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Bei Lichte betrachtet. Im Herbst wächst die Angst vieler Autofahrer, unbeleuchtete Radler zu übersehen. Doch die meisten Unfälle haben andere Ursachen.
© Doris Spiekermann-Klaas

Massenhaft Knöllchen für Falschparker: Berlin schafft freie Bahn fürs Fahrrad

Die Berliner Behörden gehen in diesem Jahr massiv gegen Falschparker vor allem in Ladezonen und auf Fahrradspuren vor. Der nächste Schwerpunkt ist das gefährliche Abbiegen.

Allein bis Ende Juli sind fast 330 000 Anzeigen gegen Falschparker in Ladezonen und auf Fahrradwegen geschrieben worden, davon knapp 250 000 von den Ordnungsämtern und 80 000 von der Polizei. Diese Zahlen nannte Markus van Stegen, Chef der Verkehrspolizei, gegenüber dem Tagesspiegel. Auch ohne direkten Vorjahresvergleich zeigt diese Zwischenbilanz zweierlei: Grob verkehrswidrig zu parken ist für sehr viele Berliner selbstverständlich. Und das Polizeipräsidium setzt seine Vereinbarung mit den Direktionsleitern vom Jahresbeginn um, sich verstärkt um die Sicherheit des Fahrradverkehrs zu kümmern. Van Stegen bezeichnet den Slalom hinein in die Autospuren, zu dem Radler durch solche Falschparker gezwungen werden, als „gefahrenpotenzierend – deshalb müssen wir da ran.“ Wenn Streifenwagen nach wie vor daran vorbeifahren, sollte das nach seiner Vorstellung nur auf dem Weg zu dringenden Einsätzen sein. „Aber das sieht ja der Bürger nicht“, sagt der Polizeidirektor und fügt hinzu: „Wir sind bemüht, besser zu werden.“

Wie problematisch es um die Sicherheit bestellt ist, zeigt die Unfallbilanz der ersten sieben Monate: Bei 4067 Unfällen verunglückten 3147 Radler; ein Plus von mehr als drei Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Die Zahl der Schwerverletzten, die länger als einen Tag im Krankenhaus blieben, sei um mehr als zehn Prozent auf 352 gestiegen. Der „heftige Zuwachs“ stamme vor allem aus den ersten Wochen des Jahres und normalisierte sich seitdem allmählich. Die Ursache für die Spitze ist unklar. Offensichtlich zeigt sich dagegen, wie gefährlich das Fahren bei Rot ist: 104 Radler verursachten dadurch Unfälle, drei von ihnen starben.

Drei weitere Radfahrer wurden seit Jahresbeginn von Rechtsabbiegern überfahren, wobei zwei parallel zu den verursachenden Fahrzeugen unterwegs gewesen seien und der dritte einen Radweg entgegen der vorgeschriebenen Richtung benutzt habe. Angesichts von außerdem 35 durch Rechtsabbieger schwer verletzten Radlern kündigt der Polizeichef ein neues Konzept an, um mehr abbiegende Autofahrer zu kontrollieren: „Auch da müssen wir besser werden.“ Eine Möglichkeit könne sein, jene anzuhalten, die nicht blinken – „einfach, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen“. Nächstes Jahr solle das Konzept umgesetzt werden.

Am Sonnabend meldete die Polizei den zehnten seit Jahresbeginn getöteten Radfahrer: Ein 21-Jähriger, der am Morgen des 24. September auf der Schönerlinder Chaussee nach links ausgeschert und von einer Autofahrerin gerammt worden war, erlag seinen Verletzungen. Warum und wie weit der Mann nach links gefahren war, konnte die Polizei noch nicht sagen. 2011 waren zu dem Zeitpunkt sieben tote Radfahrer zu beklagen.

Verkehrspolizeichef van Stegen sieht seine größte Aufgabe in der Verbesserung der Verkehrsmoral: „Es ist nicht so leicht abzustellen, was sich über Jahre entwickelt hat“, sagt er und bezieht den Vorwurf ausdrücklich auf alle Arten von Verkehrsteilnehmern und alle Altersgruppen. Als Ursache für Rücksichtslosigkeit und Raserei vermutet er die zunehmende Hektik in Gesellschaft und Arbeitswelt.

