St.-Joseph-Krankenhaus im Tempelhof: Ein Tag in Deutschlands größter Geburtsklinik
Berlinerinnen bekommen so viele Babys wie schon lange nicht mehr. Spitzenreiter bei den Geburten ist das Tempelhofer St.-Joseph-Krankenhaus. Ein Besuch.
Wer vom Bahnhof Südkreuz zum St.-Joseph-Krankenhaus läuft, dem wird als Erstes die Babyklappe auffallen. „Babyklappe“ steht auf einem großen Schild, schwarz auf weiß. Darunter ein hölzerner, verwinkelter Gang, offenbar gemacht für Menschen, die nicht gesehen werden wollen. Ein beklemmendes Gefühl läuft auf dem Weg zum Haupteingang der Klinik mit.
Wie verzweifelt sind Eltern, wenn sie ihr Neugeborenes in dieses Fach in der Hauswand legen, in die Obhut von unbekanntem Fachpersonal, wie gehen sie den Gang anschließend wieder zurück? Traurig? Anders verzweifelt als vorher? Vielleicht erleichtert?
„Das kommt extrem selten vor“, sagt Michael Abou-Dakn wenig später in seinem Büro im Erdgeschoss, handfeste Zahlen zur Babyklappe möchte er nicht nennen. Darauf habe man sich berlinweit verständigt. „Die Klappe ist ein Marker. Für Paare, die so verzweifelt sind, dass es sonst zu Schlimmerem kommen würde.“
Seit 2005 leitet er die Geburtsklinik im St.-Joseph-Krankenhaus. Und unterscheidet sich vom Halbgott-in-Weiß-Klischee durch erstaunlich unmedizinische Töne. „Ich bin beseelt davon, dass Geburtshilfe etwas Natürliches ist und dass man Krankenhaussysteme eigentlich nur dafür nutzen muss, den Notfall zu managen.“
"Paare wollen autonom sein"
Bei werdenden Eltern trifft das einen Nerv, der Andrang ist riesig. Mit 4157 Geburten war das Tempelhofer Krankenhaus auch 2017 wieder die geburtenstärkste Einzelklinik Deutschlands, 2016 kam hier mehr als jeder zehnte kleine Berliner zur Welt – vor 53 Jahren auch Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller. „Die Paare wollen autonom sein, wollen die liebevollen Kompetenzen der Hebammen und erst dann ärztliche Kunst, wenn diese gefordert ist“, erklärt Abou-Dakn sich den Ansturm.
So auch dieses eine Paar, ach, die Geschichte erzähle er so gern. Und vermutlich ebenso oft. Die beiden kamen hier an, sie in den Wehen, er mit blauem Auge. Im Auto seien die Presswehen losgegangen, er habe sich über seine schreiende Frau gebeugt, um sie zu halten, da plötzlich hätten zwei junge Männer durchs Autofenster auf den vermeintlichen Gewalttäter eingeprügelt. Nein, nein, rief dieser, meine Frau bekommt ein Kind! Wie es der Zufall will, war einer der beiden Männer Sanitäter, und lachend sei das Paar im Kreißsaal angekommen. Da freut sich auch der Chefarzt.
Und erzählt, wie viel in den letzten 30 Jahren bei der Geburtshilfe passiert sei. Anfangs habe er noch gelernt, dass der Kreißsaal eine Art Intensivstation sei. Und noch immer würde in vielen Kliniken allen Frauen, die durch die Tür des Kreißsaals kommen, ein Venenzugang gelegt – routinemäßig, für eventuell auftretende Komplikationen. „Das haben wir jetzt geändert“, sagt Abou-Dakn. Und gibt aber zu, dass der Prozess des Umdenkens – gerade bei älteren Kollegen – etwas, nun ja, langwieriger sei.
Von all den Widrigkeiten des Davor und Dabei ist im Danach auf der Wochenbettstation eine Etage höher nichts zu spüren. Die Kinder sind geboren, man hört sie krähen, Väter schieben Rollbettchen durch die Gänge, als gingen sie mit einem Hund Gassi. Mona Kaufmann (Name geändert) sitzt im Bett und hält ihren schlafenden Valentin im Arm.
Vor drei Tagen brachte die 32-jährige Lehrerin aus Wedding ihr zweites Kind zur Welt. Wedding? Auch nicht der nächste Weg. „Meine Beleghebamme, die auch schon die Geburt meiner Tochter begleitet hat, kooperiert mit dem St.-Joseph“, erklärt sie. Außerdem fühle sie sich hier wohl, sagt Mona Kaufmann, mit diesem neugeborenen Müttern eigenen Gesichtsausdruck aus Beseeltheit und Übernächtigung.
