.“
Wem dieser Text merkwürdig vorkommt, der hat natürlich recht. Die Originalversion, in der nicht von Ehefrauen, sondern von Kindern die Rede ist, stammt von einer Kinderzahnärztin und Fachautorin und wurde in einem Internetforum für Zahnmedizin und Zahntechnik veröffentlicht.
Ich habe statt „Kind“ überall „Frau" eingesetzt, um klarzumachen, das solche Empfehlungen Adultismus sind (damit wird die Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen auf Grundlage eines bestehenden Ungleichgewichts zwischen Erwachsenen und Kindern/Jugendlichen) und zu Gewalt aufrufen. Denn: Ja, das ist Gewalt! Der genannte Text leitet an, das Kind sanft zu fixieren. Wie soll das gehen, sanft zu fixieren? Entweder ich fixiere oder ich bin sanft. Wir Eltern sind unseren Kindern körperlich überlegen. Das Kind erlebt Hilflosigkeit pur.
Das ist das Gegenteil von Missbrauchsprävention
Außerdem soll der Elternteil, laut der Zahnärztin, dem Kind das Gefühl geben, dass alles in Ordnung ist. Den Eltern wird suggeriert, dass sie ja nur das Beste für ihr Kind tun. Der Zweck heiligt die Mittel. Dem (hilflosen) Kind wird vermittelt, dass es ok ist, wenn der Erwachsene gewaltvoll in seinen intimen Bereich (den Mund) mit der Zahnbürste eindringt. Das ist das Gegenteil von Missbrauchsprävention! Was ist mit „Mein Körper gehört mir“? Was macht das mit den Kindern, wenn sie das täglich zwei Mal erleben? Ich kann mir vorstellen, dass das Kind (sich) irgendwann aufgibt! Ja, es lässt sich dann brav die Zähne putzen, doch der Preis ist viel zu hoch!
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Den Eltern wird im Text außerdem eingeredet, dass das Kind ihnen das Leben schwer machen will. Nein, eine solch strategische Denkweise ist, nach entwicklungspsychologischen Erkenntnissen, bis ins mittlere Schulalter gar nicht möglich.
Fazit: Das Kind ist nicht unser Feind! Es gibt keinen Gegner! Es gibt nur ein Kind, welches eine Abneigung gegen das Zähneputzen hat. Hören wir auf, gegen Windmühlen zu kämpfen!
Wie wäre es, sich mal von jemandem die Zähne putzen zu lassen?
Ich möchte an dieser Stelle Jesper Juul frei zitieren: Wenn du die Methode nicht bei deinem Partner anwenden willst, dann tu es auch bei deinem Kind nicht.
Wie wäre es, sich mal von jemandem die Zähne putzen lassen? Ich habe das getestet und das veränderte meine Sicht auf das Zähneputzen nachhaltig. Ich öffnete meinen Mund, mein Mann begann zu putzen und ich hatte ab der ersten Sekunde Gedanken wie: „Ah, pass auf“, „bitte nicht so fest“, „das ist unangenehm“. Am liebsten wollte ich den Versuch gleich wieder abbrechen. Es war wirklich unangenehm! Ich fühlte mich völlig ausgeliefert. Und wenn ich mir jetzt auch noch vorstelle, dass jemand auf meinen Armen kniet und meinen Kopf zwischen den Beinen fixiert… Es erfordert viel Achtsamkeit von dem, der dem anderen die Zähne putzt. Ich würde ganz viel nachfragen: „Ist das unangenehm?", „Soll ich langsamer putzen?“, „Wo ist es besonders unangenehm?“ – auch bei Kindern, die sich noch nicht ausdrücken können.
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Mit der "Klobürste" alles säubern
Zahnkaries wird durch ganz bestimmte Bakterien ausgelöst. Diese Bakterien leben in der Mundhöhle und in den Zahnbelägen. Sie ernähren sich von Zucker und scheiden als Stoffwechselprodukt Säuren aus, die den Zahnschmelz angreifen und Mineralstoffe herauslösen. Es ist quasi die „Kacke“ von den Bakterien, die unsere Zähne anfrisst. Mein Sohn fand das sehr amüsant und war tagelang der Klomann, der mit seiner „Klobürste“ alles säuberte. Darüber hinaus erklärte ich ihm, dass man nach dem Putzen einfach frischeren Atem hat. Er testete dies, indem er sich vor und nach dem Zähneputzen die Hand vor dem Mund hielt. „Nachher ist es besser“, war sein Ergebnis.
Ich finde den Zeitpunkt fürs Zähneputzen ganz oft entscheidend. Ist mein Kind schon hundemüde? Klar wird es dann schwierig. Könnte ich das Zähneputzen in Zukunft früher ansetzen? Hatten wir kurz vorher einen Konflikt? Verständlich, dass mein Kind mich dann nicht so gerne an sich ranlässt. Zuerst den Konflikt zu lösen, wäre erleichternd für das anschließende Zähneputzen. Will mein Kind noch nicht schlafen gehen und sieht das Zähneputzen als Einleitung dafür? Schlau vom Kind, sein Bedürfnis nach Autonomie mit der Strategie des Verzögerns zu stillen. Es geht dann eher darum, eine Lösung fürs Schlafengehen zu finden. Ist mein Kind gerade mitten im wunderbarsten Spiel? Oder macht es sonst etwas, das ihm Freude bereitet? Vielleicht könnt ihr es gemeinsam abschließen, bevor die Zähne geputzt werden?
