Freispruch für YouTuber Tim Kellner: „Eine bittere Nachricht für alle, die von Hetze betroffen sind“
Ein Rechter darf Sawsan Chebli „islamische Sprechpuppe“ nennen. Das hat ein Gericht entschieden. Vor dem Saal grölten die Anhänger des Angeklagten.
Nein, sagt Tim Kellner, er habe Sawsan Chebli selbstverständlich kein bisschen beleidigen wollen, als er sie öffentlich als „islamische Sprechpuppe“ bezeichnete. Eine Puppe sei doch eher ein Kompliment! Und mit Sprechpuppe habe der Angeklagte eben gemeint, dass die Berliner Staatssekretärin an manchem Tag auf Twitter bis zu 30 Retweets verschicke, mit diesen gebe sie ja lediglich die Inhalte anderer wieder.
In taubenblauer Jogginghose sitzt Kellner, 46, am Donnerstag in Saal 101 des Amtsgerichts Tiergarten. Er hat sich eine schwarz-rot-goldene Armbinde übergestreift, die langen grauen Haare hinten zum Dutt gebunden. Kellner betreibt einen Youtube-Kanal, auf dem er vor Migranten warnt und vorm „Volkstod“ der Deutschen. Außerdem beschimpft er Politiker und andere Menschen, die nicht seiner Meinung sind. In rechtsradikalen Kreisen ist seine Plattform sehr beliebt, sie zählt zu den meistgeklickten.
Chebli nimmt Beleidigungen nicht hin
Die Politikerin, die ihn wegen Beleidigung angezeigt hat und nun Nebenklägerin ist, lässt sich von ihrem Anwalt Christian Schertz vertreten. Chebli gehört zu den Politikern, die von der immer stärker werdenden Hetze im Netz am stärksten betroffen sind. Als Frau, als Muslimin, als eine, die sich gegen Rechtsaußen engagiert, die auch gegen Antisemitismus eintritt. Für Rechtsradikale ist Sawsan Chebli ein Trigger auf zwei Beinen.
Sie gehört aber auch zu denen, die sich wehren. Die Drohungen und Beleidigungen nicht hinnehmen, sondern zur Anzeige bringen. Wenn sich Rechtsradikale organisiert auf sie einschießen, stellt Chebli bis zu 30 Strafanzeigen pro Woche. Im am Donnerstag verhandelten Fall hat der Youtuber Kellner sie auch als „Quotenmigrantin der SPD“ bezeichnet. Das Amtsgericht verhängte zunächst eine Strafe von 1500 Euro. Weil Kellner Einspruch einlegte, kommt es jetzt zum Prozess.
Kellners Fans wollten das Gericht stürmen
Der Angeklagte, ein mehrfach vorbestrafter Ex-Polizist, hatte wochenlang für diesen Tag getrommelt. Seinen Anhängern hatte er verkündet, hier kämpfe „Team Deutschland“ gegen „Team Orient“. Er hoffte, sie würden Reisebusse organisieren, um den Gerichtssaal in ein „Fahnenmeer aus Schwarz-Rot-Gold“ zu verwandeln. Er erklärte in Videos, worum es ihm in diesem Prozess geht: Chebli sei Migrantin, und er als Deutscher wolle sich nicht von ihr vorschreiben lassen, was er zu sagen habe und was nicht.
Tatsächlich stehen eine Stunde vor Prozessbeginn rund 100 seiner Anhänger vorm Gericht. Viel zu viele für den Saal. Sie versuchen, sich mit Gewalt Zutritt zu verschaffen, werden vom Wachpersonal im Foyer gestoppt. Sie grölen „Wir wollen rein“, singen die Nationalhymne.
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In der Politik hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Verrohung im Internet die Gesellschaft gefährdet und strenger geahndet werden muss. Nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke kündigte die große Koalition an, stärker gegen Hass und Hetze vorzugehen. Dafür plante Justizministerin Christine Lambrecht, das Netzwerkdurchsetzungsgesetz zu verschärfen und so härtere Strafen für Hate Speech zu ermöglichen. In der vergangenen Woche hat das Kabinett ein Gesetz beschlossen, das soziale Netzwerke verpflichtet, Mord- und Vergewaltigungsdrohungen sowie Nazi-Propaganda zu melden.
