Chef der Berliner Feuerwehr: Einer, der die Ruhe bewahrt
35 Jahre im Dienst der Berliner Feuerwehr, zwölf Jahre als Chef: Jetzt geht Wilfried Gräfling in den Ruhestand. Hier erzählt er von schlimmen Einsätzen, Sparzwängen – und seinem größten Kampf.
Wilfried Gräfling ist einer, der manche Geschichten so gerne mag, dass er sie immer wieder erzählt. Die Geschichte von seinem Onkel Hubert zum Beispiel. Hubert ist gar nicht sein Onkel, hat ihn aber einst zur Freiwilligen Feuerwehr gebracht. Und Gräfling erzählt, dass er immer wieder einen Satz zu den Kollegen sagt: „Ich glaube, ich werde alt. Nicht, weil ich mich so fühle, sondern weil ich alles schon einmal erlebt habe.“
Es ist 11 Uhr, 29 Grad. Gräfling trägt ein kurzärmeliges, weißes Hemd mit dem gestickten Emblem der Berliner Feuerwehr auf der Brust. Der Ahornbaum über ihm spendet nur spärlich Schatten. Immer wieder kneift er die Augen in der Sonne zusammen, wenn er über die Spree blickt. Die Feuerwache ist nur wenige Gehminuten entfernt.
Gräfling war zwölf Jahre lang Berlins oberster Rettungsmann
Wilfried Gräfling, 63 Jahre alt, seit 1983 bei der Berliner Feuerwehr, war zwölf Jahre lang der Chef. Berlins oberster Rettungsmann. Offizielle Bezeichnung: Landesbranddirektor. Intern wird er „der Graf“ genannt, wegen des Nachnamens. Aber auch, weil er ein Machtmensch ist. Wenn Gräfling sagt: „Es wird langweilig“ – dann spricht aus ihm nicht der Frust über die langen Arbeitsjahre, sondern die Gewissheit, zum richtigen Zeitpunkt Platz für Neues zu machen. Dass es in Ordnung ist, dass jetzt ein anderer übernimmt. Am 31. Juli ist Schluss. Gräfling geht in Ruhestand.
Dass er überhaupt in Berlin Feuerwehrchef geworden ist, sei reiner Zufall gewesen. Als werde man eben einfach so Landesbranddirektor der größten deutschen Berufsfeuerwehr. Überhaupt: Nach Berlin wollte er eigentlich nie. Großgeworden ist Gräfling im Ruhrgebiet, Westerholt, 13 000 Einwohner. Dass er die Region mal verlassen würde, konnte er sich auch nach dem Studium und zu Beginn des Referendariats in der Feuerwehr Leverkusen nicht vorstellen. Das Ruhrgebiet hat viele Berufsfeuerwehren, Karrierechancen gab es genug. Als er in der Ausbildung dann bei der Feuerwehr in Hamburg arbeitete, entdeckte er die Großstadt. Später kam das Angebot aus Berlin und er wusste nicht, ob er sich in der Mauerstadt West-Berlin nicht eingeengt fühlen würde.