Dass die Überwachung im Alltag dann doch nicht immer der neuen Linie des Präsidiums folgt, zeigt folgender Fall: Bei 2423 Radler-Kontrollen sind nach Auskunft van Stegens bis Ende Juli 24 192 Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten eingeleitet worden. Jedoch berichtet der frühere Fahrradbeauftragte Benno Koch, Mitte August in einer solchen Kontrolle angehalten worden zu sein, weil er die Gipsstraße in Mitte entgegen der Einbahn-Richtung benutzt habe. Daraufhin habe er recherchiert, „dass es dort in den letzten drei Jahren null Unfälle gab und die Freigabe für Radfahrer unmittelbar bevorstand. Aber die Polizei wusste: Wenn sie sich mit zehn Leuten in die Gipsstraße stellt, kann sie Geld einsammeln und hinterher sagen, dass sich niemand an die Regeln hält.“ 98 Radler seien verwarnt worden, darunter auch Schulkinder. „Die haben also auch die abkassiert, die sie angeblich schützen wollen.“ Inzwischen ist die Gipsstraße für Radler freigegeben.

Die Stadt hat beschlossen, dass es keinen Fahrradbeauftragten mehr braucht.

Koch war als Fahrradbeauftragter des Senats von 2003 bis 2009 praktisch täglich mit Themen dieser Art beschäftigt. Jetzt allerdings findet der Senat, dass er keinen Fahrradbeauftragten mehr braucht. Wie berichtet, hat Stadtentwicklungssenator Michael Müller (SPD) mitgeteilt, dass die vakante Stelle nicht mehr extern besetzt wird, sondern „in die Verantwortung der (hauseigenen) Verkehrsabteilung integriert worden“ sei. Externer Sachverstand und kritische Anregungen seien seit 2003 auch durch den „FahrRat“ gesichert. Müllers für Verkehrs- und Umweltthemen zuständiger Staatssekretär Christian Gaebler (SPD) war bereits Ende Juli in einem Interview konkreter geworden und hatte sich selbst als den Fahrradbeauftragten bezeichnet.

Außerhalb der Verwaltung dominieren allerdings Zweifel an dieser Lösung. Zum einen tagt der „FahrRat“ – ein Gremium aus Verwaltungen, Verbänden, Planern und Polizei – bisher nur etwa drei Mal im Jahr. Zum anderen sieht Gelbhaar gerade die Unabhängigkeit des Beauftragten als Vorteil, weil der „auch mal unbequem sein und auf Probleme hinweisen kann“. Eva-Maria Scheel, Landesvorsitzende des Radfahrerclubs ADFC, lobt zwar die Ankündigung des Senats, den „FahrRat“ öfter einzuberufen, hält aber einen hauptamtlichen Beauftragten für notwendig: Nur so könnten die Aufgaben nach innen und außen koordiniert werden. Dagegen habe der letzte ehrenamtliche Beauftragte, der Verkehrsplaner Arvid Krenz, bis zu seinem mit Zeitmangel begründeten Abschied vor einigen Monaten nur noch E-Mails beantworten und die Politik kaum inhaltlich begleiten können.

Krenz’ langjähriger Vorgänger Koch erklärt anhand eigener Erfahrungen, warum er einen externen Berater für unverzichtbar hält: „Ein Staatssekretär kann nicht den Kleinkram machen, den ich gemacht habe.“ So würden vor allem Discounter systematisch gegen die Bauordnung verstoßen und sich brauchbare Fahrradständer sparen. Zumal mangelhafte Abstellanlagen den Fahrradklau begünstigten. Die 26 000 angezeigten Fahrraddiebstähle des vergangenen Jahres in Berlin sind ebenso rekordverdächtig wie die auf 4,1 Prozent gesunkene Aufklärungsquote. Und auf mehreren Regionalzuglinien habe die Bundespolizei einschreiten müssen, weil die Bahnunternehmen neuerdings nur noch zehn Fahrräder pro Triebwagen mitnehmen, „obwohl bequem doppelt so viele reinpassen“.

Beim Senat heißt es, die Ansprechpartner seien in den Internetauftritten der Verwaltung genannt. Dort würden dank des gewachsenen Stellenwertes des Radverkehrs inzwischen auch „die Belange des Rad- und Fußverkehrs bei allen Verkehrsplanungen (…) gleichwertig berücksichtigt“. Allerdings berichtet Koch, dass er – obwohl in der Verwaltung bekannt – seit Monaten auf eine Auskunft warte.

Als bessere Beispiele nennt Koch Städte wie Frankfurt am Main sowie Wien, wo der neue hauptamtliche Fahrradbeauftragte ein Büro mit zwei Mitarbeitern und einen Etat von einer Million Euro habe. Selbst Stettin leiste sich inzwischen einen Hauptamtler für diese Aufgabe. Bei der Berliner Verwaltung heißt es dagegen, angesichts weiterer Sparvorgaben könne keine solche Stelle geschaffen werden. Koch erwidert: „Natürlich gibt es Geld. Man muss es nur zusammensuchen, zumal die Summen beim Radverkehr lächerlich gering sind.“ Die frühere Regelung sah nach Tagesspiegel-Informationen eine Aufwandsentschädigung von höchstens 1000 Euro pro Monat vor.

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