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Der Autor und sein Ebenbild. Erich Kästner betrachtet sein in Bronze gegossenes Antlitz. Die Aufnahme entstand 1959.
© picture alliance / dpa

120. Geburtstag von Erich Kästner: „Einmal wird’s jedem zu dumm!“

Heute vor 120 Jahren wurde Erich Kästner geboren. In Berlin fehlt ein Hinweis an seiner einstigen Adresse in Charlottenburg – aber es gibt Fehlerhaftes.

Er war ein gebürtiger Dresdner, und das sächsische Idiom hat er nie ganz verloren. Aber im Kopf und Herzen ist Erich Kästner wie auch bei seinen Millionen Lesern zum Berliner geworden. Ich habe ihn, der am heutigen Samstag 120 Jahre alt geworden wäre, noch um die Ecke meiner Münchner Studentenbude häufig in der Schwabinger Gaststätte „Leopold“ sitzen sehen, in den Jahren vor seinem Tod 1974. Da sprach Kästner, der nach 1945 in München lebte, häufig noch von der „Berliner Zeit“ als seinen aufregendsten, am Ende gar gefährlichsten Jahren.

Spätestens in seinem im Herbst 1929, vor demnächst 90 Jahren, erschienenen Weltbestseller „Emil und die Detektive“ hat er Berlin auch zu einer Hauptstadt der Kinder- und Jugendbuchliteratur gemacht. Von 1927 bis 1945 hat Kästner hier gelebt und nach dem Krieg die Stadt immer wieder besucht. Doch an seiner wichtigsten Berliner Adresse in Charlottenburg existiert bis heute kein Hinweis auf ihn.

Zwei fehlerhafte Gedenktafeln

Tatsächlich gibt es an zwei Berliner Häusern Gedenktafeln für Kästner. Aber beide sind kurioserweise fehlerhaft. In der heutigen Prager Straße 6 - 10 nahe der Wilmersdorfer Bundesallee findet sich an der Fassade eines flachen Kita-Baus die nachgemalte Version jenes bis heute verbreiteten, vom Karikaturisten Walter Trier gezeichneten Buchcovers von „Emil und die Detektive“; dazu an der Hausecke eine der traditionellen Berliner Gedenktafeln aus KPM-Porzellan, mit blauer Schrift auf weißem Grund. Freilich ist sie inzwischen von einem Nadelgehölz so überwuchert, dass man sie kaum mehr erkennen kann. Auf ihr steht, dass Kästner in dem dort früher befindlichen, kriegszerstörten Haus „von 1927 bis 1931“ gelebt habe und die Umgebung im „1928“ erschienenen Roman „Emil und die Detektive“ beschrieben sei.

Allerdings hatte Kästner in der damaligen Prager Straße 17 nur bis 1929 gewohnt, und sein Roman kam auch erst nach seinem Wegzug und nicht schon 1928 heraus. Die zweite Tafel, diesmal an der Parkstraße 3a im Nordberliner Hermsdorf, trägt in der fast nicht mehr lesbaren Unterzeile gleichfalls eine falsche Jahreszahl für einen Wohnsitz Kästners in den 1960er Jahren, den freilich nur sein Sohn und dessen Mutter, eine Geliebte Erich Kästners, besaßen.

In der Prager Straße war Kästner bei der Witwe Ratkowski noch Untermieter. Seine flotten Feuilletons und Geschichten im „Berliner Tageblatt“, der „Vossischen Zeitung“ oder der „Weltbühne“ sowie der erste Gedichtband „Herz auf Taille“ (1928) machten den kaum Dreißigjährigen bereits zu einem Star der Berliner Journalisten- und Literatenszene. Die rasch wachsenden Einnahmen und ebenso schnell wechselnden Liebesbeziehungen lassen Kästner darum an eine komfortablere Behausung denken. Und dichten: „Ich wohnte zirka zwölf Jahr in Logis. / Nun geht es nicht mehr. Rien va plus.“

Seine Popularität ist den Nazis ein Dorn im braunen Auge

So bezieht er im Oktober 1929, gleichzeitig mit seinem Roman-Debüt, die erste eigene Wohnung in der Roscherstraße 16, einer Seitenstraße des Kurfürstendamms, drei Minuten vom Lehniner Platz. Hier im westlichen Westen tut sich da gerade viel. Der Architekt Erich Mendelsohn hat am Lehniner Platz 1928 als schwungvollen Rundbau einen neuen Kinopalast gebaut, die heutige Schaubühne, und daneben mit dem gleichen Rundschwung ein Geschäftshaus. Im selben Jahr entsteht als vierstöckiger Neubau mit Lift im Vorder- und Hinterhaus auch das Anwesen Roscherstraße 16. Kästner zieht dort 1929 ins lichte Obergeschoss des ruhigen Hinterhauses.

Nach dem früheren Café Carlton am Nürnberger Platz und dem im „Emil“-Roman verewigten Café Josti nahe seiner Wohnung Prager Straße wird nun das Café Leon neben Mendelsohns Kino am Lehniner Platz sein Stammlokal. Und im gleichen Haus spielt das legendäre Kabarett der Komiker mit Claire Waldoff und Trude Hesterberg oder als Münchner Gästen Karl Valentin und Liesl Karlstadt. Auch spätere Größen wie Heinz Erhardt, Peter Frankenfeld und Brigitte Mira hatten hier noch in politisch entschärften Programmen ihre Auftritte, nachdem der jüdische Leiter des Kabaretts Kurt Robitschek nach 1933 hatte fliehen müssen.