Nicht alle kamen mit seiner direkten Art klar
Ein pragmatischer Ansatz brachte die Lösung: „Ich überlegte, wie weit ich mich eigentlich im Ruhrgebiet bewege und stellte fest: Die Strecke kannst du auch im Westteil Berlins zurücklegen.“ Gräfling ist geblieben. Und seitdem machte sich der Mann „verdient um die Stadt“, wie Innensenator Andreas Geisel (SPD) sagt, ohne ein „bequemer und stromlinienförmiger Behördenleiter“ zu sein. Nicht alle kamen mit seiner direkten Art klar, nicht mal in Berlin. In einer Besprechung soll er mal gesagt haben: „Ich müsste mich tausend Mal klonen, damit diese Behörde funktionieren würde.“ Heute sagt Gräfling: „Ich bin immer noch so direkt wie früher, aber ich formuliere mittlerweile eleganter.“
Es ist das Leid eines Behördenleiters, oft zwischen den Stühlen zu sitzen – als Mittler zwischen Mannschaft und Senat. Gewerkschaftler kritisierten, Gräfling sei nicht laut genug, stehe nicht vehement und couragiert für die Belange seiner Kameraden ein. Gräfling sagt dann: „Ich kenne den Ort und die Zeit laut zu werden.“ Und das ist nicht die Pressekonferenz, sondern das Gespräch hinter verschlossenen Türen. Gräfling ist ein Mensch, der öffentlich die Form wahrt, dem die Verrohung der Umgangsformen in sozialen Medien gegen den Strich geht, der nicht nachvollziehen kann, wenn gerade jetzt jemand schreibt, „die Berliner Feuerwehr steht am Abgrund“. „Ich bin überzeugt davon, dass die Berliner Feuerwehr gut aufgestellt ist“, sagt Gräfling.
Die Sparpolitik riss tiefe Lücken in das Budget
Zwar habe die Behörde immer noch an den Folgen der Sparpolitik zu leiden, die um die Jahrtausendwende tiefe Lücken in das Budget gerissen hat. „In einer Legislatur mussten wir 526 Stellen abbauen – über zehn Prozent, das war schon Wahnsinn.“ Mittlerweile stehe die Behörde besser da, der Senat ist bereit zu Investitionen. Aktuell wurden der Feuerwehr 350 zusätzliche Stellen zugesagt, eine 44-Stunden-Woche im 12-Stunden-Schichtrhythmus, eine erhöhte Feuerwehrzulage, 480 ausbezahlte Überstunden pro Beamten. Dass die Verhandlungsergebnisse nur ein Etappensieg sind, weiß auch Gräfling, aber „als Behördenleiter braucht man einen langen Atem“.
Im kommenden Haushalt rechnet er mit einem Budget von etwa 20 Millionen, statt aktuell 10 Millionen Euro. Doch Geld ist nur eine Stellschraube von vielen, die zur Lösung der Feuerwehrprobleme beiträgt: All die Feuerwehrleute müssen ja erst noch gefunden und ausgebildet werden, die Bauvorhaben müssen umgesetzt und Fahrzeuge beschafft werden. „Das kostet alles Kraft.“
Gräfling war auch die geistige Gesundheit wichtig
Gräfling musste lange die wenigen Ressourcen so verwalten, machte sie trotzdem moderner: Die sandfarbene Schutzkleidung, das neue Einsatzleitsystem, ein zeitgemäßer Arbeits- und Gesundheitsschutz. Psychische Erkrankungen wurden in der überwiegend von Männern besetzten Behörde lange als Schwäche weggedrückt. Gräfling war wichtig, dass neben der körperlichen auch die geistige Gesundheit gewährleistet ist. Feuerwehrleute zählen zu den Berufsgruppen, die am stärksten von posttraumatischen Belastungsstörungen betroffen sind. „Es ist wichtig, als Chef regelmäßig auch über meine Erfahrungen bei schlimmen Einsätzen zu sprechen.“ Einsätze, die Gräfling auch im Ruhestand nicht vergessen wird.
Da ist der Brand in der Beusselstraße 2004. Zwei Freiwillige Feuerwehrleute werden von Flammen eingeschlossen. Um ihr Leben zu retten, springen sie aus dem Fenster im fünften Stock - viel zu hoch, um auf dem Sprungtuch sicher zu landen. Beide überleben nur mit schwersten Verletzungen. Da ist das Feuer aus der Ufnaustraße in Moabit etwa ein Jahr später, das ein Junge im Treppenhaus gelegt hat. Neun Bewohner versuchen panisch vor den Flammen zu fliehen – und rennen geradewegs in den Tod, darunter mehrere Kinder. Vor Ort versuchen die Feuerwehrleute, die Schwerverletzten wiederzubeleben. Vergeblich. In ihren Händen hielten die Männer Kinder, die im Alter ihrer eigenen waren.
