Im Selbstversuch bei der BVG: Ein Tag als Straßenbahnfahrer
Straßenbahnfahren ist anstrengend – für den Fahrer. Vor allem bei der Ausbildung im Simulator. Ein Selbstfahrungstrip.
Der weiße BMW in der Invalidenstraße ist Schrott. Gut, ich habe vor Schreck mit dem Joystick Vollgas gegeben statt zu bremsen und mangels Alternativen sinnlos aufs Anwesenheitspedal gestampft, aber warum biegt der auch bei meiner Premiere als Straßenbahnfahrer direkt vor meiner 52-Tonnen-Nase links ab über die Gleise? Zum Glück sind die Trümmer schnell beseitigt: Ein Knopfdruck der Chefin genügt. Vor Schreck vergesse ich an der nächsten Haltestelle zwar noch, meine Fahrgäste aussteigen zu lassen, aber an der Friedrichstraße bin ich mental wieder fahrtüchtig. Allerdings nach einer halben Stunde dann doch reif für den Schichtwechsel.
Seit im vergangenen Jahr sogar Fahrten wegen Personalmangels ausfallen mussten, bildet die BVG scharenweise Straßenbahnfahrer aus – 139 allein in diesem Jahr, 83 schon in der ersten Hälfte; ganz überwiegend Quereinsteiger. Sie alle müssen hier, auf dem Betriebshof Lichtenberg, durch diesen halbrunden, dunklen Neubau, in dem der Simulator steckt: Die kompletten Führerstände des modernisierten Modells „GT6U“ sowie der „Flexity“. Vom Scheibenwischer bis zu den Außenspiegeln (rechts sogar mit projiziertem Bild) ist alles da und dank einer Hydraulik fürs Kurven- und Bremsgefühl so realistisch, dass man dieses Berlin auf dem Frontscheibenpanorama nach wenigen Minuten für das echte hält.
Alles wie in der Realität
Man wundert sich also nicht, sondern bremst demütig, wenn beispielsweise an der Schönhauser Allee ein Geländewagen mit OHV-Kennzeichen direkt vor der Bahn auf die Linksabbiegerspur zieht oder ein Reisebus erst rechts vorbeibrummt und dann zum Rechtsabbiegen so weit ausholt, das sein Heck links in den Gleisbereich schwenkt. Wetter und Fahrgastandrang lassen sich ebenso einstellen wie Tag und Nacht.
In meinem Fall wird es an der Eberswalder plötzlich neblig, aber wenigstens sind die Schienen trocken. Es bremst sich ohnehin schon verdammt schlecht. Auch in diesem Punkt entspricht der Simulator dem wahren Leben. Der Fahrer des zu weit links im Stau stehenden SUV, dem ich ebenfalls in der Invalidenstraße mit unterschätztem Schwung noch ins Heck gerumpelt bin, weiß, wovon die Rede ist.
Etwa ein Drittel des Tramnetzes ist im Simulator gespeichert. Während ein Schüler fährt, verfolgen seine Mitschüler – meist drei – an Monitoren das Geschehen. Nebenan sitzt vor einer weiteren Bildschirmbatterie die Verkehrsleiterin Petra Kuder, die für die Ausbildung verantwortlich ist und nicht den Eindruck macht, als würde sie Leuten den Tram- Führerschein schenken. „Wir haben da ein paar Ereignisse gesetzt“, hatte sie bei der Einweisung gesagt.
43 Tage dauert die Ausbildung: neun für Theorie und Straßenverkehrsordnung sowie vier für die Fahrzeugtechnik, jeweils mit Prüfung. Dann 20 in einem Straßenbahnmodell und neun in einem anderen. Dann praktische Vorprüfung und die eigentliche Prüfung. Höchstens ein Mal darf man durchfallen. Der Praxis-Abschluss dauert eine halbe Stunde.
Klingt wenig, aber „da hat man alles drin, das kann ich garantieren“, sagt Petra Kuder. Auf die Berliner Verkehrsteilnehmer ist Verlass; Ereignisse brauchen nicht extra gesetzt zu werden, sondern kommen einfach vor: Gefahrenbremsung, Weichen mit Tempolimits, Ampeln, Begegnungsverbote in manchen Kurven. Und irgendwann wird der Prüfer „Gefahr“ brüllen und möchte dann eine beherzte Vollbremsung erleben.
Ständig für andere mitdenken
Außerdem sind zwei Macken präpariert. Der Fahrer muss dann sehen, wie er seine Bahn etwa von der Kreuzung kriegt – und wissen, ob die Fahrgäste an Bord bleiben dürfen. Bei sicherheitsrelevanten Problemen müssen sie raus.
Während die echten Fahrschüler im Simulator mit Überwachungskamera und Mikrofon allein sind, sitzt neben mir Rocco Zwick, der seit 1986 Fahrlehrer ist und auch nicht ungehalten wird, als ich bei Dunkelorange über eine Kreuzung fahre. Ist eben Abwägungssache, ob man lieber hinten die Rollatoren purzeln lässt oder vorne mal was riskiert, finde ich. Allerdings gibt Zwick zu bedenken, dass man bei einer schon lange grünen Ampel durchaus mit Gelb rechnen darf.
Sonst weist er mich auf die Tempolimits hin, die in der Oberleitung hängen, und auf die Weichen, die ich mit einem Kippschalter bitte rechtzeitig stellen soll. Er mahnt auch freundlich, an Haltestellen ganz vorzufahren, damit auch die Fahrgäste an der letzten Tür rein- und rauskommen.
Ich hatte einen eher ruhigen Simulatortag erwischt, aber gefühlt war trotzdem dreimal so viel zu beachten wie als Autofahrer. Vor allem das ständige Mitdenken für andere und die fehlende Chance, auch nur ein bisschen ausweichen zu können, strengen an. Da Straßenbahnen im Unterschied zu S- und U-Bahn keine technischen Zugsicherungen haben, kann ein Fahrer auch mehr Schaden anrichten, wenn er beispielsweise zu schnell, bei Rot oder über eine falsch gestellte Weiche fährt. Petra Kuder definiert den Prüfungsmaßstab so: „Wenn der Fahrlehrer zur Gefahrenabwehr eingreifen muss, hat es sich für den Schüler erledigt.“ Und auch wer bestanden hat, wird anschließend noch mindestens zwölf Tage von einem Lehrfahrer begleitet. „Betriebseinweisung“ heißt das bei der BVG.
Die Unfallbilanz der Polizei spricht für die Qualität dieser Ausbildung: Von den jährlich rund 300 Unfällen mit Straßenbahnbeteiligung trifft deren Fahrer oder die Fahrerin – von den aktuell 1034 Tramfahrern bei der BVG sind 193 Frauen – in vier von fünf Fällen keine Schuld. Und ich fahre lieber wieder hinten mit.