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dpatopbilder - Ein Poster mit der Aufschrift «Vive la France! - Vive l'Europe! - Vive l'Humanite!» (Es lebe Frankreich! - Es lebe Europa! - Es lebe die Menschlichkeit!) liegt am 14.11.2015 von weißen Rosen umrahmt vor der Botschaft von Frankreich auf dem Pariser Platz in Berlin. Bei einer Serie von Terroranschlägen in Paris wurden mindestens 120 Menschen getötet. Foto: Gregor Fischer/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++
© dpa
Update

Nach den Anschlägen in Paris: Fassungslos am Brandenburger Tor

Am Brandenburger Tor versammelten sich am Sonnabend immer mehr Menschen, die um die Opfer von Paris trauerten.

Alles scheint an diesem Samstagvormittag wie sonst am Pariser Platz, jedenfalls auf den ersten Blick: Vorbeihastende Passanten, staunende Touristengruppen, die das Brandenburger Tor und sich selbst fotografieren, der Leierkastenmann, dessen heute irgendwie unpassend muntere Weisen herüberwehen. Nur vor der Französischen Botschaft hat sich das Bild gewandelt. Noch in der Nacht hat die Polizei das Platzdrittel vor dem Gebäude weiträumig mit rotweißen Gittern abgesperrt, ein halbes Dutzend Beamte steht und hält Wache, zwei Mannschaftstransporter stehen geparkt am Rande.

Fernsehteams, Radioreporter und Zeitungkollegen haben sich eingefunden und beobachten, wie die Zeugnisse des Mitgefühls immer zahlreicher werden, die Fläche aus Blumen und Kerzen vor dem Gitter sich langsam vergrößert.

Immer wieder treten Menschen heran, legen ihre Sträuße nieder, verharren kurz, bevor sie sich abwenden. Manch einer ist nicht zum ersten Mal hier aus solch einem traurigen Anlass. Marion Gstettenbauer etwa, Mutter von zwei sie begleitenden Söhnen so um die 15, 16 Jahre, war schon nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ an der Botschaft. Ihr jüngerer Sohn weilte erst vor wenigen Wochen einige Zeit für ein Praktikum in Paris, die Familie hatte ihn dort besucht und bei Freunden gewohnt. Denen gehe es gut, das konnte sie schon in der Nacht in Erfahrung bringen, sagt die Mutter. Angst?

"Ich empfinde keine Angst"

Nein, die empfindet sie jetzt nicht in Berlin, sie könne sich das auch gar nicht leisten, müsse täglich mit U- und S-Bahn unterwegs sein. Und eine kurzschlüssige Verbindung zwischen der aktuellen deutschen Flüchtlingspolitik und den Anschlägen in Paris mag sie auch nicht ziehen, lehnt eine Schließung der Grenzen ab, sondern sieht die Flüchtlingswelle als „Herausforderung, der wir uns stellen müssen“.

Da bekommt man, wenn man sich umhört, auch ganz anderes zu hören, und manchmal prallen die Meinungen selbst in Beziehungen aufeinander. In einem Paar um die 45 etwa, das ebenfalls gekommen ist, um mit Blumen ihr Mitgefühl zu zeigen. Er berufsbedingt Afghanistan-erfahren und vertraut mit solchen Szenen wie jetzt vor der Botschaft. Es sei „sprachlos, wie die deutschen Eliten total versagen“, sagt er, kann nicht verstehen, dass man die Kontrollen an der Grenze, die er trotz allem für möglich hält, praktisch aufgegeben habe. Sie dagegen sieht in den hereinströmenden Menschen eine Folge des Terrors, in Syrien, Irak und nun eben auch in Paris, als Flüchtlinge also, nicht als teilweise potentielle Terroristen.

Das Unvorherstellbare

Eine Frau auf einem Rennrad ist herangerollt und verharrt vor dem Blumenfeld, hat von dem Anschlag aus ihrem iPad erfahren, wollte es erst nicht glauben: „Ist das von heute?“ Es sei der Horror, und jetzt wie gewohnt nach Hause zu fahren und in Ruhe zu frühstücken, das könne sie sich überhaupt nicht vorstellen. Das Stirnrunzeln über den Umgang mit den Flüchtlingsströmen, die Ablehnung der fast unkontrollierten Ein- und Durchreise, der Vorwurf gegen Merkel, „alle reinzulassen“, ist das eine, was man in Gesprächen mit Passanten zu hören bekommt, das andere ist das Bekenntnis, sich nicht mehr ganz sicher zu fühlen in der Stadt. „Ein mulmiges Gefühl“, so nennt es ein mittelaltes Paar aus dem Voigtland, das gerade das Holocaust-Mahnmal besichtigt. Es sei ja doch nur eine Frage der Zeit, bis Ähnliches wie in Paris bei uns passiere. Und ein älteres Paar aus der Gegend um Frankfurt am Main, das sich gerade gegenseitig vor dem kaugummibeklebten Mauerrest am Potsdamer Platz fotografiert hat, spricht von einem „beklemmenden Gefühl, gerade an einem besonderen Ort wie diesem“. Sie seien extra früh aufgestanden, um den Platz zu besuchen, wenn er noch nicht von Menschen überfüllt sei.