Gräfling leitete den Einsatz beim Terroranschlag am Breitscheidplatz
Und da ist der Terroranschlag vom Breitscheidplatz, Dezember 2016, bei dem Gräfling den Einsatz leitet. „Aus Feuerwehrsicht hätte der Einsatz nicht besser laufen können“, sagte Gräfling kurz nach dem Anschlag. Aber die Bilder blieben in den Köpfen, manche, die damals beim Einsatz dabei waren, werden noch heute psychologisch betreut. Nach solchen Einsätzen setzen sich die Rettungskräfte zusammen in die Wache, das Einsatznachsorgeteam ist da und auch Gräfling, der die Gesprächsrunde oft eröffnet: „Leute, ich kann nur sagen: mir geht es scheiße. Was da passiert ist, war schlimm.“
Gräfling ist ein Typ, den man gerne dabeihat, wenn gerade alles viel zu viel wird. Einer, der Ruhe bewahrt. Der selbst dann nicht aus der Fassung gerät, wenn das Leben ihm die Breitseite gibt. Februar 2018: es ist eine Routineuntersuchung, Gräfling fehlt es an nichts. Der Arzt sagt: „Wir müssen reden“. Gräfling hört die Diagnose: Darmkrebs. Es folgen weitere Untersuchungen, eine Woche später die Operation. Sechs Wochen liegt er stationär, dann die Reha, heute ist er in der fünften Chemorunde. „Ich bin formal tumorfrei“, sagt Gräfling, „mir geht es den Umständen entsprechen gut“. Aus seiner Erkrankung hat er nie ein Geheimnis gemacht, warum auch? Wenn man nicht möchte, dass um die eigene Person Legenden ranken, muss man die Dinge beim Namen nennen, meint Gräfling. Vor einer Woche sagte er vor 300 geladenen Gästen: „Einen Notausgang hab’ ich auch. Ein Arzt hat zu mir gesagt: Ist ja egal, ob du vorne oder hinten rausscheißt, Hauptsache, du scheißt noch. Hat er recht, oder?“
Ohne Rückhalt der Familie geht es nicht
Es gibt Dinge im Leben, auf die kannst du dich nicht vorbereiten, sagt Gräfling heute, dem man seine Erkrankung und Therapie nicht besonders ansieht. Vielleicht ist das Gesicht etwas schmaler als gewöhnlich. „Was bringt es mir darüber nachzudenken, was in vier Jahren ist? Ich lebe jetzt.“ Eine Haltung gegenüber dem Leben, die sich kaum erlernen lässt. Für ihn ist der Umgang mit solchen Schicksalsschlägen ein bisschen wie beim Segeln. „Auf dem Wasser weiß man oft nicht, was einen erwartet und dann muss man damit umgehen, sich den neuen Bedingungen stellen und das Beste daraus machen.“ Und: „Vielleicht kommt mir auch zugute, dass ich jahrzehntelang darauf geschult wurde, in belastenden Situationen Ruhe zu bewahren und rational zu entscheiden, was jetzt wichtig ist.“ Das einzige Mal, dass seine Stimme bricht, ist bei der Verabschiedung, als er über seine Familie spricht. Seine Kinder und seine Frau. Wie es ohne ihren Rückhalt einfach nicht gehen würde.
Und was kommt jetzt? „Meine Frau und ich haben genug gearbeitet, jetzt wollen wir es ruhig angehen lassen.“ Berlin bleiben sie treu, auch wenn sie einige Monate im Jahr an dem zweiten Familienstandpunkt in Florida verbringen wollen. Aufs Wasser will er auch wieder häufiger. Früher ist er oft segeln gefahren, hat an Regatten teilgenommen. „Das muss jetzt aber nicht mehr sein“, sagt er, „ist auch ziemlich anstrengend.“