Hass-Tiraden in Serie
Das Video, um das es im heutigen Prozess geht, macht nur einen winzigen Teil von Kellners Hass-Tiraden gegen Chebli aus. Er hat dutzende weitere Videos veröffentlicht, in denen er Chebli verhöhnt, nachäfft, rassistisch beleidigt. Als Cheblis Schwangerschaft bekannt wird, postet er, das Kind werde auf Anhieb 47 Cousins und Cousinen haben, und dann: „Den oder die kleine Chebli kriegen wir auch noch durchgefüttert!“ Er behauptet, Chebli beherrsche „die deutsche Sprache nur sehr unzulänglich“. Er fordert sie auf, in die Vereinigten Arabischen Emirate auszuwandern. Er sagt: „Sie waren nie eine von uns und sie werden auch nie eine von uns sein.“ Seine Ansprachen sind gehässig, boshaft, bewusst verletzend.
Tim Kellner wollte eigentlich Karriere beim SEK machen, wurde dann aber Streifenbeamter bei der Kreispolizei in Lippe. Nach einem Disziplinarverfahren entfernte man ihn aus dem Beamtenverhältnis. Inzwischen ist er Chef eines Rockerclubs. 2010 wurde er wegen gefährlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung zu neun Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, drei Jahre später noch einmal wegen Beleidigung. Im Gericht präsentiert er sich als „konservativer Blogger“ und „gerechtigkeitsliebender Mensch“. Und beharrt darauf, dass er keinen Groll gegen Chebli hege. Er wisse auch, dass sie in Berlin geboren ist und den deutschen Pass besitze. Als der Staatsanwalt ihn fragt, was das für ihn bedeute, sagt Kellner: „Sie ist offiziell deutsch.“
Nicht weit vom Ort des Prozesses, drei Treppen hoch, rechts den Gang runter, hat Oberstaatsanwalt Georg Bauer sein Büro. Er ist Chef der Abteilung 276. Auf seinem Schreibtisch landen sämtliche Strafanzeigen von Politikern aus dem Deutschen Bundestag und dem Berliner Abgeordnetenhaus, die sich gegen Hate Speech wehren. Der Hass im Netz beschäftigt die Ankläger seit sieben Jahren, Tendenz: stetig steigend. Zahlen kann Bauer nicht nennen, da die Fälle nicht gesondert von sonstigen Beleidigungen und Bedrohungen in die Statistik eingehen.
Bundespolizei beschäftigt sich die Hälfte der Zeit mit Hate Speech
Die Täter, sagt Bauer, sind meist männlich, kämen aber aus allen Milieus, vom Privatdozenten bis zum Biedermann. „Viele geben an, dass ihnen alkoholisiert die Pferde durchgegangen sind, sie mal Frust ablassen mussten.“ Etwa 80 Prozent der Strafanzeigen, die die Berliner Ankläger zu bearbeiten haben, betreffen Bundestagsabgeordnete. Für sie ist zunächst der Ermittlungsdienst der Bundestagspolizei zuständig. Der Bundestag ist ein eigener Polizeibezirk, in dem Wolfgang Schäuble als Bundestagspräsident Hausrecht und Polizeigewalt ausübt.
Früher waren die Ermittler der Bundestagspolizei vor allem mit Diebstählen im Haus, Graffiti und solchen Reichstagsbesuchern beschäftigt, bei denen die Einlasskontrolle Pfeffersprays, Messer oder Wurfsterne entdeckt hat. Inzwischen, schätzt ein ehemaliger Ermittler, beanspruche Hate Speech etwa die Hälfte der Arbeitszeit. Die Ermittler versuchen, über Facebook-Suchen die Klarnamen der Täter zu ermitteln. Manchmal gelingt es, über Querverweise – also Arbeitgeber, Sportverein, Freunde oder Familie – hinter die Fake-Personalien zu gelangen.
Wer sich noch alles wehrt
Etwa 15 Politiker gibt es im Bundestag, die regelmäßig Anzeigen stellen, heißt es aus Kreisen der Bundestagspolizei. Dazu zählen Claudia Roth und Renate Künast (Grüne), die Ende Januar in einem Zivilverfahren einen Erfolg erringen konnte, nachdem sie sich gegen ein Urteil des Berliner Landgerichts beim Kammergericht in zweiter Instanz gewehrt hatte. Mit der neuen Entscheidung sind „Stück Scheiße“, „Schlampe“, „Drecks Fotze“, „Drecksau“ und „hohle Nuß, die entsorgt gehört als Sondermüll“ nun als beleidigend anzusehen. Facebook muss zudem die Nutzerdaten von sechs Kommentatoren freigeben, damit Künast zivilrechtlich gegen diese vorgehen kann.
