Familie: Dem Gespür auf die Sprünge helfen
Die Signale von Babys zu deuten, fällt oft schwer. Nicht immer reicht das Bauchgefühl. Ein Training hilft, eine gute Bindung aufzubauen.
Mia* hat Hunger. „So, ich nehme dich jetzt gleich hoch und setze dich in deinen Stuhl“, kündigt ihre Mutter an. „Jetzt kriegst du dein Lätzchen um. Und dann gibt es Karottenbrei.“ Elena Behrends erklärt ihrer Tochter jeden Handgriff. „Das ist einer der wichtigsten Punkte, die ich im SAFE-Kurs gelernt habe: Viel mit dem Baby sprechen. Und immer alles ansagen, was man gleich macht, auch beim Wickeln und Baden. Damit das Kind weiß, was gleich passiert.“ Mia zerrt jetzt an ihrem Lätzchen und strampelt mit den Beinen. Ihre Mutter lacht entspannt. Und dann darf Mia mit dem Essen manschen. „Das fällt mir schwer, weil meine Eltern das ganz anders gehandhabt haben. Aber im Kurs haben wir gelernt: „Mit Essen spielt man“, sagt die 34-Jährige Juristin.
Dann wird sie ernst und erzählt, dass sie in der Schwangerschaft Bedenken hatte, wie gut sie den Umgang mit ihrem Baby hinbekommen würde. Sie hatte viele Gespräche mit den eigenen Eltern über die Zeit geführt, als sie ein Säugling war. Vieles klang schwierig. Sie wollte, dass es bei ihr einfacher würde. Eine Freundin erzählte ihr von dem Konzept der SAFE-Kurse. „Mein Mann war zuerst nicht so begeistert, dass ich uns da anmelden wollte, er sagte: ,Muss das jetzt schon sein, das lernt man doch instinktiv, wenn das Baby da ist!‘ Aber das Vorgespräch mit Frau Keller hat ihn überzeugt.“
Das Ziel des Kurses: Für eine sichere Bindung sorgen
Seit etwa einem Jahr, seit dem dritten Schwangerschaftstrimester, sind sie und ihr Mann bei dem so genannten SAFE-Kurs dabei: „Das klar definierte Ziel des Kurses ist, für eine sichere Bindung zwischen Eltern und Kind zu sorgen“, sagt Paar- und Familientherapeutin und Soziologin Karola Keller, eine der beiden Kursleiterinnen, die sich nach einer entsprechenden Ausbildung „SAFE-Mentorinnen“ nennen. Die zweite ist ihre Tochter, die Psychologin Linn Keller. Der SAFE-Kurs ist unter den vielen Angeboten, die sich an Eltern von Babys richten, etwas Besonderes. Die meisten anderen Kurse beginnen erst lange nach der Geburt. Der SAFE-Kurs startet in der Schwangerschaft, um die 20. Woche. „Weil wir den Vorlauf brauchen, um den Eltern die Theorie nahezubringen. Mit Beispielen und Filmen schaffen wir ein Bewusstsein für Bindung. Studien haben gezeigt, wer sicher gebunden ist, hat eine positivere Lebensperspektive, ist offener in der Lernfähigkeit, in der Gestaltung von Beziehungen“, sagt Karola Keller. „Wir Menschen sind als biologische Wesen darauf angewiesen, uns mit jemandem zu verbinden.“ Aber in vielen Familien geschieht das nicht etwa so automatisch im ersten Lebensjahr, wie viele glauben. Es gebe bei vielen Eltern die Vorstellung, dass Kinder so schnell wie möglich selbstständig werden und sich möglichst unauffällig verhalten sollten, sagt Karola Keller.
Es soll die Feinfühligkeit trainiert werden
„Viele haben große Angst, ihre Kinder zu verwöhnen. Und die Idee, dass man ein Baby verwöhnt, wenn man es oft auf den Arm nimmt, ist immer noch verbreitet.“ Solche Vorstellungen stehen einer sicheren Bindung im Weg. Karola und Linn Keller nennen die Kurse ein „Feinfühligkeitstraining“, aber auch ein „Präventionsangebot“. Denn: „In Situationen mit kleinen Säuglingen kommen Menschen an ihre Grenzen. Es ist kein Zufall, dass Antischüttelkampagnen immer noch notwendig sind. Oft haben Eltern das Gefühl, das Baby will mich nicht, es lehnt mich ab, wenn es schreit. Solche Projektionen rücken wir zurecht.“
Die beiden Kursleiterinnen sind besonders ausgebildet im Videointeraktionstraining. Die Teilnehmer filmen sich beim Wickeln, Spielen, dabei, wie sie ihr Kind beruhigen. „Es geht nicht um richtig oder falsch“, sagt Karola Keller. „Sondern zum Beispiel darum herauszufinden, warum das Baby in einer bestimmten Situation aus dem Blickkontakt herausgeht. Es gibt Babys mit klarer Mimik, die leicht zu lesen sind.“ Und es gibt andere, bei denen das deutlich schwieriger ist. Grenzen setzen, Nein sagen, sind andere Kurs-Themen, wenn die Kinder etwas älter sind und sich der Kurs dem Ende zuneigt. Vorher geht es etwa ums Schlafen – oder eher „Nichtschlafen“, um das Schreien und die Beruhigung, ums Stillen, die Beikosteinführung.
