Verkehr in Berlin: Fachleute fordern Verkehrstests für Senioren am Steuer
Viele Verkehrsunfälle werden von Senioren verursacht. Nun werden Forderungen nach mehr Kontrolle laut - in anderen EU-Ländern längst üblich.
Sich ab einem gewissen Alter einzugestehen, dass man nicht mehr Autofahren kann, tut weh. Für viele ältere Menschen ist das Auto mehr als nur eine Gewohnheit: Es ist Zeichen der eigenen Lebendigkeit, selbständiger Lebensführung und eine Form von Teilhabe am Leben, die man nicht freiwillig den Jüngeren überlässt.
Doch wenn, wie in den vergangenen Tagen, Senioren Verursacher von Verkehrsunfällen sind, die nur durch Zufall glimpflich ausgegangen sind, stellt sich die Frage, was überwiegt: Das persönliche Interesse oder die allgemeine Sicherheit.
Ende Dezember befuhr ein 90 Jahre alter Autofahrer in Berlin die Autobahn A100 gegen die Fahrtrichtung und prallte mit einem entgegenkommenden Wagen zusammen. Nur weil beide Autos sehr langsam unterwegs waren, blieben beide Fahrer unverletzt. Am Montag rutschte ein 87 Jahre alter Mann beim Einparken vor einem Supermarkt in Zehlendorf nach eigenen Angaben vom Brems- aufs Gaspedal und raste geradewegs auf den Ausgang des Supermarktes zu. Auch hier entstand außer der kaputten Scheibe kein Schaden, doch hätten sich zum Unfallzeitpunkt Kunden in dem Bereich aufgehalten, ergäbe sich ein anderes Bild. Oder sie gehen eben nicht glimpflich aus: Gestern zum Beispiel wurde eine 85-Jährige von zwei Autos (die Fahrer waren 82 und 77 Jahre alt) erfasst, nachdem sie vermutlich über eine rote Fußgängerampel gegangen war. Im Krankenhaus erlag sie ihren Verletzungen.
Schnell tauchen in der Diskussion Begriffe wie Höchstalter für Autofahrer oder Fahrtests für Senioren auf, seit der europäischen Führerscheinreform 2013 Alltag in den meisten Nachbarländern. Denn außer Deutschland, Frankreich, Österreich, Irland, Lettland und Belgien bitten alle EU-Mitgliedstaaten ihre Autofahrer ab einem gewissen Alter zum medizinischen Test und zur Überprüfung der Fahrtauglichkeit.
In Italien müssen Autofahrer bereits mit 50 zum ersten Test, ab da wird der Führerschein jeweils um fünf Jahre verlängert, ab 70 dann nur noch um drei Jahre. Die meisten Länder führen zwischen 60 und 70 Jahren eine erste obligatorische Überprüfung durch.
Zu Recht: Laut Statistischem Bundesamt verursachten Senioren, die 75 oder älter sind, 2017 572 Unfälle und damit nur unwesentlich weniger als die deutlich häufiger Auto fahrende Altersgruppe der 65- bis 75-Jährigen. Siegfried Brockmann, Unfallforscher der Versicherer erklärt: „Schon heute wissen wir, dass jenseits des 75. Lebensjahres statistisch Zahl und Schwere selbst verursachter Unfälle deutlich zunehmen. In absoluten Zahlen spielt das keine Rolle, aber auf den Anteil an der Bevölkerung bezogen sieht man eben heute schon, dass sich die Zahlen an die jungen Altersgruppen annähern."
Senioren überschätzen Verkehrstauglichkeit
Die Gefahren beim Autofahren im Alter liegen eigentlich auf der Hand: Der natürliche Alterungsprozess verschlechtert die Sinnesleistungen, schwächt die Koordination und schränkt die Mobilität ein. Hinzu kommen oft Alterserkrankungen, wie grauer Star oder Herzschwäche.
Der Direktorin der Klinik für Geriatrie und Altersmedizin der Charité, Ursula Müller-Werdan, begegnen zwar immer wieder Patienten, die ihren Führerschein freiwillig abgeben, „doch die Regel ist, dass die Menschen ihre Verkehrstauglichkeit überschätzen.“ Sie rät, die Hilfe von Hausärzten anzunehmen, entsprechende Tests zur kognitiven Leistungsfähigkeit durchzuführen.
Denn für viele Senioren sei das Fahren für sie selbst, aber auch für andere einfach zu gefährlich, wie der Berliner Verkehrspsychologe Peter Klepzig weiß. Ohne gesetzliche Regelung bleibt meist nur das soziale Umfeld als Kontrollinstanz, „leider muss oft erst etwas passieren, damit die Menschen einsichtig werden“, sagt Klepzig.
Wer keinen Führerschein mehr hat, dem bleibt immerhin das Taxi oder der öffentliche Nahverkehr. Der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) bietet ein spezielles Abonnement für Senioren an, das 65plus-Abo. Außerdem könne der „Berlkönig“, ein Taxi zum Teilen, auch von Senioren genutzt werden, sagt Petra Reetz, die Sprecherin der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Auch Rollstuhlfahrer können im Berlkönig mitgenommen werden. 133 Berliner U-Bahnhöfe von insgesamt 173 seien mittlerweile barrierefrei, so Reetz. Und 2019 sollen weitere 20 Bahnhöfe mit Fahrstühlen ausgestattet werden.
Zwölf Newsletter, zwölf Bezirke: Unsere Leute-Newsletter aus allen Berliner Bezirken können Sie hier kostenlos bestellen: leute.tagesspiegel.de