Früh verstorbene Kinder: Ein viel zu kurzer Besuch
„Sternenkinder“ erblicken nie das Licht der Welt oder sterben kurz nach der Geburt. Eine Mutter spricht, worüber viele schweigen.
Es gibt einen veralteten Ausdruck für Schwangerschaft: „guter Hoffnung sein“. Das trifft es. Denn er sagt, dass es nur bei der bloßen Hoffnung bleiben könnte, dass sich die Verheißungen auf den Titelseiten von Elternmagazinen nicht erfüllen könnten. Auch wenn die Formulierung aus der Mode gekommen ist, heißt das nicht, dass in der Gegenwart immer alles nach Plan läuft. Keine Pränataldiagnostik, keine moderne Frühchenstation kann verhindern, dass Babys sterben; manche schon während der Schwangerschaft, andere bei oder kurz nach der Geburt. Sternenkinder heißen sie. Weil es eine tröstliche Vorstellung ist, dass sie auf der Erde nur eine kurze Stippvisite machen.
Allerdings wird wenig über sie gesprochen. Es gibt zwar kein Tabu, doch ausweichende Blicke und unbeholfene Ratschläge kennen Sterneneltern gut. „Der Tod kleiner Kinder löst besondere Ängste aus“, sagt Isabella Heuser, Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité. Zum einen sei er eine Ausnahme, die wir nicht gewohnt sind, „zum andern denkt bei kleinen Kindern niemand ans Sterben – sie sind ja gerade erst geboren. Deshalb erschüttert ihr Tod in außergewöhnlichem Maße das, was als Normalität wahrgenommen wird. Er lässt verstummen“. Das macht es betroffenen Eltern schwer, mit ihrer Trauer fertig zu werden. Inga Ohlsen sagt, sie spreche gern über ihre Lahja, ihr erstes Kind. Ihr sei es einfach wichtig, dass das Thema mehr Öffentlichkeit bekommt. Die Scheu, über Sternenkinder zu sprechen, würde nicht selten dazu führen, dass die Eltern sich nicht trauen, ihren Kummer zu zeigen.
Lahja. Den Namen hat Inga Ohlsen während der Schwangerschaft geträumt. Er bedeutet Geschenk auf Finnisch. Als solches empfinden sie ihre Tochter, auch wenn sie nicht mehr „hier“ ist. Sagt Jörg Ohlsen, ihr Mann. „Sie ist nicht mehr hier, aber doch da.“ Beide sprechen ruhig, fast sanft, und lächeln viel, während sie reden. Im Regal der hellen Wohnung in Schöneberg steht ein großer Ordner mit Gedichten, die Inga Ohlsen geschrieben hat, seit Lahja nicht mehr bei ihnen wohnt. Jörg Ohlsen begleitet sie am Klavier, während sie die vertonte Version eines Gedichts singt.
In der ersten Nacht hatte die Tochter auf einmal aufgehört zu atmen
Die Schwangerschaft mit Lahja war schön und unbeschwert. Auch die Geburt im Geburtshaus verlief ohne Komplikationen. Nichts deutete darauf hin, dass ihre Tochter nicht zu einem gesunden Mädchen heranwachsen würde. Die Ohlsens waren stolz und froh und nahmen sie wie geplant mit nach Hause. Doch in der ersten Nacht wachte Inga Ohlsen auf einmal auf. Sie sah ihre Tochter an. Lahja hatte aufgehört zu atmen. Das Notfallteam konnte sie nicht wiederbeleben. Ärzte haben für dieses unerwartete Sterben, das einen ganzen Lebensentwurf zerplatzen lässt, einen nüchternen Begriff: plötzlicher Kindstod. Begriffliche Verpackung für Ratlosigkeit. Er wird nur gebraucht, wenn die Mediziner die Todesursache nicht kennen und auch Autopsie keine Klärung bringt. Mittlerweile hat Lahja zwei Geschwisterchen. Und trotzdem ihren festen Platz in der Familie. Die Ohlsens sagen, dass sie durch Lahja die Zeit mit ihren beiden Kindern ganz anders genießen können, auch wenn ihre Erste ihnen immer fehlen wird.
Lahjas Grab liegt im sogenannten „Garten der Sternenkinder“. Das Areal befindet sich auf dem höchsten Punkt des Alten St.-Matthäus-Kirchhofs in Schöneberg und ist vielleicht der bunteste Friedhof Deutschlands. Die kleinen Felder liegen eng. Manche gruppieren sich um einen Baum, andere sind wellenförmig mit blauem Mulch bedeckt. Ein Holzschiff, behängt mit Girlanden und Ketten. Der Grabschmuck: Muscheln, Windmühlen und Spielzeug statt Kränze oder Trockengesteck. Besonders am Anfang, sagt Inga Ohlsen, hätte ihr der Friedhof sehr geholfen. „Ich konnte hier so ein bisschen mein Muttersein ausleben. Andere kaufen ihrem Kind ein Spielzeug, ich bringe Lahja frische Blumen oder einen schönen Stein.“ Marla, die nach Lahja kam, nehmen die Eltern oft mit. Wenn sie alt genug ist, wird sie verstehen, dass sie hier eine große kleine Schwester hat.