Den Schwestern könne man „jede blöde Frage“ stellen. Was sie ihnen hoch anrechnet, denn durch Gesprächsfetzen bekomme auch sie in ihrer Babyblase einiges mit über den eklatanten Personalmangel. „Ich kenne das ja aus der Schule – man bemüht sich, alles unter einen Hut zu bekommen, aber wünscht sich eigentlich Entlastung.“ Trotzdem erlebe sie die Schwestern als liebevoll und bemüht.
Eklatanter Personalmangel
Schwestern, Pfleger, Geburtshelfer – eigentlich fehlt es an allen. Dass der Senat nun im Rahmen des „Aktionsprogramms für eine sichere und gute Geburt“ die berlinweit 202 Hebammen-Ausbildungsplätze auf 332 aufstocken will, davon haben die Geburtshelferinnen an diesem Vormittag noch nicht viel.
Sieben „Gebärstuben“, wie es an jeder Tür im heiteren Stil von Kita-Garderobenhaken prangt, gibt es, belegt sind momentan vier. Obwohl die Türen gut gedämmt sind, dringt Schreien und Keuchen auf den Flur. In Gebärzimmer 4 wird zweistimmig getönt, die Geburtshelferin scheint den Ton anzugeben.
Hebamme Sylke Otte steht übernächtigt, aber scheinbar tiefenentspannt im Flur, jedoch mit den Ohren sichtlich in allen vier Kreißsälen gleichzeitig. „Da kommen gleich zwei Kinder, also, ich habe wenig Zeit“, sagt sie freundlich. Aufgeregt? „Nein. Aber ich freue mich.“ Heute kämen sie gut aus, aber normalerweise sei das Personal immer knapp.
Was ihr Chef kurz zuvor folgendermaßen formulierte: „Wünschenswert wäre eine Eins-zu-eins-Betreuung. Zurzeit ist das Ziel, dass maximal zwei Frauen pro Hebamme betreut werden. Das ist häufig zu machen, wenn Frauen in unterschiedlichen Geburtsphasen sind“, klingt bei Sylke Otte übersetzt so: „Dass eine Hebamme wirklich nur zwei Frauen betreut, haben wir in Berlin, ich würde mal sagen, in Deutschland, praktisch nirgends.“
Sogleich tutet es, die Frau aus der 5 hat den Knopf gedrückt, Sylke Otte muss wieder rein. „Die macht das super!“, sagt sie noch, dann verschwindet sie hinter der Tür. Vorn an der Anmeldung steht ein junges Paar vor der Wand mit den Babyfotos. Morgen soll das Kind kommen, sagt die Frau aus Moabit. „Ich habe meinen Sohn hier bekommen und will meine Tochter auch hier kriegen.“ Und hofft, dass es dann auch klappt.
Zweite Klinik für den Notfall anschauen
Ob denn auch schon Frauen in Wehen abgewiesen wurden? „Ja“, sagt Abou-Dakn, „aber zum Glück passiert das nicht mehr häufig“. Oft sei es ein Organisationsproblem – welche Hebamme betreut gerade welche Frau in welcher Geburtsphase in welchem Kreißsaal. „Wir bitten die Paare auf unseren Info-Abenden, sich für den Notfall eine zweite Klinik auszusuchen.“
Die Geschichte des Babys, das im Juli 2017 auf einem Parkplatz vorm Neuköllner Vivantes-Klinikum zur Welt kam, das sei einfach „unprofessionell“ gelaufen. Die Frau wurde von der Klinik alleine losgeschickt, das dürfe nicht passieren. Aber: „Umso schöner finde ich es, dass auch solche Geburten relativ komplikationslos ablaufen. Die Mutter hatte offenbar Vertrauen in ihre Selbstkraft. Denn Geburtshormone sind sehr scheu. Sobald Stress auftritt, hören die Wehen auf.“
Abou-Dakns freundlichem, offenem Gesicht kann man eine gewisse Ähnlichkeit mit einem etwas fortgeschrittenen George Clooney nicht absprechen, nur ohne das filmreife Make-up: Tiefe Augenringe verraten, dass er in der Nacht zuvor wieder bis halb vier im Kreißsaal stand – er begleitete eine Steißgeburt, und zwar: eine natürliche.
Durchaus nicht die Norm an Krankenhäusern, die meisten Ärzte planen bei Kindern, die im Uterus „sitzen“, sich also vor der Geburt nicht kopfüber gedreht haben, im Vorfeld einen Kaiserschnitt. Was nicht nur an den Ärzten liege. Etwa die Hälfte der Mütter könne sich eine vaginale Steißgeburt nicht mehr vorstellen.