In der Justiz gibt es einige, die hoffen, dass das Berliner Verfahren gegen Tim Kellner in die zweite Instanz geht und dies zu einer Fortschreibung der Rechtsprechung führt. Es wird mit einer Akzentverschiebung der Rechtsprechung gerechnet, um der ständig fortschreitenden Verrohung etwas entgegenzusetzen. Bislang gilt: Begriffe wie „Arschloch“ sind erlaubt, wenn in der politischen Auseinandersetzung der Sachbezug überwiegt.
Und es gibt laut Bundesverfassungsgericht das „Recht zum Gegenschlag“, soll heißen: Wenn einer in der Debatte hart austeilt, ist auch eine schärfere Reaktion zumutbar. Als Andrea Nahles (SPD) einmal Strafanzeige stellte, weil ihr jemand ankündigte, dass es „bald in die Fresse“ gebe, blieb den Ermittlern nichts weiter übrig, als das Verfahren einzustellen. Auch jemandem den Tod zu wünschen, ist erstmal keine Straftat.
Cem Özdemir wird im Netz bedroht, seit er im Bundestag sitzt, mal von türkischen Nationalisten, mal von deutschen Rechtsextremisten. Nach der Armenien-Resolution kamen Bundestagspolizei und Berliner Staatsanwaltschaft mit der Bearbeitung von Strafanzeigen kaum hinterher. Özdemir musste unter Personenschutz gestellt werden.
Versierte Täter bleiben unentdeckt
Die schlimmsten rassistischen Beleidigungen muss aber Karamba Diaby,, der SPD-Bundestagsabgeordnete aus Halle, über sich ergehen lassen. Auf Diaby hat es weniger der gerade mal frustrierte Normalbürger, sondern eher die organisierte rechte Szene abgesehen. Leute, die wissen, wie man im Netz seine Spuren verwischt. Bauer und seine fünf Staatsanwälte sind machtlos. „An technisch versierte Täter kommen wir nicht ran.“ Im Januar war auf Diabys Büro in Halle ein Anschlag verübt worden. Mitarbeiter hatten Einschusslöcher in der Scheibe entdeckt, verletzt wurde niemand.
Die meisten Kabinettsmitglieder der Bundesregierung ignorieren die Flut der Beleidigungen, die sich im Netz über sie ergießt. Bauer sagt: „Sollte sich diese Praxis ändern, müssten wir unser Personal verdoppeln.“ Allein Angela Merkel hätte an jedem Tag ihrer Kanzlerschaft etliche Strafanzeigen stellen können.
Kellners Anwalt ist bekannt in der rechten Szene
In Saal 101 des Kriminalgerichts erhebt sich Kellners Anwalt Hendrik Schnelle zum Schlussplädoyer. Er ist bekannt in der rechten Szene. Vor Jahren wurde Schnelle selbst wegen Volksverhetzung verurteilt. Er hatte gesagt, Schwule sollten vergast werden. Jetzt plädiert der Anwalt auf Freispruch, lobt seinen Mandanten als „bürgerlich“ und attestiert ihm Liebe zum Grundgesetz. Der Staatsanwalt fordert dagegen sechs Monate auf Bewährung. Und Nebenklage-Anwalt Christian Schertz mahnt, der Rechtsstaat müsse endlich angemessen auf Hasskriminalität reagieren.
Denn dieser Hass sei die Vorstufe zu Gewalttaten, wie sie in den vergangenen Monaten mehrfach, zuletzt in Hanau, geschahen. Schertz sagt: „Diese Taten sind auch Folge einer Justiz, die viel zu lange nicht gegen Hasskriminalität vorgegangen ist.“ Auch deshalb sei eine Verurteilung Kellners wichtig. Der Richter sieht es anders. Am späten Nachmittag spricht er den Angeklagten frei. Dessen Äußerungen, sagt er, seien noch von der Meinungsfreiheit gedeckt.
Staatsanwaltschaft und Nebenklage werden dagegen Rechtsmittel einlegen. Für Sawsan Chebli ist das Urteil eine „bittere Nachricht für alle, die von Hass und Hetze betroffen sind, die von Rassisten beleidigt, bedroht und angegriffen werden“. Die Feinde der Demokratie nutzten verstärkt die Schwächen des Rechtsstaates aus, um ihre Hetze ungehemmt zu streuen.
Und dieses Urteil bestärke sie darin, dass sie dies tun könnten, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden. „Aber wir dürfen jetzt nicht kapitulieren, nicht in Ohnmacht verfallen“, sagt Chebli. Wichtig sei nun das klare Signal: Wir lassen uns nicht einschüchtern.