„Beim Füttern beobachten wir zum Beispiel, welche Signale das Baby aussendet. Ist es tatsächlich Hunger oder geht es eher um Unterhaltung und Gespräch oder das Erkunden des Breis? Wir besprechen mit den Teilnehmern, wie sie angemessen und feinfühlig darauf reagieren“, sagt Karola Keller.
Man lernt, das Kind besser zu verstehen
„Ich hatte große Schwierigkeiten, als unsere Tochter mit Brei gefüttert werden musste“, sagt Frauke Klein. Sie und ihr Mann nehmen wie Familie Behrends ebenfalls an dem aktuellen Kurs teil, ihr Kind ist gerade ein Jahr alt geworden. „Mich hat es schnell auf die Palme gebracht, wenn es nicht geklappt hat. Wir haben dann ein Video davon gemacht und im Kurs gezeigt. Dabei wurde sofort klar, dass es nicht gut war, wenn ich mit grimmigem Gesicht dasaß – es funktionierte so einfach nicht. Die Kursleiterinnen hatten mehrere Tipps, einer davon war, mit mehr Leichtigkeit und Spaß an die Sache heranzugehen.“ Das hat dann gut geklappt. „Man lernt, das Kind besser zu verstehen. Ich kann mir vorstellen, wenn wir den Kurs nicht gemacht hätten, wäre das Essen über einen langen Zeitraum ein schwieriges Thema geworden.“
Philipp Hinrich war schon vor drei Jahren, bei der Geburt seines ersten Kindes, beim SAFE-Kurs dabei, inzwischen hat er schon zwei Kinder – und auch nach Ende des Kurses noch manchmal bei den Mentorinnen um Rat gefragt: „Ich habe in dem Kurs viele Dinge erfahren, die ich sonst nicht wissen würde. Wie viel Macht ich habe, meine Kinder zu beeinflussen – darüber habe ich vorher nie nachgedacht. Wir haben zum Beispiel erklärt bekommen, was man auslösen kann, wenn man ein Baby schreien lässt. Ich hätte nie gedacht, dass es auch mit Erlebnissen in der Kindheit zusammenhängt, wenn man als Erwachsener einen Knacks hat.“ Hinrich ist fest überzeugt, dass seine Kinder so entspannt sind und kaum Wutanfälle hatten und haben, liege daran, dass er im Kurs gelernt hat, sich sehr intensiv mit ihnen zu beschäftigen. „Das ist nicht einfach eine Charakterfrage, wie die meisten Leute meinen. Ich habe mir da sehr viel Mühe gegeben, zum Beispiel ihnen täglich möglichst viel Zeit zu geben, in denen ich völlig darauf verzichtet habe, mein Handy zu benutzen – damit ich mich ganz auf meine Kinder konzentrieren konnte.“
Im Kurs gehe es auch darum, die „eigenen Bindungserfahrungen wachzurütteln“, sagt Kursleiterin Keller. Dazu führen die Mentorinnen ein „Bindungsinterview“ mit jedem einzelnen Elternteil allein. „Denn die eigene Bindungsgeschichte hat eine Auswirkung darauf, wie Menschen mit ihren Babys umgehen. Ängste, Befürchtungen, Hoffnungen.“ In dem Interview geht es etwa darum, wie die eigenen Eltern auf kindlichen Kummer und Schmerz reagierten, welchen Trost sie anboten.
„Wir haben uns von dem Kurs erhofft, dass wir lernen, unsere eigenen Schwachstellen zu finden. Merken, was wir im Alltag als Eltern nicht so gut können“, sagt Frauke Klein und ihr Mann stimmt ihr zu. „Wir hatten vor der Schwangerschaft eine Paartherapie gemacht und dadurch wussten wir, dass wir selbst nicht die besten Bindungserfahrungen gemacht hatten – dann ist auch das eigene Bauchgefühl nicht immer das Beste. Wir haben gedacht: So braucht unser Kind vielleicht später keine Therapie“, sagt Frauke Klein.
