„Menschen helfen“-Spendenaktion: „Escape Kids“ hilft Kindern von Drogenabhängigen
Wenn die Eltern Drogen nehmen, müssen die Kinder hilflos zuschauen. Bei „Escape Kids“ können sie darüber sprechen und andere treffen, denen es ähnlich geht.
[Bei seiner 27. Weihnachtsspendenaktion „Menschen helfen!“ bittet der Tagesspiegel um Spenden für 62 soziale Initiativen, Vereine und Hilfsorganisationen vor allem aus Berlin, aber auch in Brandenburg und im Ausland. In unserer Spendenserie stellen wir zwölf Projekte stellvertretend für alle anderen vor. Heute: „Escape Kids“, ein Projekt des Notdienstes für Suchtmittelgefährdete und -abhängige.]
Bücher, die „Hab keine Angst, Nanuk“ oder „Blumen für Pina“ heißen, lehnen in einem Regal, ein Puppenhaus mit feingeschnitzten Möbeln steht auf dem Boden, drei Dutzend Schleich-Tiere für Kinder sind einen Meter weiter aufgereiht, und auf einem weichen Sessel sitzt Lisa und erzählt von Heroin. Sie spricht wie eine Expertin, irgendwann fällt der Begriff „eine Folie rauchen“, ein Szene-Ausdruck.
Lisa ist zehn Jahre alt.
Sie redet nicht von sich, sie redet von ihrer Mutter, sie redet davon, dass sie, die Zehnjährige, auf die bedrohlichen Signale in ihrem Alltag reagiert. Lisa weiß natürlich, was abgeht, wenn in der Küche das Licht angeht und die Tür zuklappt. „Dann raucht Mama wieder eine Folie.“ Und weil Mama auch Scham verspürt, instruiert sie ihre Tochter. Also erzählt Lisa: „Ich bekomme fünf Euro, wenn ich der Oma nicht sage, dass die Mama wieder Heroin genommen hat.“ Die Oma glaubt, dass die Mama einigermaßen stabil ist, seit sie mit der Ersatzdroge Methadon substituiert wird.
Auch Lisas Papa bekommt Methadon; er lebt zwar von der Mama getrennt, aber teilt noch eine Wohnung mit ihr. Doch die Mama ist nicht stabil. Und Lisa leidet enorm.
Deshalb sitzt sie hier, in diesem hellen Raum mit der Atmosphäre von Kinderidylle. Hier treffen sich die Sechs- bis Elfjährigen der „Escape Kids“-Gruppe. Dieses Projekt des Drogennotdienstes kümmert sich um suchtabhängige und -gefährdete Erwachsene und Minderjährige.
Einmal pro Woche kommen die Kinder zusammen, die mindestens ein abhängiges Elternteil haben oder, schlimmer noch, ein abhängiges Geschwisterkind dazu. Um diesen Kindern optimal helfen zu können, bittet der Drogennotdienst um Spenden.
Hier finden sie einen geschützten Ort
„Sie brauchen einen geschützten Ort“, sagt die Sozialarbeiterin Kerstin Theissing, „hier finden sie ihn.“ Hier werden die Kinder aufgefangen in ihrem Leid, hier arbeiten Sozialarbeiter an einer extrem wichtigen Aufgabe. Denn diese Heranwachsenden dürfen nicht auch noch abhängig werden. Dürfen nicht ihre Eltern kopieren. „Sie beobachten, wie Vater oder Mutter Probleme bewältigen“, sagt Constanze Froelich, die Leiterin von „Escape“. Sie sitzt wie Kerstin Theissing in einem der Sessel, in denen sonst die Kinder langsam ihrem Alltag entfliehen. Beide erzählen auch die Geschichte von Lisa und deren Schilderungen von der heroinabhängigen Mutter.
Ein Alltag, in dem Kinderseelen permanent überfordert sind. Ein Alltag, der nur mit extremem seelischem Kraftaufwand zu bewältigen ist. „Die Kinder“, sagt Constanze Froelich, „haben Überlebensstrategien entwickelt.“
Das ist die Dimension des Problems.
Diese Kinder durchwühlen dann die Wohnung auf der Suche nach vollen Alkoholflaschen, um sie in den Müll zu pfeffern. Sie verschweigen in der Schule aus Scham, dass sie zu spät gekommen sind, weil der alkoholisierte Vater sie nicht rechtzeitig geweckt hat. Sie spüren ihren verkrampften Körper, weil sie nicht wissen, was sie erwartet, wenn sie nach Hause kommen. „Die sind, wie Tiere, ständig auf der Lauer“, sagt Constanze Froelich.
Diesem Druck können sie hier, in den Räumen von „Escape“ in Schöneberg, entkommen. Hier treffen sie auf Kinder, die ähnliche Probleme haben, hier fällt das Tabu weg, dass man über suchtkranke Eltern nicht sprechen darf. Hier dürfen sie über Gefühle reden und sie zeigen, Emotionen, die sie zu Hause nicht erfahren, die wie unter einem Panzer verborgen sind.
Symbole und Rituale zeigen ihnen, dass sie hier Kind sein dürfen. Das Treffen beginnt immer mit Gefühlskarten, mit Bildern von Schneeflocken, Regen, Sonne, jedes Kind nimmt sich das passende Bild zu seinem jeweiligen Gemütszustand. Dann beginnt eines zu erzählen, bald fallen die anderen ein, die sprachlichen Hürden sind gefallen, die Tabus gelten nicht mehr. Kinder können bleiben, bis sie zwölf Jahre alt sind, dann wechseln sie bei Bedarf in eine andere „Escape“-Gruppe
"Ich werde wütend, wenn Mama konsumiert"
Die Reaktionen von Lisa stehen stellvertretend, sie zeigen, von welch enormem Druck sich diese überforderten Kinder befreien müssen. Lisa sagt oft: „Ich werde wütend, wenn Mama konsumiert.“ Sie sagte aber auch mal: „Wenn ich 18 bin, will ich viel Geld haben, damit ich meinen Eltern ein Haus kaufen kann.“ Mal redet sie wie eine 16-Jährige, die enorme Verantwortung spürt, mal kuschelt sie sich fast an die Erwachsenen. Eine Zehnjährige, die Nähe und Geborgenheit sucht.