Die kanadische „Hannah-Studie“ aus dem Jahr 2000, derzufolge Todesfälle und Komplikationen bei natürlichen Steißgeburten häufiger vorkämen als bei Kaiserschnitten, sei in den Köpfen sehr viel präsenter als ihre Widerlegung wenige Jahre später.
Kaiserschnitt oder nicht?
Überhaupt die Kaiserschnitte: Mit 27 Prozent liegt die St.-Joseph-Klinik unter dem Bundesdurchschnitt von etwa 30 Prozent und konnte die Rate in den vergangenen Jahren auch senken. Es sei eine „Milchmädchenrechnung“, dass Kliniken mit Kaiserschnitten mehr verdienten als durch natürliche Geburten, sagt Abou-Dakn – die Frauen blieben ja auch länger in der Klinik, die Ausgaben seien höher.
Aber er kämpfe für eine andere Finanzierung von Geburtshilfe, denn eine Frau zu ermutigen und zu bestärken, in einer normalen Geburt zu bleiben, sei zeit- und personalintensiv. „Da fragt man sich, wieso wird Technik gut bezahlt, Personalzuwendung aber nicht?“
Vielleicht ist das der Grund, weshalb schwangere Berlinerinnen überdurchschnittlich häufig ihr Kind nicht im Kreißsaal zur Welt bringen: Die Rate von außerklinischen Geburten, die etwa zu Hause oder im Geburtshaus stattfinden, liegt in der Hauptstadt mit etwa 4 Prozent deutlich über den bundesweiten rund 1,3 Prozent. Aber so gut Abou-Dakn das Konzept der Geburtshäuser findet, so wichtig wäre ihm die Anbindung an Krankenhäuser, aus zwei Gründen.
Erstens: Für Geburtskliniken sei es nicht leicht, wenn sich in unmittelbarer Nähe ein autonomes Geburtshaus befindet und die medizinischen Einrichtungen dann plötzlich für Notfälle zuständig sind. Denn im Ernstfall – die Verlegungsrate in diesen außerklinischen Einrichtungen liege bei 14 bis 30 Prozent – gebe es ein Hin- und Hergerenne, zum Nachteil der Kinder- und Frauengesundheit. Das könne man gemeinsam viel näher und besser strukturieren.
"Wir Ärzte denken pathologisch"
Der viel wichtigere Punkt sei ihm aber: Wenn Ärzte nur noch im Notfall eine Geburt begleiten, erleben sie keine natürlichen mehr. Dadurch würden sie ängstlicher und übergriffiger. „Wir Ärzte denken pathologisch. Wir lernen vom ersten Tag des Studiums an, überall die schrecklichsten Dinge zu vermuten – auch, wenn alles wunderbar ist. Für Hebammen hingegen steht die Selbstkraft der Frau und des Kindes im Vordergrund. Beides zusammenzuführen ermöglicht eine natürliche Geburt, bei der im Notfall nutzbringend interveniert werden kann – wenn man es unhierarchisch macht.“
Vom Senat bekommt die Klinik nun Gelder, um ihren Kreißsaal auszubauen. Auf dem bestehenden ist eine zweigeschossige Aufstockung geplant, ein sogenanntes „Birth Center“, das noch stärker hebammenbetont sein soll. Eine Art Hybrid also aus Kreißsaal und Geburtshaus.
Auch vom Land finanziert: Die Babylotsen. Sie helfen werdenden oder jungen Eltern bei den Herausforderungen ihres neuen Lebens, das geht laut Flyer von Jobcenter-Anträgen über Kursangebote bis hin zur Hebammensuche. Was nicht im Flyer steht: Sie spüren psychosoziale oder wirtschaftliche Risikofaktoren auf, die einer Bindung zwischen Eltern und Kind im Weg stehen könnten.
Frühe Bindung – die Zauberformel. Einmal, erzählt Abou-Dakn, habe er eine Journalistin hinauskomplimentiert, weil sie ständig fragte, wo denn nun das Zimmer mit den ganzen Babys sei. Absurder Gedanke, bedenkt man, dass Rooming-in, dass also Babys und Eltern gemeinsam untergebracht werden, mittlerweile völlig normal ist. „Gar keine Bindung ist selten“, sagt Lisa Daesler, Psychologin in der Klinik.
Aber etwa 15 bis 20 Prozent der Frauen entwickelten eine Wochenbettdepression. Momentan deckt Daesler allein vier Stationen ab und findet es ein Unding, dass etwa die Babylotsen nur projektbasiert finanziert werden. „Diese psychosozialen Dienste müssen ins Regelsystem aufgenommen werden, da kann man präventiv so viel machen.“ Damit an dem auffälligen Schild auf dem Weg vom Bahnhof vielleicht jeder irgendwann nur noch vorbeiläuft.