Evangelikale Christen und der Corona-Protest: „Es gibt bei einigen diese Kreuzzugsmentalität“
Theologe Heinz-Joachim Lohmann hält die Kreuzträger beim Berliner Corona-Protest für eine schrille, aber kleine Gruppe. Ein Gespräch über Fundamentalismus.
Der Rock der Frau ist durchnässt vom Wasserstrahl, sie steht vorm Brandenburger Tor, reckt den linken Arm gen Himmel. Sie streckt ihr Handfläche in Richtung der Wasserwerfer, ein Rosenkranz darum gewickelt. Sie betet. Andere Demonstranten treten der Polizei bei den Corona-Protesten am Mittwoch mit Holzkreuzen entgegen. Evangelikale Gruppen werben um Mitglieder, warnen vor dem „Tag X“ oder einer „neuen Ordnung“. Ein Gespräch mit dem Theologen Heinz-Joachim Lohmann über christlichen Fundamentalismus und die Rolle der Kirchen. Lohmann ist Demokratiebeauftragter der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.
Herr Lohmann, fühlen Sie sich an einen Kreuzzug erinnert, wenn sie die Fotos der Holzkreuze von den Protesten am Mittwoch sehen?
Es gibt zumindest diese Kreuzzugsmentalität bei einigen Menschen, die sich jetzt auf die Straße getrieben fühlen. Das ist eine kleine, aber sehr sichtbare Gruppe von Christen.
Was sind das ihrer Ansicht nach für Menschen? Wie ordnen Sie die ein?
Wir haben in der evangelischen genauso wie in der katholischen Kirche einen extremen Flügel, der sich meist um das Thema Abtreibung sammelt – der auch bei uns sehr umstritten ist. Dieser Flügel sammelt sich auch auf den Protesten, ist mein Gefühl. Es sind Menschen, die liberale Werte und eine kulturell divers geprägte Gesellschaft ablehnen, die sich zum Beispiel gegen Homosexualität aussprechen, gegen den Islam und bei der Aufnahme von Flüchtlingen Überfremdung fürchten.
Diese Corona-Demonstrationen sind ja ein wildes Gemisch, wo von Rechtsextremisten bis Hippies alles anwesend ist. Die extreme Reche nutzt diese Proteste, um aus ihrer schwindenden Bedeutung herauszukommen. Die Gewaltbereiten auf den Protesten stehen zwar im medialen Fokus, sind aber nicht die Mehrheit.
Sondern?
Ich glaube, da sind auch sehr viele Menschen dabei, für die die Corona-Maßnahmen eine Last sind. Die empfinden diese Regeln als massive Beschränkungen ihres Lebens. Sie entdecken diese Demonstrationen als Raum, ihre Meinung nach außen zu tragen. Aber es gibt natürlich auch jene Gruppe, die Angela Merkel oder Bill Gates für die Ausgeburt des Bösen hält und unter denen sich auch kreuztragende Christinnen und Christen befinden. Wichtig ist mir: Die große Mehrheit in den Kirchen – nicht nur bei uns in Berlin und Brandenburg – ist mit dem Handeln der Regierung einverstanden.
Besonders evangelikale Gruppen sind auf den Protesten stark vertreten. Eine Gruppe der Sieben-Tages-Adventisten warnte auf der Demonstration vor dem Tag des Untergangs, dem „Tag X“. Einer der Poster Boys der „Querdenker“, Samuel Eckert, ist ebenfalls Adventist. Rund 1,5 Millionen Menschen sollen in Deutschland solchen Gemeinden, Freikirchen und Pfingstler-Gruppen angehören.
Der fundamentalistische Flügel ist bei uns in der evangelischen Landeskirche nicht sehr stark ausgeprägt. Der Einfluss evangelikaler Gruppen ist in den Vereinigten Staaten deutlich höher als in Deutschland. Auch innerhalb der Sieben-Tages-Adventisten gibt es ein breites Spektrum von Liberalen bis hin zu Menschen, die an die leibhaftige Präsenz des Teufels glauben. Wie gesagt: Das ist eine sehr auffällige Gruppe, aber sie ist klein.
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Warum zieht es Menschen in die Freikirchen? Sie wachsen, heißt es oft, gewinnen an Einfluss – im Gegensatz zu vielen evangelischen oder katholischen Gemeinden.
Ist das wirklich so? Die traditionellen Freikirchen verlieren genauso Mitglieder wie wir auch. Mitgliederschwund hin oder her: Protestantische und katholische Kirche bleiben bis in das kleinste Dorf hinein vorhanden und präsent. In großen Städten wie Berlin, Hamburg oder Frankfurt bilden sich pfingstlerisch angehauchte Gemeinden mit starkem Zulauf zu gottesdienstlichen Massenveranstaltungen. Im christlichen Gesamtspektrum Deutschlands bleiben das aber eher Randerscheinungen.
