Mehr schwere Covid19-Fälle und mehr Tote: „Frage der Zeit, bis in den Krankenhäusern die Zahlen ansteigen“
Die Virologin Isabella Eckerle erwartet auch für Deutschland eine neue Corona-Welle. Eine Hoffnung gibt es aber – auch für sichere Großveranstaltungen.
Die international anerkannte Virologin Isabella Eckerle erwartet auch für Deutschland eine neue Corona-Welle mit einer deutlichen Zunahme schwerer Fälle und wieder mehr Toten. "Wir haben wirklich einen anstrengenden Winter vor uns, wo man nochmal viel nachjustieren muss", sagte die Leiterin des Zentrums für neu auftretende Viruserkrankungen an der Universität Genf dem Tagesspiegel.
Eckerle hatte zuvor mit Christian Drosten an der Universität Bonn zusammengearbeitet - und warnt immer wieder, das Infektionsrisiko durch Kinder zu unterschätzen. "Das Virus hat sich nicht verändert. Die allermeisten von uns hatten es noch nicht und sind nicht immun", wies sie den Eindruck zurück, nur weil es aktuell weniger akute Fälle gebe, sei das Virus weniger gefährlich. Die Muster im benachbarten Ausland würden sich mit Verzögerung auch in Deutschland zeigen.
"Es ist nur eine Frage der Zeit, bis in den Krankenhäusern die Zahlen ansteigen", sagte Eckerle. "Ich habe das zuerst in Florida verfolgt. Wie bei uns auch, ist das Virus dort im Sommer vor allem bei jungen Leuten zirkuliert, aber die Zahl der Patienten in den Krankenhäusern und der Todesfälle blieb niedrig. Es hat dann aber nachgezogen."
Von den Jungen sei das Virus weitergewandert in die höheren Altersgruppen. "Die stecken sich an, landen nach wenigen Wochen im Krankenhaus und wieder ein paar Wochen später sterben sie." Das gleiche sehe man nun in Spanien, Israel und Frankreich.
Die große Hoffnung, um Infektionsketten schneller zu durchbrechen, seien neue Corona-Schnelltests, die in wenigen Wochen bereit stehen könnten. "Es gibt jetzt Kandidaten, die die Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erfüllen könnten. Sie scheinen empfindlich genug zu sein, um Personen mit hoher Viruslast rauszufischen.“
Durch neue Corona-Schnelltests das Infektions-Risiko senken
Die Virologin nannte den aktuellen Test mit Zuschauern in Fußball-Stadien in Deutschland akzeptabel. „Wenn es demnächst Schnelltests gibt, können die zusätzlich helfen, das Risiko zu begrenzen“, betonte Eckerle. „Wenn es sie in ausreichender Zahl gibt, könnten sie auch bei Großveranstaltungen Risiken minimieren." Sie rechne damit, dass man diese Tests im Winter bereits anwenden könne.
Das Wissen sei sehr dynamisch. "Ein Problem ist aber auch, dass es jetzt plötzlich an allen Ecken und Enden Corona-Experten gibt“, kritisierte sie viele Fehl- und Falschinformationen. Es sei auch ein Irrtum zu glauben, „wir könnten uns wieder alle Freiheiten erlauben, wenn wir nur genug testen und Kontakte nachverfolgen".
Das sehe sie schon aus der Laborperspektive kritisch. "Wir sind am effektivsten, wenn wir nicht am Anschlag arbeiten müssen. Dann sind die Befunde schnell da, und die Kontakte können quasi in Echtzeit nachvollzogen werden. Aber wenn wegen Überlastung die Befunde erst nach fünf, sechs Tagen vorliegen, macht das Nachverfolgen fast keinen Sinn mehr, weil die nächsten Ansteckungsketten längst in Gang gesetzt sind."
[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Krise live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat sich angesichts der überall steigenden Corona-Zahlen besorgt gezeigt, aber vor Panik gewarnt. "Aktuell kann unser Gesundheitssystem gut mit der Situation umgehen, aber die Dynamik in ganz Europa besorgt", schrieb Spahn am Samstag bei Twitter. Mit über 2200 Neuinfektionen an einem Tag wurde auch in Deutschland der höchste Wert seit April erreicht.
Spahn appellierte an die Bürger, Abstand zu halten, Mund-Nase-Schutz zu tragen und Hygiene-Regeln zu beachten. Der Höhepunkt bei den täglich gemeldeten Neuansteckungen hatte Ende März/Anfang April bei mehr als 6000 gelegen.
