Spendenserie "Menschen Helfen!": Familienersatz im Schutzraum
Psychisch kranke Frauen haben oft Schwierigkeiten, stabile Beziehungen zu Partnern, Eltern oder Kindern aufrecht- zuerhalten. Ein Projekt der Gebewo hilft ihnen – und bittet um Spenden.
Im Gruppenraum des sozialen Treffpunkts für psychisch kranke Frauen in Oberschöneweide sitzt eine junge Frau Anfang 30. Nele, deren echten Namen wir hier zu ihrem Schutz nicht nennen möchten, hat gerade den Computer angeworfen. Auf einer Immobilienseite tippt sie die Angaben für ein Wohnungsgesuch ein. „Zwei Zimmer. Das wäre ein Traum“, sagt sie. „Dann könnte ich noch eine Spielecke für meine Tochter einrichten.“ Sie zieht ihr Handy aus der Tasche und präsentiert stolz das Foto eines fünfjährigen Mädchens.
Bis auf Nele ist der Aufenthaltsraum, mit Kicker und Sofaecke, heute recht leer, obwohl Donnerstag eigentlich immer Gruppentag ist. Dabei haben die Mitarbeiterinnen den Treffpunkt extra schön geschmückt. In einer Ecke steht ein Tannenbaum mit türkisfarbenen Kugeln, auf dem Tisch stehen Spekulatius und heißer Kaffee. Sport, Yoga mit Entspannungsübungen, Weihnachtsbasteln und gemütliches Beisammensein – das alles steht heute auf dem Programm. Dass bisher kaum jemand erschienen ist, wundert die Mitarbeiterinnen aber nicht. „Weihnachten ist bei uns eher Krisenzeit“, erklärt Sozialarbeiterin Katja Köhler. „Da ziehen sich die meisten unserer Klientinnen zurück“. Es finden dann eher Einzelgespräche im Büro der Einrichtung in der Schillerpromenade statt, bei denen viele Tränen fließen, auch mal die Wut herausbricht. „Starke Nerven und einen langen Atem“ bräuchten sie und ihre Kolleginnen momentan, sagt Katja Köhler. Denn Weihnachten ist eigentlich das Fest von Nähe und Geborgenheit – und die Frauen, die hierherkommen, merken jetzt am allerdeutlichsten, was ihnen auch im Rest des Jahres fehlt. Einsam sind sie, da ihnen eine Depression oder andere seelische Erkrankung den Zugang zu einem geselligen Beisammensein verschließt. „Viele der Frauen brechen Beziehungen zu anderen Personen ab, die ihnen guttun, weil sie Nähe nicht ertragen können“, sagt Köhler. Denn sie sind traumatisiert. Viele haben Erfahrungen in gewalttätigen Beziehungen gemacht.
Es gibt eine verdeckte Obdachlosigkeit von Frauen
Das Projekt des Sozialträgers Gebewo, dessen offizielle Bezeichnung „therapeutisches Verbundwohnen“ lautet, bietet Frauen wie Nele neben der Unterstützung im sozialen Treffpunkt auch Wohnraum an. „Es gibt eine verdeckte Wohnungslosigkeit von Frauen, die in abhängigen Beziehungen leben“, erklärt Conni Ruhland. Sie ziehen für eine Gegenleistung bei Männern ein, verpflichten sie sich zu Sex oder anderen Dienstleistungen, erleiden Gewalt oder sonstige Demütigungen. „Es gab Frauen, die dürften die Wohnung nicht verlassen und wurden von ihren Männern zu Hause eingeschlossen“, sagt die Sozialpädagogin. Und dann gibt es die Frauen, die sich einfach nicht von ihrem Partner trennen können, obwohl die Beziehung sie langsam zerstört.
Auch Nele hätte leicht auf der Straße landen können. Nach einem kurzen Aufenthalt im Obdachlosenheim fand sie über das Projekt eine betreute Wohngemeinschaft. Da es ihr nun besser geht und ihr das elf Quadratmeter große Zimmer zu klein ist, sucht sie jetzt nach einer eigenen Wohnung. Auch eine Umschulung zur Einzelhandelskauffrau möchte sie bald beginnen.
Nele ist an diesem Tag guten Mutes. Auch wenn es mit der Wohnungssuche nicht allzu gut klappt. Sie findet nämlich nur Ein-Zimmer-Apartments – für die maximal 500 Euro, die sie zur Verfügung hat. Mehr zahlt das Jobcenter nicht. Aber auch damit gäbe sich Nele notfalls zufrieden. Ihre fünfjährige Tochter wohnt ohnehin nicht bei ihr. Sie kommt nur gelegentlich zu Besuch und wächst ansonsten bei den Großeltern ihres Ex-Freundes auf. Nele hat das Sorgerecht aufgrund ihrer psychischen Probleme freiwillig abgegeben. Sie leidet an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Manche der Frauen ritzen sich oder verletzen sich selbst
Menschen wie Nele fällt es schwer, stabile Beziehungen aufzubauen. Depressive Verstimmungen und ein schlechtes Selbstbild gehören zu dem Krankheitsbild dazu. Sehr starke Selbstzweifel führen dazu, dass sich die Personen selbst verletzen. Manche Frauen, die in die Einrichtung in Treptow-Köpenick kommen, ritzen sich. Nele trank. In ihrem Leben hatte sie viele Tiefpunkte. Ihre emotionalen Ausbrüche erträgt nicht jeder. Ihr Ex-Freund, der Vater ihrer Tochter, setzte sie vor die Tür. „Als er mich kennenlernte, wusste er nichts von meiner Krankheit. Als die erste Krise kam, war schnell klar, dass er damit nicht umgehen konnte“, erzählt Nele ganz gefasst.