Mal eine Pause einlegen
Hat mein Kind mit dem Zähneputzen eine negative Assoziation? Ich würde dann eine Pause einlegen. Xylit gilt als kariesvorbeugend. Es gibt Drops und Lollis aus Xylit, um diese Zeit zu überbrücken und auch für zwischendurch. Mein Sohn liebt diese Zitronen-Lollis, das karieshemmende Xylit bleibt so lange im Mund.
Und dann würde ich alles anders machen als bisher. Putzt in anderen Räumen. Putzt mit einem rockigen Lied aus dem Radio. Macht euch eine gemütliche Zahnputzecke mit Spiegel und Kissen. Wir haben einige Zeit im Wohnzimmer auf der Couch geputzt: Mein Sohn hatte die Idee, auf der Couch zu liegen und den Kopf hinunterhängen zu lassen. Ich saß dann auf dem Boden und putzte mit einem Liedchen auf den Lippen. Eure Kinder haben bestimmt geniale Ideen! Kommuniziert den „Neuanfang“ – auch den ganz kleinen Kindern.
Lieder, Tänze oder Spiele helfen
Mal ehrlich, was würdet ihr lieber tun: Euer spannendes Buch weiterlesen oder der quengelnden Mama ins Bad folgen, um euch die Zähne putzen zu lassen? Findet gemeinsam mit dem Kind die Freude am Zähneputzen! Wie wäre es mit einem selbst gedichteten Zahnputzlied und einem kleinen Tänzchen von euch. Ja, uns zum Kasper zu machen fällt vielen schwer. Doch glaubt mir, es kann so viel Spaß machen. Wenn ihr eure Freude daran findet, dann fällt es auch euren Kindern nicht mehr so schwer.
Oder wie wäre es mit einem Spielchen? Mein Sohn fand es furchtbar lustig, wenn ich ihm erzählte, was ich alles wegputze. „Den Brokkoli, die Schokokekse, die Spaghetti, die Couch…“ Er gluckste vor Lachen, wenn ich unmögliche Dinge aufzählte. Als er dann ein bisschen älter war, liebte er Quizspiele. Er hob dann die Hand, wenn die Antwort richtig war.
Irgendwann fand ich eine Schallzahnbürste, welche per Bluetooth mit einer Handy-App verbunden ist. Einem drolligen Tierchen sollen die Zähnchen sauber gemacht werden, indem sich das Kind die Zähne selbst putzt. Am Schluss gibt’s dann Essen oder ein Accessoire für das Zahnputztier. Da ich nichts von Belohnungen halte, zeigte ich meinem Herzensglückskind, wie man die Geschenke auch ohne Putzen kriegt. Was ihn aber nicht vom täglichen Zähneputzen abhielt. YouTube hat Millionen Zahnputzlieder auf Lager. Mein Sohn liebte zum Beispiel den Song ZZB Zahnputzsong – ein echter Ohrwurm. Auch Bücher übers Zähneputzen geben oft den Anlass zum Putzen. Es gibt aber auch „Angstmacher-Bücher“, die sollte man vermeiden. Wir haben das tolle Buch „Mein erstes Zahnputzbuch“ (Ravensburger Verlag).
Ich finde Schallzahnbürsten am effektivsten
Vielleicht liegt es aber auch an der Zahnbürste? Wir haben von der händischen Zahnbürste über die elektrische Zahnbürste bis zur Schallzahnbürste (welche mein Sohn bis heute nutzt) alles ausprobiert. Ich (und auch meine Zahnärztin) finde die Schallzahnbürste am effektivsten. Ganz kleine Kinder würde ich aber nicht alleine damit putzen lassen. Es besteht die Gefahr, dass sie sich verletzen. Ab etwa drei Jahren hat mein Sohn begonnen, damit selbst zu putzen. Außerdem gibt es Unmengen an verschiedenen Zahnpasten. Geschmäcker sind verschieden, am besten ist es, das Kind ausprobieren und entscheiden zu lassen.
Und ganz wichtig: einen achtsamen Zahnarzt/ eine achtsame Zahnärztin suchen. Ich habe eine geniale Zahnärztin gefunden, welche sehr achtsam mit meinem Sohn war. Sie ermöglichte ihm anfangs einfach nur das Arztzimmer zu erkunden. Beim nächsten Termin fragte sie wieder, ob er auf den Zahnarztstuhl wolle (beim ersten Termin verneinte er). So begann er ihr nach und nach zu vertrauen. Inzwischen hat er kein Problem mehr. den Mund zu öffnen und sich hineinschauen zu lassen. Sie erklärte ihm mit einem riesigen Gebiss, wie das Zähneputzen vor sich gehen soll. Mein Sohn war beeindruckt und putzte wie verrückt, bis die Sanduhr, die sie ihm schenkte, abgelaufen war.
"Wir sind keine Gegner mehr"
Kinder, die sich schon ein bisschen ausdrücken können, würde ich fragen: „Wie können wir das Zähneputzen für dich leichter machen?“ Ich würde dranbleiben und immer wieder Vorschläge machen. Nicht mit der Haltung „Das muss sein“, sondern „Es ist mir so wichtig, dass deine Zähne gesund bleiben.“ Mit der Haltung „Das muss jetzt sein“ verlieren wir die liebevolle Verbindung zu unserem Kind. Wir behandeln es wie ein Objekt, mit dem man machen kann, was man will. Mit der inneren Haltung „Ich will mit dir gemeinsam einen Weg finden, weil du (und somit die Gesundheit deiner Zähne) mir wichtig bist",kommt eine ganz andere Qualität rein. Wir sind keine Gegner mehr, sondern auf der gleichen Seite!
Die Autorin bloggt unter herzensglueckskind.com zum bindungs- und beziehungsorientierten Umgang mit Kindern , hat einen Sohn und arbeitet als Elterncoach.
Andrea Schiefer