Ist die Coronakrise ein willkommener Anlass für jene, die schon immer den Untergang vorhergesagt haben?
Der Anteil solcher Apokalyptiker ist bei uns ziemlich klein. In Süddeutschland ist er auch im landeskirchlichen Spektrum größer. Dort gibt es diese Diskussion über einen wahren rechtgläubigen und einen falschen säkularen christlichen Lebensstil in einigen Gemeinden. Im Süden mag deshalb auch der Anteil derer größer sein, die das Coronavirus als Zeichen für das nahende Ende dieser Welt deuten. Wenn sie sich die württembergische Landessynode anschauen, gibt es dort drei Parteien: liberal, mittig, fromm. Die Frommen haben bei den letzten Wahlen erstmals die Mehrheit eingebüßt.
Wie gehen Sie als Seelsorger auf jemanden zu, der das Coronavirus für eine Strafe hält?
Ich sage: Der Umgang mit der Krankheit ist ein Auftrag, etwas, das man bewältigen muss, aber keine Strafe. Von dem Gedanken, dass Krankheit eine Strafe Gottes ist, haben wir uns in den evangelischen Landeskirchen verabschiedet. Krankheiten sind auf der einen Seite – ganz weltlich gesprochen – eine Sache, die wir medizinisch-technisch behandeln müssen und auf der anderen eine Bedrohung für unsere ganze Existenz. Unser Glaube ist dafür da, dass wir die Kraft haben, auch diese schwierigen Strecken zu bestehen, in den Krisen standzuhalten und nicht zusammenzubrechen.
Sehen Sie kein Bedürfnis, sich von diesen Gruppe abzugrenzen? Fallen die Bilder religiöser Eiferer nicht auf alle Christen zurück?
Erstens geschieht das ja schon längst – bis hinunter auf die Ebene der Pfarrer. Zweitens bin ich skeptisch, ob diese wenigen Menschen das Bild der gesamten Kirche ankratzen können. Uns wird ja eher vorgeworfen, dass wir zu wenig selbstbewusst sind. Wir würden nur alles tun, was uns die Regierung sagt.
Wie meinen Sie das?
Es gab und gibt in den Gemeinden eine Debatte darüber, ob es richtig war, den kompletten Shutdown der Gottesdienste im März mitzumachen. Ob es nicht gerade wichtig gewesen wäre, sich in schwierigen Zeiten in den Kirchen versammeln zu können. Aber die Haltung der Landeskirchen war immer, dass wir keine unnötigen Gefahren eingehen wollen. Niemand will mit dem Vorwurf leben müssen: "In diesem Gottesdienst haben sich 80 Prozent der Teilnehmer infiziert". Zu Beginn der Pandemie gab es Chorproben nach denen zwei Drittel der Teilnehmenden infiziert waren und einige gestorben sind. Das fürchten wir auch als Kirche.
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Eine sehr weltliche Furcht.
Ja, man kann es auch, nach Hegel, Einsicht in die Notwendigkeit nennen. Diese Sorge ist ja wissenschaftlich begründet und speist sich aus einem gewissen Erfahrungshorizont.
Trotzdem stehen Christen mit Rechtsextremisten gemeinsam auf der Straße, verstoßen gegen Hygieneregeln.
Zum Rechtsextremismus sagen wir als Kirche ein deutliches „Nein“. Die mit Rechtsextremisten demonstrieren frage ich, ob das die Sache wirklich wert ist? Die Grenze bei den Hygieneregeln ziehe ich ganz praktisch: Wenn wir im Gottesdienst Menschen haben, die keine Maske aufsetzen wollen, dann müssen sie gehen oder der Gottesdienst kann nicht stattfinden. Solche Fälle sind mir aber aus unserer Landeskirche nicht bekannt. Bei allen anderen sollten wir schauen, welche Sorgen, Befürchtungen und Hoffnungen es gibt. Wir sollten sie nicht leichtfertig ignorieren...
…also im Gespräch bleiben?
Ja, klar, keine Frage. Das geht nicht unbedingt mit denen, die das Ganze für eine totale Verdammnis unseres Systems nutzen wollen oder die Bundeskanzlerin als Verkörperung des Teufels sehen, aber sehr wohl mit denen, die den Wunsch nach mehr Freiheit haben und eine existenzielle Bedrängnis fühlen.
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