Die ersten Videos sorgen für Aha-Erlebnisse
An den Seminarterminen, die noch in der Schwangerschaft stattfinden, sehen sich die Teilnehmer zunächst Videos von fremden Familien an. „Die ersten Videos rufen oft Aha-Erlebnisse hervor“, sagt Linn Keller. „Kontakte zu Babys sind ja für viele eher selten bevor sie eigene Kinder bekommen.“ Im Einführungsvideo sieht man zum Beispiel eine Situation mit Einjährigen, in der sich die Bezugsperson aus dem Raum entfernt – und die Reaktion darauf, wenn sie zurückkommt: „Sicher gebundene Kinder wollen dann getröstet werden, sind auf dem Arm ziemlich am Nachbeben, beruhigen sich aber nach einer knappen Minute wieder“, erklärt Karola Keller. „Unsicher vermeidend gebundene Kinder reagieren oft gar nicht darauf, wenn das Elternteil zurückkommt: Sie spielen konzentriert weiter. Die Bausteine erscheinen als das Wichtigste. Das sind die beliebten Kita-Kinder, die gut funktionieren. Die Kinder regulieren sich über Gegenstände herunter. Wenn man ihren Cortisolspiegel messen würde, käme aber heraus, dass der extrem erhöht ist – und sich auch für längere Zeit nicht senkt.“ Ein hoher Cortisolspiegel ist ein Anzeichen für Stress. Etwa 15 bis 20 Prozent der deutschen Kinder seien unsicher-vermeidend gebunden, schätzt Karola Keller.
Dass so etwas als normal gilt, sieht man auch an der Resonanz zu Filmen wie der „Elternschule“, der vor Kurzem in den Kinos lief und in vielen großen Medien als auch in Elterninternetforen heftig diskutiert wurde. Es ging darin um Kinder mit großen Problemen, etwa beim Essen oder Schlafen, deren Eltern sie in eine Psychosomatische Kinderklinik brachten. Dort werden etwa Schlaftrainings eingesetzt, bei denen kleine Kinder allein in dunklen Räumen die Nacht verbringen müssen. Wenn sie schreien, sieht nur eine Krankenschwester kurz zur Tür herein, die Eltern dürfen nachts nicht zu ihren Kindern. Die Eltern sollen während des Aufenthalts lernen, wieder „Chef“ in der Familie zu sein. Es geht dabei in etwa um das Gegenteil eines „Feinfühligkeitstrainings“, auf sichere Bindungen wird keine Rücksicht genommen. Der Film – und viele positive Kritiken – sahen diese Methode auch als Vorbild für Eltern mit kleineren Problemen als sie in dem Film vorgestellt worden. Als allgemeine Elternschule sozusagen.
Ein Bindungsforscher hat das Konzept entwickelt
Darauf reagierten wiederum Psychologen und Ärzte, die sich mit Bindungstheorien beschäftigt haben, kritisch. Darunter auch der Bindungsforscher Karl Heinz Brisch, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Leiter der Abteilung Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie an der Kinderklinik und Poliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er hat das Konzept für die SAFE-Kurse entwickelt. In Süddeutschland sei das Kursprogramm wesentlich bekannter, sagt Karola Keller. Es gebe auch mehr Kurse dazu. „Wir weichen aber vom Curriculum von Brisch etwas ab.“
Mia ist inzwischen satt und kuschelt sich in die Arme ihrer Mutter. „Jetzt schlafen wir gleich“, sagt Elena Behrends. Die beiden wirken sehr eng miteinander verbunden. „Ich weiß nicht, wo ich wäre, wenn ich nicht den SAFE-Kurs gemacht hätte“, sagt Behrends.
*Die Namen aller Eltern und Kinder sind geändert.
DAS KONZEPT
Das Projekt „SAFE – Sichere Ausbildung für Eltern“ richtet sich an werdende Eltern bis etwa zum siebten Schwangerschaftsmonat. Zu einem Kurs gehören vier Seminare vor der Geburt und acht danach, innerhalb des ersten Lebensjahres des Babys. Die Seminare dauern jeweils vier Stunden und finden meist am Wochenende statt. Die Kurse richten sich auch an Alleinerziehende und getrennt lebend Paare sowie an Eltern, die schon Kinder haben und ein weiteres Baby erwarten.
KURSBEGINN IN BERLIN
Im April startet ein neuer Kurs bei Karola und Linn Keller in der Erziehungs- und beratungsstelle des Diakonischen Werks Reinickendorf, Markstraße 4, Infos unter Tel. 415 25 73. Einen weiteren Kurs bieten die Therapeutinnen Frauke Nees und Katharina Meier demnächst in Mitte an, wann er zustande kommt, ist aber noch nicht klar. Informationen unter Tel. 01575- 8897839 oder 0170-4686584.