Wut und Trauer, das sind die häufigsten Gefühlszustände, über die diese Kinder reden, aber manchmal sagt eines auch: „Ich habe so viele Gefühle gleichzeitig, ich weiß gar nicht genau, was ich konkret empfinde.“ Vor allem eine bedenkliche Konstante umfasst sie alle wie eine Klammer: Schuldgefühle. Die Vorstellung, sei seien verantwortlich für die Sucht ihrer Eltern oder ihrer Geschwister. Und der Wunsch, dieses Problem lösen zu können. Eine komplette Überforderung für Kinder in diesem Alter.
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Behutsam arbeiten die Sozialarbeiterinnen die Themen auf. Im Buch „Blumen für Pina“ geht es um eine suchtkranke Mutter und ihre Kinder. Und wenn die Gruppe den Film „Zoey“ anschaut, sieht sie das Schicksal eines 14-Jährigen mit seinem alkoholkranken Vater.
Deshalb arbeiten Experten wie Kerstin Theissing vor allem daran, diesen Kindern klarzumachen, dass sie nicht für ihre Eltern verantwortlich sind. Die Kinder dürfen erzählen, die Sozialarbeiter hören zu, sie geben höchstens Anregungen. „Es ist schon ein Erfolg, wenn ein Kind zu seinem Vater, der nicht bei ihm lebt, sagen kann: Ich komme erst zu dir, wenn du clean bist“, sagt Kerstin Theissing. „Es reicht schon, dass der Vater einige Zeit kein Rauschgift nimmt, in diesen Wochen hat das Kind mehr Stabilität.“ Stabilität erhalten die Kinder auch durch Aktivitäten. Oft zieht die Gruppe los, in den Zoo zum Beispiel, zu allem, „was Spaß macht“, sagt Kerstin Theissing. Die Eltern haben ja entweder das Geld dafür nicht oder kein Interesse an Ausflügen mit ihrem Kind.
[Dieses Jahr rufen wir unsere Leser, die Internet- und Social-Media-User zum 27. Mal auf, zugunsten von ausgewählten Projekten vor allem im Kinderschutz zu spenden, aber auch für arme, alte und kranke Menschen. Die Spendenserie startete wieder am 1. Advent. Überweisen können Sie gern aufs Spendenkonto, Empfänger: Spendenaktion Der Tagesspiegel e.V., Verwendungszweck: „Menschen helfen!“, Berliner Sparkasse IBAN: DE43 1005 0000 0250 0309 42. BIC: BELADEBE. Bitte Namen und Anschrift für den Spendenbeleg genau und leserlich notieren. Onlinebanking ist möglich. Kontakt zu „Escape Kids“: www.drogennotdienst.de, Notfalltelefon: (030) 19237
DAS BENEFIZ-ABO: „Tagesspiegel verschenken und dabei Gutes tun!“ – unter diesem Motto hat der Spendenverein des Tagesspiegels mit dem Verlag ein Benefiz-Abo als Geschenk aufgelegt. Somit können unsere Leserinnen und Leser jetzt den Tagesspiegel im Abonnement an Freunde, Verwandte oder eine soziale Einrichtung verschenken: einen, drei oder sechs Monate. Je verschenkten Monat zum Abopreis von 56,40 Euro spendet der Tagesspiegel 20 Euro an die traditionelle Aktion „Menschen helfen!“ für bedürftige Menschen in Berlin, Brandenburg und dem Ausland. Alle Infos zum Benefiz-Geschenk- Abo: www.tagesspiegel.de/verschenken. Fragen per Telefon? Mo-Fr 7-19.30 Uhr; Sa-So 8-12 Uhr: (030) 29 02 15 50.]
Diese Ausflüge kosten ebenso Geld wie die Bücher, die DVDs, die Spielsachen, die Therapiematerialien, die Sitzsäcke, die Decken, die „Escape“ für eine Betreuung und für die gemütliche Ausstattung des Raumes kauft. Für solche Ausgaben bittet „Escape“ um Spenden. Natürlich werden auch die betroffenen Eltern betreut, in einer eigenen „Escape“-Gruppe. Sie reden dort ebenfalls über Gefühle, vor allem aber über die Kinder. „Welche Bedürfnisse hat mein Sohn oder meine Tochter? Wie erkenne ich diese Bedürfnisse?“, solche Fragen werden geklärt.
Die Eltern müssen mitspielen, damit ihre Kinder zu „Escape Kids“ auftauchen können. Sie müssen dazu beim zuständigen Jugendamt einen entsprechenden Antrag stellen. Die Gruppe könnte größer sein, es gibt freie Plätze, aber viele Eltern scheuen den Gang zum Jugendamt.
Die Kinder, die da sind, die genießen auch das Ritual am Ende einer Gruppenstunde. Der Erste greift sich ein Hausschwein aus der Schleich-Tier-Gruppe und sagt etwas Lobendes über das Kind, das neben ihm steht. Dann übergibt es das Schwein an den Nächsten, auch der sagt etwas Lobendes über seinen Nachbarn. So geht es, bis alle durch sind. Am Ende hat jeder ein Lob erhalten und geht mit diesem Gefühl nach Hause. Es sind nur wenige Worte, aber sie fallen wie Sonnenstrahlen in einen grauen Alltag.