Oberstes Ziel der Bundesregierung ist es, die Wirtschaft und den Handel am Laufen und Schulen und Kitas offen zu halten. Zudem wurden die Kapazitäten an Intensivbetten deutlich aufgestockt und regionale Hot-Spot-Strategien sollen neue Infektionsherde durch regionale Einschränkungen schnell eindämmen.
Aktuell befinden sich bundesweit nur 263 Covid-19-Patienten in Intensivbehandlung, davon müssen 144 beatmet werden. Die meisten schweren Fälle gibt es in Nordrhein-Westfalen (83) und in Bayern (40). Aktuell gibt es bei 30.571 verfügbaren Intensivbetten 8944 freie Betten. Zudem gibt es noch eine Notfallreserve. Demnach könnten laut des Intensivregisters binnen sieben Tagen zusätzliche 12.280 Intensivbetten aufgestellt werden.
[Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version des Textes war bei der Zahl der schweren Fälle in Intensivbehandlung Bayern versehentlich doppelt genannt. Es geht aber um Bayern und Nordrhein-Westfalen mit den entsprechenden Zahlen. Wir haben den Fehler korrigiert.]
Bisher gab es laut RKI in Deutschland insgesamt 270.070 Covid-19-Fälle und 9384 Todesfälle. Unter Deutschlands Nachbarländern ist derzeit besonders Frankreich stark betroffen. Zuletzt meldeten die Behörden einen neuen Höchstwert von 13.215 Neuinfektionen binnen 24 Stunden. Einreisebeschränkungen und Grenzkontrollen wie im Frühjahr plant die Bundesregierung momentan aber nicht.
Was der Mensch mit dem Pandemieausbruch zu tun hat
Die Virologin Eckerle verweist auch auf eine Mitschuld des Menschen beim Ausbruch so einer Pandemie. Eigentlich habe jeder Erreger und jeder Wirt seinen Platz im Ökosystem. "Wenn man das stört, kommt das System durcheinander. So kann sich ein Virus auf den Menschen übertragen."
Es gebe einige Labore, auch das im chinesischen Wuhan, die schon lange an Sars- und Sars-verwandten Viren arbeiteten. "Schon 2015 wiesen sie in einer Publikation darauf hin, dass Personen in einer ländlichen Region in China Antikörper gegen ein neues, mit Sars verwandtes Virus haben. Und man hat dort in Höhlen Fledermausarten entdeckt, die verschiedene Sars-Varianten in sich trugen."
Man habe sozusagen alle Bausteine, die das erste Sars hatte, dort in den Fledermäusen gefunden, nicht das volle Virus, sondern einen Teil in der einen Fledermaus, den anderen Teil in der anderen Fledermaus. Das sei wie so ein Baukasten – je nachdem welches Tier von welchen Viren befallen wird, puzzele es sich zusammen und entwickele zufällig Eigenschaften, die auch den Sprung in eine andere Art ermöglichen können.
[Abonnenten von T+ können das Interview im Wortlaut hier lesen: Genfer Virologin warnt vor Leichtfertigkeit – „Das treibt mich in den Wahnsinn“]
"Wenn man die Fledermäuse da belässt, wo sie hingehören, passiert nichts. Dann gibt es keinen Druck, ihr Reservoir zu verlassen. Das beobachten wir zum Beispiel auch bei Ebola: Wenn man Regenwälder abholzt, steigt die Wahrscheinlichkeit eines Ausbruchs", betonte Eckerle. Ihre Schlussfolgerung für die Zukunft: "Wir müssen diese Ökosysteme erhalten. Wir sollten einfach nicht zu viel Kontakt mit Wildtierarten haben. Dazu gehört auch, dass man keine Nutztierfarmen in der Nähe solcher ungestörter Habitate baut."
Ein Risikofaktor, der beim ersten SARS-Ausbruch und vielleicht auch bei diesem Sars-Virus eine Rolle spiele, sei die Nutztierhaltung und die industrielle Tierhaltung für die Fleisch- oder Pelzproduktion.
"Es gibt bei den Erregern eine Variante, die bei Wildtieren vorkommt. In der Regel springt die nicht direkt von dem Tier auf den Menschen über, sondern braucht immer nochmal einen Zwischenwirt, der meistens näher mit dem Menschen in Kontakt ist – dieser funktioniert dann quasi wie eine Brutstätte. Zum Beispiel Tiere für die Pelzproduktion, über die dann der Sprung in den Menschen erfolgt."