Nikolaiviertel in Berlin: Eine Insel mit zwei Türmen
Gleich hinter dem Alexanderplatz liegt einer der ruhigsten Orte Berlins - das Nikolaiviertel. Ein Erfahrungsbericht.
Still ist es hier. Und das am Samstagabend, kurz nach elf. Alle paar Minuten holpert ein Taxi im Schritttempo über das Kopfsteinpflaster, ein Kellner klappt die Werbetafel eines Restaurants zusammen, sonst ist es ruhig. Die Türme der Nikolaikirche ragen in den Nachthimmel; direkt dahinter und doch aus einer ganz anderen Welt linsen Rotes Rathaus und Fernsehturm über die Dächer des Nikolaiviertels. Wären sie nicht da, man käme nie auf die Idee, mitten in Berlin zu sein.
Denn ein Kiez ist es nicht. Wo in einem Kiez der Späti wäre, lockt hier ein Erzgebirgischer Weihnachtsmarkt – 365 Tage im Jahr. Wo sonst die Eckkneipe vor sich hin ranzt, sind hier Restaurants mit viersprachigen Speisekarten. Wo sonst ein Wettbüro mit dubiosen Hinterzimmern lockt, ist hier die „Puppenstube im Nikolaiviertel“. Genau genommen ist das ganze Viertel eine Puppenstube.
Dreieinhalb Straßen groß ist dieser Teil Berlins, einer der ältesten der Stadt. Eine Insel, sagen die einen; ein Museum, die anderen. Eine Museumsinsel direkt gegenüber der Museumsinsel gewissermaßen. Immer wieder bleiben Touristen an den Klingelschildern der Häuser stehen und studieren sie aufmerksam. Bis sie erkennen: Hier kann man offenbar wohnen, die verzierten Plattenbauten sind nicht nur Fassade. Vielleicht suchen sie auch nach irgendeinem berühmten Namen, wo doch hier alles wie geleckt aussieht. Eine Klingel studieren sie länger, weil so viele Namen draufstehen. Das liegt daran, dass sich dahinter eine WG verbirgt. Meine WG.
Im Sommer ist es wie Urlaub
Ich wohne hier seit einem halben Jahr. Ich bin hergezogen, weil ich dringend ein Zimmer brauchte, weil die Lage top, die WG nett, der Preis okay ist. Eigentlich sind wir eine ganz normale Wohngemeinschaft, meine Mitbewohner und ich, in einem ganz normalen Plattenbau, der von außen eben etwas aufgehübscht wurde. Von meinem Zimmer aus sehe ich die Spitze des Berliner Doms. Aber als mich zum ersten Mal eine Freundin besuchen kam, rief sie halb erschrocken, halb amüsiert an: „Bodo, ich hab mich verlaufen – irgendwie bin ich nicht mehr in Berlin!“
Auch in den Häusern ist vermutlich wenig Berlin. Zumindest stammen weder meine Mitbewohner noch ich aus der Stadt. Vielleicht ist die Idee, hierher zu ziehen, für viele Berliner auch absurd; jedenfalls bewerben sie sich nicht, wenn wir ein Zimmer frei haben. Auch der rheinische Akzent von Frau B., die im Stock unter uns wohnt, ist unüberhörbar.
Seit 15 Jahren lebt sie schon hier, also über die Hälfte der 28 Jahre, seit Erich Honecker das Viertel nach der Renovierung 1987 wiedereröffnet hatte. Aber für sie steht fest: „Das Nikolaiviertel ist top zum Wohnen – es ist wie ein Dorf!“ Im Sommer fühle sie sich wie im Urlaub, inmitten der Straßenfeste, die dann stattfinden, unter all den bummelnden Touristen.
Wer es eilig hat, erntet böse Blicke
Und bummelnde Touristen gibt es viele, das ganze Jahr über, auch wenn sich manche der Ladenbesitzer beklagen, dass es weniger geworden seien aufgrund der Baustelle für die U5. Schnell geht es außerhalb zu, auf der Spandauer Straße oder dem Mühlendamm, die das Viertel umrahmen; im Nikolaiviertel wird geschlendert, das gilt für alle, und wer es eilig hat, erntet böse Blicke oder wird einfach ignoriert.
Manchmal frage ich mich auch, auf wie vielen Urlaubsbildern ich wohl schon drauf bin, wenn die Menschen vor der Statue des heiligen Georg in die Kamera grinsen, während ich im Hintergrund meine Einkäufe nach Hause trage. Einmal, als ich meine Haustür aufschloss, kam noch ein Mann hinterher: „I just want to see what the inside looks like.“ Aber die Tatsache, dass es auch im Juli einfacher ist, eine erzgebirgische Weihnachtspyramide zu kaufen als eine Packung Milch, hat auch unwiderstehlichen Charme.
Frau B. meint übrigens, das Nikolaiviertel sei sehr wohl ein Kiez – neuerdings gebe es ja sogar einen Markt. Das stimmt: mittwochs von 9 bis 15 Uhr. Also nichts für Berufstätige. Schade.