Aber irgendwann werde es auch hier... Doch dann holt sie der Berliner Alltag wieder ein, ein Mann nähert sich, offenkundig im Tourismusgewerbe tätig. „Hier, sehen Sie die Linie auf dem Boden? Dort war Osten, hier Westen.“ Das waren noch klare Verhältnisse.

Schon in der Nacht versammelten sich die Trauernden

Blumen und Kerzen auf dem Pariser Platz: Noch in der Nacht zu Sonnabend versammelten sich Trauernde vor der Französischen Botschaft in Berlin.
Blumen und Kerzen auf dem Pariser Platz: Noch in der Nacht zu Sonnabend versammelten sich Trauernde vor der Französischen Botschaft in Berlin.
© Lukas Schulze/dpa

Antoine findet keine Worte. Er war in Paris, als Anfang des Jahres zum ersten Mal der islamistische Terror die französische Hauptstadt erschütterte. Aber das hier, sagt er, ist "schlimmer als Charlie Hebdo". Der 23-Jährige steht jetzt auf dem Pariser Platz in Berlin und schüttelt immer wieder den Kopf. "Warum? Warum? Warum?"

Antoine gehört zu einer Gruppe junger Franzosen, die in der Nacht zu Sonnabend spontan zu ihrer Botschaft am Brandenburger Tor gekommen sind. Sie sind als Erasmus-Studenten in Berlin oder, wie Antoine, als Praktikanten. Schon im Januar hatten Trauernde hier Kerzen aufgestellt, Blumen und damals auch Zeichenstifte niedergelegt. Nun sind sie nicht mehr so weit vorgelassen worden, die Polizei hat die nördliche Flanke des Platzes komplett abgesperrt. Vor der Französischen wie auch der US-Botschaft gegenüber sind Mannschaftswagen postiert. Ein Sprecher berichtet von verschärften Sicherheitsmaßnahmen an sensiblen Orten in der Stadt. Die Lichter der Trauernden stehen mitten auf dem Pflaster.

Sie waren in einer Bar, um sich das Fußballspiel zwischen Frankreich und Deutschland anzuschauen, erzählt Antoine, als auf ihren Smartphones die ersten Meldungen von Schießereien aufleuchteten. "Was da gerade in Paris passiert, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen." Immerhin das weiß er: "Meine Familie und Freunde sind sicher."

Mehr will er gerade gar nicht wissen. "Ich habe Angst, nach den letzten Nachrichten zu suchen." Sie stehen einfach zusammen, ein gutes Dutzend, stützen sich gegenseitig in ihrer Trauer, ihrem Schock, ihrer Ratlosigkeit. "Wir sind nicht da als Franzosen", sagt Antoine, sondern als Europäer und Weltbürger." Diese Tat gehe alle Demokraten an.

Sie singen die europäische Hymne, auf Deutsch und Französisch

Auch Berliner stehen an ihrer Seite, haben mit ihnen die "Internationale" gesungen, die "Marseillaise" und die europäische Hymne, "Freude, schöner Götterfunken". "Auf Französisch und Deutsch", erzählt Ellinor Trenczek. Die Studentin ist mit ihren Eltern und ihren beiden Brüdern da. "Wir wollen zeigen, dass es auch hier Freunde Frankreichs gibt." Am Abend waren sie getrennt in der Stadt unterwegs. Als die ganze Familie um Mitternacht wieder zu Hause war, hatten sie diesen spontanen Impuls. "Dann sind wir einfach losgefahren." Inzwischen ist es zwei Uhr. Ausharren, auch das ist ein Zeichen.

Ellinors Mutter Ina Czyborra ist für die SPD im Abgeordnetenhaus. Am Sonnabend wollen die Sozialdemokraten im BCC am Alexanderplatz ihren Landesparteitag abhalten. Der steht nun unter ganz anderen Vorzeichen.

Im Laufe des Tages werden sich vor allem wieder Berliner auf dem Pariser Platz einfinden. Ex-Piraten-Vorstand Jan Zimmermann hatte für 16 Uhr über Facebook zu einer Mahnwache aufgerufen. Das Gebot der Stunde: "Solidarität mit Paris".

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