Nach Anschlägen von Dresden und Nizza: Experten warnen vor islamistischem Gefährder aus Berlin
Das „Violence Prevention Network“ hat die Situation um Gefährder neu bewertet. Mehrere Namen wurden der Polizei gemeldet, darunter einer aus Berlin.
Thomas Mücke hatte die Demonstration der Muslime nach den Morden eines Islamisten in Nizza sehr genau registriert. Die Menschen protestierten in Neukölln gegen die angeblich islamfeindliche Politik des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und die Mohammed-Karikaturen. Die Demonstranten bezeichneten sich als friedlich, aber Mücke, Geschäftsführer der Organisation „Violence Prevention Network“ (VPN), sagt: „Man muss das ernst nehmen.“ Er meint damit die Gefahren, die mit diesen Protesten verbunden sein könnten.
VPN kümmert sich um Menschen, die in die islamistische Szene abgedriftet sind. Mücke sagt: „Nach jedem Anschlag haben wir Angst, dass jemand losgeht und etwas unternimmt. Das Problem nach einem Attentat sind die Trittbrettfahrer.“
VPN hatte auch den 20-Jährigen Syrer Abdullah Al H. während und nach dessen Haft betreut, der am 4. Oktober in Dresden einen Touristen getötet und seinen Begleiter verletzt haben soll. Das letzte Treffen fand zwei Tage, bevor der 20-Jährige als Tatverdächtiger festgenommen wurde, statt.
Sofort danach, sagt Mücke, „haben wir deutschlandweit nochmal alle Fälle von Personen analysiert, die wir betreuen und die ein Sicherheitsrisiko darstellen könnten.“ Es geht um entscheidende Fragen: Gibt es Signale für eine Radikalisierung? Ist der Betreffende psychisch und physisch instabil? Ist er isoliert? „Selbst wenn ein Mitarbeiter nur ein Bauchgefühl hat, wird der Name des Betreffenden der Polizei weitergeleitet“, sagt Mücke. Wie viele Personen analysiert wurden, darf Mücke nicht sagen. Nur so viel: „Wir haben eine einstellige Zahl von Namen der Polizei weitergeleitet.“ Darunter ist auch ein Fall aus Berlin.
Wer der VPN-Mitarbeitern auffällt, wird noch intensiver als bisher betreut. Üblich ist ein wöchentliches Treffen, die Treffen können nun aber erheblich länger stattfinden. Ein Problem ist die Pandemie. „Die lässt die Arbeit von VPN nur eingeschränkt zu, dabei ist sie gerade jetzt wichtig“, sagt Mücke, „die Corona-Krise hilft den Extremisten.“ Wer psychisch labil und dazu noch isoliert sei, „der tritt schnell mit terroristischen Kreisen in Kontakt“.
Der Fall von Al H. ist für VPN besonders tragisch
Der Fall des 20-Jährigen in Dresden ist für VPN besonders tragisch. „Jeder wusste natürlich, dass es sich bei ihm um einen besonders sicherheitsrelevanten Fall handelt“, sagt Mücke. „Aber eine unmittelbare Gefahr war nicht erkennbar.“ VPN hatte den Syrer im April 2020 als Betreuungsfall übernommen.
Zu dieser Zeit saß Al H. in Haft, weil er Mitglieder für den Islamischen Staat angeworben hatte. Im Gefängnis griff er zudem einen Vollzugsbeamten an, deshalb musste er seine Strafe bis zum letzten Tag absitzen. Wegen Corona konnte VPN den Syrer im Gefängnis allerdings nur von Ende Juni bis zu einer Haftentlassung Ende September betreuen.
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Einen Tag nach dem Attentat auf die beiden Touristen meldete sich Al H. wie vereinbart bei VPN. Dessen Mitarbeiter wussten nicht, dass ihr Klient kurz darauf wegen Mordverdachts verhaftet werden würde. „Wir hätten nie Gespräche mit ihm geführt, wenn wir gewusst hätten, dass er mit dem Attentat in Verbindung gebracht würde“, sagte Mücke.
Keine Emotionen in der Nähe des Tatorts
Das erste von insgesamt drei Treffen fand am 7. Oktober statt. Die VPN-Mitarbeiter gingen mit dem Syrer sogar in der Nähe des Tatorts spazieren, weil sich der 20-Jährige in der Gegend ohnehin üblicherweise aufhielt. „Er zeigte dabei keinerlei Emotionen“, sagt Mücke. VPN-Mitarbeiter sind dafür geschult, Verhaltensauffälligkeiten zu registrieren. Wird jemand unruhig? Zeigt er erhöhte Aggressivität? Nichts davon war bei Al H. zu spüren.
Er beschwerte sich nach Mückes Angaben bei den Treffen sogar über die Observation der Polizei sowie über die harten Auflagen, die er bekommen hatte. Er betonte, er sei doch unschuldig, weshalb dann diese Einschränkungen?
Bei den Treffen sei es durchaus auch konfrontativ zugegangen. Die VPN-Mitarbeiter fragten den Syrer: Was hältst du von den islamistischen Anschlägen, was hältst du von anderen Weltanschauungen? Da sei kein ideologisch-religiöser Fanatismus erkennbar gewesen, sagt Mücke.
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Jetzt, im Nachhinein, ist der VPN-Geschäftsführer fast schon irritiert. „Es ist einer der wenigen Fälle, bei denen man nicht in eine Person reinschauen kann. Es gibt Menschen, die alles abschotten.“ Zudem habe der Syrer Fluchterfahrungen gemacht. Al H. kam als unbegleiteter Jugendlicher nach Deutschland. „Solche Menschen sind ständig misstrauisch, die verbergen ihre Absichten“, sagt Mücke.
Zwei Tage nach dem letzten Treffen wurde Al H. verhaftet. Sofort ging die Analyse für seinen und und andere Fälle los. Bei dem Syrer gingen die VPN-Experten nochmal jedes Treffen und jedes Gespräch durch. Sie mussten wissen, was der Auslöser für die Tat war, sollte er tatsächlich der Täter sein. Hatte es mit dem Tag der Deutschen Einheit zu tun? Oder mit den Vorfällen in Frankreich? „Solche Fragen stellten wir uns“, sagt Mücke.
Im Raum steht auch die These, dass Al H. einen Hass auf Homosexuelle habe und deshalb die beiden Männer angegriffen haben soll. Aber Mücke glaubt nicht daran. Zu zufällig erscheint ihm das Geschehen, als dass da jemand gezielt nach Männern Ausschau gehalten habe. Möglich natürlich trotzdem, dass der Täter aus homophoben Gründen handelte und die beiden Männer als Paar einstufte. Für Mücke liegt es aber näher, „dass der Täter den ganzen Westen als Feindbild hatte“.
Das Geschehen hat auch Auswirkungen auf die VPN-Mitarbeiter: „Das Sicherheitsgefühl ist weg“, sagt Mücke. Angenommen, der Syrer hätte tatsächlich den einen Touristen getötet und den anderen verletzt. „Dann“, sagt Mücke, „hätte es ja auch unsere Mitarbeiter treffen können.“
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