Vor politischer Schärfe muss sich bald auch der nicht-jüdische Erich Kästner hüten. Seine Popularität ist den Nazis ein Dorn im braunen Auge, Kästner zählt zu den von Hitler und Goebbels gehassten, weil weltläufig-großstädtischen „Asphaltliteraten“. Und seine Bücher, darunter der brillante Berlin-Roman „Fabian“ von 1931, werden im Mai 1933 auf dem Berliner Opernplatz (heute Bebel-Platz) verbrannt. Kästner schaut als einziger der Betroffenen zu, bevor er sich voll Galgenhumor betrinkt und wohl in die Roscherstraße 16 zurückkehrt.

Zweimal wird er von der Gestapo festgenommen

Er emigriert nicht und schreibt: „Mich lässt die Heimat nicht fort. / Ich bin wie ein Baum, der – in Deutschland gewachsen – / wenn’s sein muss, in Deutschland verdorrt.“ Kästner wird zweimal von der Gestapo festgenommen, Bücher wie „Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke“ lässt er in der Schweiz publizieren, unter Pseudonym verfasst er unter anderem Drehbücher für Ufa-Unterhaltungsfilme. Es sind seine Jahre in der Roscherstraße, wo er Aufzeichnungen über die Nazizeit in einem Geheimfach bewahrt.

Leerstelle. Hier lag Kästners Hinterhaus- Wohnung Roscherstraße 16.
Leerstelle. Hier lag Kästners Hinterhaus- Wohnung Roscherstraße 16.
© Mike Wolff

Heute sind insbesondere die Ku’damm-Seitenstraßen übersät mit den metallenen Stolpersteinen und darauf den Namen der einstigen Bewohner, die deportiert und ermordet wurden. Erst 2018 ist aus Kästners im Marbacher Literaturarchiv liegendem Nachlass im Zürcher Atrium Verlag „Das Blaue Buch“, sein „Geheimes Kriegstagebuch 1941 – 1945“ veröffentlicht worden.

Darin hat er unterm Datum „Ende Oktober 41“ das seit September obligatorische Tragen des Judensterns als Orden „Pour le Sémite“ notiert, und dann das: „Seit Tagen werden die Juden ... abtransportiert... Was sie erwartet, wissen sie nicht.“ Und: „Ein jüdisches Ehepaar, das in meinem Haus wohnt, hat mich gefragt, ob ich Möbel, Bilder, Porzellan usw. kaufen will. Aber das Geld werden sie ja wohl auch nicht mitnehmen dürfen.“ An anderer Stelle: „Die Hausmannsleute bereicherten sich.“ Es ging um Kästners Nachbarn Pauline und Günther Schlesinger, die später in den Lagern Theresienstadt und Auschwitz starben.

Als Kästners Wohnung 1944 zerbombt wird, zieht er vor seiner Evakuierung nach Süddeutschland und Tirol noch in die nahe Sybelstraße zu seiner Lebensgefährtin Luiselotte Enderle. Heute steht an der Roscherstraße 16 ein Neubau, das Hinterhaus ist einer Garagen-Zeile gewichen. Auch am Lehniner Platz erinnert nichts an Kästners Café Leon oder das Kabarett der Komiker. In dem erhaltenen Bau war bis vor einigen Jahren das legendäre italienische Ristorante „Ciao“, jetzt ist’s ein „Kebap-Grillhaus“ nebst Fitnessclub.

Keine Hinweise auf Kästners Domizil

Gleich hinter der Roscherstraße 16 sieht man wie zu Kästners Zeit den mächtigen Backsteinturm der heutigen Paula- Fürst-Gemeinschaftsschule, an welcher der Autor von „Emil und die Detektive“ im Unterricht noch vorkommt. Aber kein Hinweis auf sein Berliner Domizil nebenan, und an Kästners Nachbarn Schlesinger erinnert bisher kein Stolperstein.

Warum? Die Kulturstadträtin von Charlottenburg-Wilmersdorf Heike Schmitt- Schmelz bedauert das und weiß sogar von den falschen Angaben an der Prager Straße. „Aber für Gedenktafeln ist seit 2004 die bezirkliche Gedenktafelkommission zuständig, die nur auf Anregungen von außen tätig wird.“ Also ein Anruf bei Annegret Hansen, der Vorsteherin der Bezirksverordnetenversammlung und Vorsitzenden der elfköpfigen, aus Parteivertretern, Verwaltung und zwei Mitgliedern von „Heimatvereinen“ gebildeten Kommission. Auch Hansen bedauert den Fall Kästner, doch: „Wir haben kein Geld. Wir würden uns um die Genehmigungen kümmern, aber wir brauchen dafür Sponsoren.“ Eine Gedenktafel aus „gebürstetem Edelstahl“ koste „um die 1200 Euro“, eine Porzellantafel „etwa 3000 Euro“. Das klingt beschämend. Für Berlin.

Kästners Wohnungsumzugs-Gedicht mit der „Logis“ und „Rien va plus“ geht übrigens weiter: „Einmal wird's jedem zu dumm. / Ich habe mir also viel Geld geborgt...“ Für ein sichtbares Gedenken an den Jahrhundertautor wäre so viel Geld nicht nötig. Nur der überfällige Wille.

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