Berliner Haftanstalt: Flucht aus der JVA Tegel: Sicherheitsmängel, Schlampereien, Personalmangel
Nach der Flucht eines Gewalttäters aus der JVA Tegel fehlt immer noch jede Spur von ihm. Wie konnte das passieren?
Die Flucht des Gewalttäters Hamed Mouki aus der JVA Tegel wurde durch eine Mischung aus baulichen Mängeln, Personalnot und groben Fehlern der Bediensteten möglich. Zwei Tage nach der Flucht ist der 24-jährige Libyer trotz intensiver Suche durch die Intensivfahnder des Landeskriminalamtes nicht gefunden worden. Klar ist inzwischen, dass der 24-Jährige sich etwa drei Stunden unter einem Lastwagen festgeklammert hat, bis dieser um 20 Uhr das Gefängnis durch das Tor 2 verließ. Dabei wurde zwar die Ladefläche kontrolliert, die Person unter dem Lastwagen aber trotz des Einsatzes von Spiegeln übersehen.
Auch bei der Zählung um 17.35 Uhr wurde übersehen, dass der Häftling verschwunden ist. Bei der Zellenkontrolle ließ sich die Bedienstete davon täuschen, dass Mouki auf seinem Bett eine Person unter der Bettdecke nachgebildet hatte. Als Hausarbeiter konnte er zahlreiche Klopapierrollen für diesen Trick horten. Vorschrift ist, dass die Zellentüren bei Zählungen geöffnet werden. Widersprüchliche Angaben gibt es, ob es um 21.15 Uhr eine weitere Zellenkontrolle gab.
Intern wird gegen die Bediensteten ermittelt. Dazu gehört ebenso der Wärter, der nicht bemerkte, dass Mouki gegen 17 Uhr vom Freistundenhof über den Zaun kletterte. Videokameras gibt es dort nicht. Kürzlich hatte ein Sprecher von Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) auf Anfrage des Tagesspiegels dies so begründet: „Durch die anwesenden Bediensteten ist keine Kameraüberwachung nötig und gewünscht, da Kameras keine Menschen ersetzen.“ Mangelhaft ist aber auch der Zaun, den ein Insider als „besseren Gartenzaun“ beschrieb – etwa mannshoch ohne Stacheldraht. In der neuen Berliner Justizvollzugsanstalt Heidering sind dagegen die Freistundenhöfe mit Natostacheldraht gesichert, ebenso in Tegel der Hof der Sicherungsverwahrten, die in Haus 7 untergebracht sind.
Libyer fand in kurzer Zeit alle Schwachstellen
Nach dem Sprung über den Zaun war der Libyer zwar immer noch auf dem Anstaltsgelände, er hatte aber nur eine kurzen Fußweg bis zum Lastwagen zurückzulegen. Der Lkw gehört der Firma „Massak“, die Einkäufe der Gefangenen abliefert. Die Firma aus Oberfranken beliefert nach eigener Darstellung mittlerweile deutschlandweit 128 Gefängnisse mit Lebensmitteln und Drogerieartikeln, die sich Gefangene zuvor auf Bestellscheinen angekreuzt haben. Tegel beliefert Massak jeden zweiten Mittwoch. Nachdem der Laster am Haus 2 seine Waren abgeliefert hatte, steuerte er auf dem weitläufigen Gelände von Tegel noch andere Häuser an.
Gestoppt wurde der Laster von der Polizei erst am Donnerstag in Sachsen-Anhalt – nachdem das Fehlen von Mouki bei der so genannten „Lebendkontrolle“ morgens um 6 Uhr entdeckt worden war. Mit Spürhunden wurde festgestellt, dass der Gefangene tatsächlich durch die Schleuse entkommen war und sich nicht auf dem Gelände der Anstalt versteckt hatte, etwa in der Kanalisation.
Erstaunlich sei, dass der Libyer all diese Schwachstellen in so kurzer Zeit auskundschaften konnte. „Der ist clever“, hieß es. Wie berichtet, wurde er erst im Oktober 2017 aus der Untersuchungshaft in Moabit nach Tegel verlegt. Dort sollte er bis Oktober 2022 Haftstrafen wegen Einbruchdiebstahls und räuberischer Erpressung verbüßen.
3 Stunden in der Kälte hing er unter dem Lastwagen
Ebenso erstaunlich sei, dass der junge Mann etwa drei Stunden in der Kälte unter dem Lastwagen hing. Ob er wusste, dass in der Schleuse schluderig kontrolliert wird, ist unklar. Nach Informationen des Tagesspiegels wurde bei der vor wenigen Jahren erfolgten Erneuerung der Schleuse am Tor 2 aus Kostengründen darauf verzichtet, eine Grube einzubauen, wie sie in Autowerkstätten üblich ist. In der Haftanstalt Heidering werden die Unterböden aller Fahrzeuge bei der Einfahrt fotografiert, ebenso bei der Ausfahrt. Ein Computer vergleicht beide Aufnahmen auf Abweichungen. Erst wenn alles ordnungsgemäß ist, öffnet sich die Schleuse.
Anstaltsintern war am Freitag von einem „Supergau“ die Rede. Seit vielen Jahren ist es keinem Gefangenen mehr gelungen, die Tegeler Mauern zu überwinden. Zuletzt waren im Dezember 2017 vier Männer durch ein Loch aus der Mauer in Plötzensee entkommen, 2015 ein Gefangener aus der Jugendstrafanstalt entflohen und 2014 zwei Häftlinge aus Moabit. Der letzte Ausbruch aus Tegel geschah 2003. Damals entkam Raimund S. auf exakt gleiche Weise wie Mouki – hatte aber Pech. Als er an der Holzhauser Straße beim ersten Stopp unter dem Laster hervorkrabbelte, stand dahinter eine Justizangestellte mit ihrem Auto auf dem Heimweg. „Daraus wurden damals keine Konsequenzen gezogen“, wird in Tegel kritisiert. Die letzte „echte“ Flucht über die Mauer datiert von Juni 1992 – der verurteilte Mörder Klaus-Dieter Jahn hatte sich einen Nachschlüssel gefertigt, als auch eine 5-Meter-Leiter gebaut.
Personalmangel erleichterte die Flucht
Erleichtert wurde Moukis Flucht durch den Personalmangel. Die von der Senatsverwaltung für 2017 erwartete Tiefpunkt beim Personal ist offenbar immer noch nicht erreicht, hieß es intern. In Tegel sind von 389 Planstellen im Vollzugsdienst derzeit nur 356 besetzt. Von denen sind 30 Mitarbeiter Dauerkrank. Fünf Bedienstete wurden zudem von der Justizverwaltung abgeordnet, um in der Haftanstalt Moabit Personallücken zu stopfen. Weitere Mitarbeiter aus der JVA Tegel bewachen derzeit in Plötzensee den Bau eines Zauns, durch den Häftlinge entwichen waren. „Eine Beruhigungspille für die Öffentlichkeit“, lästerte ein Justizangestellter. Bekanntlich steht Justizsenator Behrendt nach zahlreichen Entweichungen aus dem offenen Vollzug unter Druck. Sein Sprecher bestätigte die Abordnungen, versicherte aber, dass weder Beamte aus Moukis Station in Haus 2 noch von der Tor-Schleuse dazu gehörten.
Jörn Hasselmann