Besetzer-Nachfolger: "Es ist Ziel des Senats, unser Hausprojekt zu zerstören"
Nach fast 30 Jahren Selbstverwaltung übernimmt die Stadt ein ehemals besetztes Haus in Lichtenberg. Wie geht Berlin mit seiner Historie um?
Die Pfarrstraße in Berlin-Lichtenberg wurde nach der Wende von Besetzern erobert. Einige von ihnen haben später Mietverträge mit der Stadt abgeschlossen. Das letzte besetzte Gebäude, Hausnummer 104, wurde 1998 geräumt, Hund Jason kam dabei uns Leben. Nebenan, in der Pfarrstraße 102, hatte man sich 1991 bereits dazu entschieden, einen Pachtvertrag mit der Stadt abzuschließen, wodurch das Haus legalisiert wurde. Alle Bewohner gehörten „Titanic e. V.“ an. Der Verein hatte das Objekt gemietet und die Wohnungen an Mitglieder untervermietet.
27 Jahre lang wurde das Haus autonom verwaltet. Die Bewohner konnten selbst bestimmen, wer einzieht - obwohl das Gebäude der Stadt gehört, verwaltet von der Berliner Immobilienmanagement GmbH (BIM). Nun jedoch wurde das Objekt als Sachwerteinbringung von der BIM an die ebenfalls landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Howoge übertragen.
Titanic e.V. hätte das Haus gerne von der BIM gekauft, Gespräche dazu liefen. Die Senatsverwaltung für Finanzen sagt auf Nachfrage, der gebotene Kaufpreis habe unter dem ermittelten Verkehrswert gelegen. Außerdem sei man sich einig darüber gewesen, das Grundstück im Landesvermögen zu halten.
Die Howoge wird es nun ins eigene Portfolio aufnehmen. „Es ist unser Auftrag möglichst viel Wohnraum für breite Schichten der Bevölkerung zur Verfügung zu stellen“, sagt eine Sprecherin. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen ergänzt: „Die neue Liegenschaftspolitik besagt, dass das Land Berlin grundsätzlich keine Grundstücke und Wohnungen mehr veräußert.“
Die Senatsverwaltung von Bausenatorin Katrin Lompscher (Linke) prüft derzeit jedoch, wie der Übergang solcher Häuser in den Bestand der landeseigenen Wohnungsbaugenossenschaften nach einheitlichen Grundsätzen gestaltet werden kann. Künftig soll auch ein externer Vermittler zur Verfügung stehen, der als direkter Ansprechpartner fungieren soll.
Howoge entscheidet nun, wer einzieht
In der Pfarrstraße 102 wird es bald einen Hausmeister geben, es werden Einzelmietverträge mit der Howoge abgeschlossen - und diese wird bestimmen, wer zukünftig dort wohnt. Eine Sprecherin der Wohnungsbaugesellschaft kündigt an, freiwerdende Wohnungen nach vorgegebenen Belegungsquoten an Wohnungssuchende mit Wohnberechtigungsschein (WBS) vergeben zu wollen. „Wir wollen so unserem sozialen Auftrag folge leisten.“
Das Haus liegt in der Victoriastadt, dem sogenannten Kaskelkiez, seit kurzem Milieuschutzgebiet: Die Häuser sollen nur nach Genehmigung durch den Bezirk umgebaut oder saniert werden können. So sollen die Bewohner vor Mieterhöhungen in dem angesagten Gebiet geschützt werden. Viele Gebäude stehen zudem unter Denkmalschutz. In den letzten Jahren wurden hier viele Mieter durch Mietsteigerungen verdrängt.
Den Mietern in der Pfarrstraße 102 gefällt die Übernahme durch die Howoge gar nicht. „Was ist, wenn ein neuer Mieter nicht ins Hausgefüge passt oder beispielsweise etwas gegen unsere Treffen im Garten hat?“, sorgt sich Ina Mohr. Sie ist auch im Vorstand von Titanic e.V. „Die Freiheit zu haben, über das Haus entscheiden zu können, das war großartig.“ Mohr ist Erzieherin und kommt mit den Kindern oft in den Garten, welcher von den Bewohnern gepflegt wird. Auch Nachbarsfamilien nutzen diesen und die dortige Tischtennisplatte gerne. "Wir können die neuen Mieter ja nicht mehr vorher kennenlernen, wissen überhaupt nicht, was das für Leute sind."
"Bald müssen wir wegen jeder Kleinigkeit den Hausmeister rufen"
Die Schlüssel für Keller- und Heizräume mussten sie bereits an die Howoge abgeben. „Bald müssen wir wegen jeder Kleinigkeit den Hausmeister rufen. Vorher haben wir alles selbst gemacht“, erzählt Mohr. Bei der Auswahl neuer Bewohner habe man bisher darauf geachtet, dass sich diese mit in die Projekte im Haus einbringen.
Dass das Haus von der BIM an die Howoge geht, hatte der Senat bereits 2016 beschlossen. Anfang des Jahres wurde es dann vollzogen. Dabei hatten Titanic und Howoge 2017 eigentlich einen Vertrag unterzeichnet. Die Howoge wollte Titanic für 10 Jahre das Gebäude überlassen „zur Weitervermietung für gemeinschaftliche Wohnzwecke“. Im Vertrag enthalten jedoch der Satz: „Unter dem Vorbehalt der Zustimmung des Aufsichtsrates.“ Und dieser lehnte nach einer Aufsichtsratssitzung Ende 2018 ab. Die Howoge übernimmt nun die Verträge der Mieter anstelle des Vereins Titanic.
Ist es Verrat, Mietverträge mit der Stadt zu machen?