Neben ihr steht jetzt Sozialpädagogin Conni Ruhland. Sie geht mit ihr die Wohnungsanzeigen durch. „Das hört sich doch ganz gut an. Hier könntest du doch mal anrufen!“, ermuntert sie Nele. Conni Ruhland ist Neles Bezugsperson beim therapeutischen Verbundwohnen, außerdem ist sie Suchttherapeutin. Nele macht gerade eine Alkoholentgiftung durch. „Momentan sprechen wir viel darüber, wie Nele den Kontakt zu ihrer Tochter verbessern kann“, sagt Conni Ruhland. Zu Terminen beim Jugendamt, vor denen Nele meist große Angst hat, begleitet die Sozialarbeiterin ihren „Schützling“.
Insgesamt sind es 16 Frauen, die regelmäßig zu Beratungsgesprächen und anderen Aktivitäten bei Verbundwohnen vorbeikommen. Der Treffpunkt ist für sie auch eine Art Familienersatz. Wie Nele machen alle von ihnen eine psychische Erkrankung durch. Beziehungen zu Partnern, Freunden und Familienmitgliedern haben sie häufig abgebrochen.
Die Mitarbeiter bezeichnen den Ort in der Schillerpromenade als „Schutzraum“. Ihr siebenköpfiges Team besteht aus zwei Sozialarbeiterinnen, einer Krankenschwester, einer Psychologin, einer Kunsttherapeutin, einer Erzieherin und einer pädagogischen Mitarbeiterin. Dass hier nur Frauen arbeiten, ist kein Zufall. „Viele Frauen, die zu uns kommen, haben zuvor Gewalterfahrungen mit Männern gemacht“, erklärt Sozialarbeiterin Katja Köhler. Die Anwesenheit eines Mannes könnte einige von ihnen stark aufwühlen.
Jeden Morgen aufstehen, nicht alle schaffen das alleine
Ihre Therapien bekommen die Frauen allerdings woanders. Alle sind in ärztlicher Behandlung. „Wir kümmern uns darum, dass die Frauen ihren Alltag besser organisieren können“, sagt Conni Ruhland. Anträge für das Jobcenter ausfüllen, Behördendeutsch übersetzen, Rechnungen bezahlen, bei Einkäufen und der Haushaltsführung helfen oder die Frauen zu schwierigen Gesprächen bei Ämtern und Ärzten begleiten – das alles sind Aufgaben, die die Mitarbeiterinnen gemeinsam mit ihren Klientinnen ausführen. „Meistens fangen wir damit an, dass wir mit den Frauen einen Wochenplan erstellen, damit sie überhaupt irgendetwas schaffen“, sagt Conni Ruhland.
Manche würden aufgrund ihrer Krankheit noch nicht einmal morgens aufstehen und den ganzen Tag alleine in ihrer Wohnung verbringen. Sie scheuen die Nähe, meiden den Kontakt zu anderen Leuten, und wenn sie einen Partner finden, dann ist es meistens eine Person, die ihnen schadet. Vor allem die Frauen, die wie Nele an Borderline leiden, bringen dieses selbstzerstörerische Verhalten mit. Warum sucht sich eine Frau, die schon in ihrer Kindheit Gewalterfahrungen gemacht hat, einen Mann, der sie schlägt? Warum lässt sich eine empfindsame Frau mit einem fiesen Typen ein? Diese Fragen stellten sie sich hier immer wieder, erzählen die Sozialarbeiterinnen.
Sie arbeiten dennoch tagtäglich an dem Ziel, dass die Frauen früher oder später ein selbstbestimmtes Leben führen können. Eine eigene Wohnung finanzieren können, einer Arbeit nachgehen und im Idealfall auch wieder beziehungsfähig werden.
Zu alldem gehört aber auch unbedingt, dass die Frauen ein neues Selbstwertgefühl aufbauen und auch mal Spaß haben. Was ihnen dabei hilft, konnten die Mitarbeiterinnen in den letzten Jahren herausfinden. Das sind vor allem Sport, gemeinsame Ausflüge, Basteln und Malen zusammen mit der Kunsttherapeutin. Wie andere Sozialverbände erhält die Gebewo für ihre Dienstleistungen verschiedene öffentliche Finanzierungen. Personalkosten und die Raummiete sind damit abgedeckt, aber für die Freizeitaktivitäten, die die Frauen psychisch so sehr stärken, fehlt Geld im Budget. Damit die Sozialarbeiterinnen diese Aktivitäten noch weiter ausbauen können, haben sie sich bei der Tagesspiegel-Spendenaktion beworben und bitten um Spenden für das Projekt. Zu ihren Wünschen zählen unter anderem eine Tischtennisplatte, Fahrräder für Ausflüge in die Wuhlheide und, ganz wichtig: ein Boxsack. „Damit sich die Wut der Frauen nicht mehr nach innen, sondern auch nach außen richten kann.“