Viele Eltern berichten Ähnliches von der Zeit nach dem Tod ihrer Kinder. Die Trauer kommt in Wellen. Am Anfang sind sie so stark, dass sie nichts mehr vom Alltag übrig lassen. Irgendwann werden sie schwächer, die Abstände länger. Doch ganz verschwindet die Trauer nie. Auch Jahre später noch kann sie einen überraschen. Die meisten Sterneneltern fühlen sich genauso als Mütter und Väter wie Eltern, deren Söhne und Töchter leben. Vielleicht ist es gerade diese Tatsache, die am meisten Unwissenheit und Verunsicherung auslöst. Inga Ohlsen erinnert sich an eine Familienfeier nach Lahjas Tod. Die anderen Mütter wurden nach ihren Kleinkindern gefragt: Wie es war mit dem Wickeln, schläft das Baby gut, haben sie schon einen Stillrhythmus gefunden? „Ich wollte auch so gerne von Lahja erzählen, von der Schwangerschaft, von der Geburt, von dem Tag mit ihr, der ja auch wunderschön war. Aber das zu fragen, hat sich fast niemand getraut“, erzählt sie. Sie findet das verständlich, aber trotzdem fühlte es sich seltsam an, über so vieles nicht offen sprechen zu können. Wie es war, als die Milch noch kam, nachdem ihre Tochter schon nicht mehr atmete. „Würde Lahja leben, würden alle ganz selbstverständlich fragen. So habe ich immer das Gefühl, ich müsste dafür kämpfen, dass ihr andere Aufmerksamkeit geben.“
Für Eltern ist es einfach schön zu wissen, dass auch andere ihr Kind nicht vergessen
Da ist etwa die Sache mit dem Geburtstag. „Natürlich freuen wir uns, wenn uns jemand eine Karte schreibt“, sagen die Ohlsens. Eine Geburtstagskarte für ein totes Kind? Ist das fast makaber? Ein Freund sagte zu Inga Ohlsen, dass er doch auch, wenn seine Partnerin sterben würde, nicht weiter ihren Geburtstag feiern würde. „Aber ein Kind ist eben etwas anderes“, ist ihre Antwort. Der Tod der Großeltern oder Eltern wird auf eine andere Art erwartet oder zumindest als Möglichkeit in Betracht gezogen. Es sei klar, dass irgendwann die Kindergeneration zu Eltern wird und die Eltern zu Großeltern. Der Partner wiederum ist gleichgestellt. Seinem eigenen Kind gegenüber habe man dagegen eine ganz andere Verantwortung. „Würde sie leben, würden wir uns auch lange um sie kümmern und ihren Geburtstag ausrichten“, sagt Inga Ohlsen. Für Eltern ist es einfach schön zu wissen, wenn auch andere ihr Kind nicht vergessen.
Auch Psychiaterin Isabella Heuser empfiehlt, mit Sterneneltern zu sprechen. „Manchmal sind schon alltägliche Dinge wie einkaufen gehen oder kochen eine Entlastung.“ Es helfe, eigene Unsicherheit offen zu artikulieren. Für die Eltern seien Abschiedsrituale wichtig: die Beerdigung oder die Eintragung des Kindes beim Standesamt. Sie dienen, genauso wie Erinnerungsstücke oder Fotos dazu, das Kind zu einem realen Ereignis zu machen. Es sind Beweise seiner Existenz. Als es noch üblich war, Müttern ihre verstorbenen Babys gleich wegzunehmen, löste das bei ihnen oft Verwirrung aus. „Sie waren sich auf einmal nicht mehr sicher, ob es das Kind wirklich gegeben hatte.“
Natürlich können auch Selbsthilfeforen und -gruppen eine Stütze sein. Eine Zeitlang zumindest. Über eine längere Dauer hinweg bestehe ein Risiko, dass der ständige Kontakt mit anderen Betroffenen zu einer konstanten Re-Traumatisierung führe, sagt Heuser. Und das Trauma ist gewaltig. Wenn ein Kind stirbt, stirbt mit ihm eine ganze Zukunft. Wann hätte er wohl laufen gelernt? Welches Schulfach hätte sie gemocht? Hätte sie gerne Fußball gespielt? Wie wären wir als Familie gewesen? Es gibt noch ein anderes altes Wort für Schwangerschaft: „Ein Kind unter dem Herzen tragen.“ Wenn das Kind stirbt, geht auch ein Stück von einem selbst mit.
Eltern verstorbener Kinder treffen sich regelmäßig im Café Finovo auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof. Infos unter www.efeu-ev.de/sternk2. Der Berliner Verein „Verwaiste Eltern und Geschwister Berlin“ begleitet nach dem Tod eines Kindes, Tel. 40 50 15 00, www.vegb.de. Inga Ohlsens Gedichte sind 2016 unter dem Titel „Mit dir im Herzen. Gedichte für Sternenmütter“ erschienen, Verlag Edition Riedenburg, € 15,90. Mehr zum Thema auch in der Ausgabe „Kinderwunsch, Schwangerschaft, Geburt“, des Magazins „Tagesspiegel GESUND“, für 6,50 Euro erhältlich im Tagesspiegel-Shop, www.tagesspiegel.de/shop, Tel. 29021-520
Von Anna Illin