Vor der Wiedervereinigung war das Haus im Besitz der kommunalen Wohnungsverwaltung der DDR. Ralf Gerlich ist zwar erst 1998 eingezogen, kennt das Haus aber vom ersten Tag der Besetzung an. Er hat vorher in der Rigaer Straße gewohnt. Das Haus in der Pfarrstraße stand nach der Wiedervereinigung leer. Rund 15 Personen im Alter von 17 bis 19 Jahren hätten es besetzt, erzählt Gerlich, der heute für die Piraten im Stadtentwicklungsausschuss von Friedrichshain-Kreuzberg sitzt. Damals habe man sich gefragt, ob es Verrat sei, Mietverträge mit der Stadt abzuschließen.
Auch ein ehemaliger Besetzer aus der Rigaer Straße, damals 17 Jahre alt, berichtet, es sei eine kontroverse Diskussion in der Hausbesetzerszene gewesen, ob man sich dem kapitalistischen Wohnungsmarkt generell anschließe oder nicht. Aber es sei auch so gewesen, dass manche Besetzer nicht in der Lage gewesen waren, Verhandlungen über Verträge zu führen oder auch gar nicht darüber nachgedacht hätten.
Hinzu kam 1990 die Räumung von 13 besetzten Häusern in der Mainzer Straße – keine zwei Kilometer von der Pfarrstraße entfernt. Rund 4000 Polizisten waren beteilig. Vielleicht habe auch das einige dazu bewogen, Mietverträge abzuschließen, meint der ehemalige Besetzer.
3,50 Euro pro Quadratmeter
Andere Besetzer entschlossen sich zu Käufen, meistens durch selbstbegründete Genossenschaften. So gehören ehemals besetzte Häuser in der Kreutziger oder Rigaer Straße in Friedrichshain noch heute Genossenschaften – größtenteils werden Einzelmietverträge abgeschlossen. Oftmals beträgt die Miete in diesen Häusern kaum mehr als 3,50 Euro pro Quadratmeter.
Stadtsoziologe Andrej Holm wartet auf ein klares politisches Bekenntnis zum Fortbestand solcher Projekte. Es gebe viele Menschen, die gerne in Kollektiven wohnen möchten. Und die Möglichkeit, in größeren Gruppen zu leben, biete nur eine selbstverwaltete Wohnform. Die Stadt sollte froh sein, dass so etwas angeboten wird, und es nicht zerstören. Die Zukunft der Projekte sei derzeit „wie bei einer Lotterie“ – jede Wohnungsbaugesellschaft würde unterschiedlich entscheiden.
In Berlin laufen derzeit noch 14 solcher Pachtverträge zwischen ehemals besetzten Häusern und landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften. 10 davon laufen mit der "Wohungsbau-Aktiengesellschaft Gewobag", vorwiegend in den Bezirken Schöneberg und Charlottenburg. "Wir sind grundsätzlich bereit, diese Pachtverträge zu verlängern", sagte ein Sprecher auf Nachfrage. In einem Fall sei verlängert worden, bei einem anderen fänden Verhandlungen statt. Die restlichen Verträge würden eine deutlich längere Laufzeit aufweisen.
Kommunal und selbstverwaltet?
Holm sieht die geplante Einführung von einheitlichen Grundsätzen positiv. „Es sollte so eine Art Beauftragen für Selbstverwaltung geben“, sagt er. „Eine weltoffene Stadt wie Berlin sollte sich den Luxus von selbstverwalteten und gemeinschaftlich verwalteten Wohnformen leisten.“ Kommunal und selbstverwaltet sollte zudem kein Widerspruch sein. So sieht das auch Katalin Gennburg, Sprecherin für Wohnungspolitik der Linken: Die Häuser sollten „Zur Sicherung“ in den öffentlichen Bestand aufgenommen werden – jedoch sollte stets das Prinzip der Selbstverwaltung geachtet werden. Eine Kommunalisierung könne auch für die Bewohner eine Hilfe sein.
"Die Stadt hat null Euro investiert"
Der Pachtvertrag in der Pfarrstraße 102 wurde 1991 abgeschlossen zwischen Titanic und der damaligen Wohnungsbaugesellschaft Lichtenberg. Gerlich ist wütend, dass die Stadt nun wieder über das Haus entscheiden darf. Denn es seien die Besetzer gewesen, die das Haus saniert und instandgehalten haben. „Die Stadt hat null Euro investiert.“ Durch die Eigenleistung der Besetzer sei der Wert des Objekts auch maßgeblich gesteigert worden.
Das war zu DDR-Zeiten besonders in der Pfarrstraße nicht ungewöhnlich. Überwiegend junge Menschen besetzten verfallende Gebäude. Die Nachfolgegenerationen sanierten die Häuser oftmals in Eigenleistung. Die BIM bestätigt auf Nachfrage, dass man kein Geld in das Gebäude in der Pfarrstraße investiert habe.
Auch Fabio Reinhardt wohnt in der 102, ein ehemaliger Piraten-Politiker. „Unser Projekt wird langfristig zerstört“, ist er sich sicher. „Und es ist auch Ziel des Senats, es zu zerstören. Und damit wird die Gentrifizierung vorangetrieben.“ Die Mieten werden langfristig erhöht werden, da ist er sich ebenfalls sicher.
Derzeit leben in dem Haus zehn Wohneinheiten: Familien, Singles und Wohngemeinschaften aller Altersgruppen. Die gemeinsamen Gartenaktivitäten sollen zunächst auch weiterhin stattfinden. Darüber hinaus sind öffentliche Debatten über Mieten und Stadtentwicklung geplant.