Berlin-Neukölln: Ein Spezialteam für den Kinderschutz
Die siebenköpfige Neuköllner "Feuerwehr des Kindeswohls" greift ein, wenn der Verdacht besteht, dass sich Minderjährige in Gefahr befinden.
Die Badewanne war längst voll, aber das Wasser lief immer noch. Es sammelte sich auf dem Boden, ein Nachbar bemerkt Wasserflecken an der Decke, auf sein Klingeln reagierte niemand, und irgendwann drehte ein Polizist den Wasserhahn ab. Dann sah er das Kleinkind, Sekunden später wählte er die Nummer 90239-55555, die Nummer bei Verdacht auf Kindeswohl-Gefährdung. „Kommt bitte sofort“, sagt er, „hier ist ein unversorgtes Kleinkind.“ Die Mutter, mit schwerer psychischer Störung, war bereits auf dem Weg in eine Klinik. Sie war nicht in der Lage, den Hahn zuzudrehen.
Der Anruf landete im Büro eines früheren Krankenhauses in Neukölln. Topfblumen und ein vergoldeter, altmodischer Wecker stehen auf dem Fensterbrett, in der Nähe des Telefons mit dem Anschluss 90239-55555. In diesem Büro sitzt das Kinderschutz-Team des Bezirksamts Neukölln, so lautet die offizielle Bezeichnung. Falko Liecke (CDU), Bezirksstadtrat für Jugend und Gesundheit, sagt es eingängiger: „Hier ist die Feuerwehr des Kindeswohls.“
Die sieben Mitarbeiter dieser speziellen Feuerwehr haben eigentlich nur eine Aufgabe: eingreifen, wenn es den Verdacht gibt, die psychische und körperliche Gesundheit eines Kindes oder eines Jugendlichen sei in Gefahr. Die Meldung zu dem Kleinkind war eine von insgesamt 1040, die 2017 eingingen.
Hier bleibt nichts liegen
Es gibt natürlich auch den Regionalen Sozialen Dienst (RSD), der greift auch sofort ein, wenn eine Meldung über mögliche Kindeswohl-Gefährdung kommt. Aber die RSD-Mitarbeiter müssen dann ihre restliche Arbeit liegen lassen. Hilfspläne erstellen oder Konferenzen vorbereiten, das muss dann warten. Und Beratungsgespräche mit Eltern müssen sie in dem Fall natürlich auch kurzfristig absagen.
Beim Kinderschutz-Team bleibt nichts liegen. „Die Kollegen kümmern sich ausschließlich um Kinderschutz“, sagt Liecke. „Für die Kollegen vom RSD ist das eine große Entlastung.“ Zumal beim RSD in Neukölln sechs Planstellen nicht besetzt sind. Allerdings wurden die Teammitarbeiter nicht vom RSD abgezogen, sie wurden ergänzend eingestellt.
Liecke hatte die Gruppe mit Experten gegründet. Neben Neukölln haben nur Spandau, Reinickendorf, Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte solche Kinderschutz-Teams. Seit 1. Januar 2014 arbeitet das Neuköllner Team; 2015 landeten noch 895 Meldungen in dem Büro, 2016 schon 1121.
In Kontakt mit den Menschen kommen
Sabine Rindsfüßer-Rose leitet die Gruppe, sie sitzt an einem schmucklosen Tisch und sagt: „Wir sind von Montag bis Freitag von 8 bis 18 Uhr zu erreichen, die Jugendämter sind nicht so lange besetzt, auch das ist ein Vorteil.“ Meldungen, die später kommen, gehen an die zentrale Kinderschutz-Hotline.
Meldungen reichen von Vernachlässigung bis zu sexuellem Missbrauch. Am 27. Juni 2017 zum Beispiel meldete sich eine 17-Jährige und gab an, sie sei sexuell missbraucht worden. Oder ein Arzt teilte mit, ihm sei eine Mutter aufgefallen, die ihr Baby im Sommer in mehrere Schichten Kleidung gesteckt habe, eine Übervorsorge, die ihn stutzig gemacht habe.
Egal, wer sich meldet, der Ablauf ist immer gleich. Drei Kollegen im Büro bewerten die Hinweise, überlegen Maßnahmen, dann prüfen zwei Mitarbeiter vor Ort, was getan werden muss. „Am besten ist es, zusammen mit den Eltern zu klären, wie man am besten vorgeht“, sagt Sabine Rindsfüßer-Rose. Ein respektvoller Umgang, gerade mit schwierigen Eltern, ist hilfreich. „Wir wollen ja in Kontakt mit den Menschen kommen.“
Die Zahl der schweren körperlichen Misshandlungen ist nicht gestiegen
Mitunter ist es aber auch nötig, dass ein Kind in Kontakt mit einem Arzt kommt. „Wenn wir ein Hämatom am Kopf feststellen, wird es ärztlich untersucht“, sagt die Team-Leiterin. Bei ganz schweren Fällen wird das Opfer in der Gewaltschutz-Ambulanz der Charité untersucht. In einigen Fällen wird das Kind sofort aus der Obhut der Eltern genommen. „Doch die Zahl der schweren körperlichen Misshandlungen ist nicht gestiegen“, sagt Sabine Rindsfüßer-Rose. „Dafür die der Vernachlässigungen.“ Die überfürsorgliche Mutter, das stellte sich heraus, litt an Depressionen und hatte bloß extreme Angst um ihr Kind. Sie erhielt einen Familienhelfer.
Der Dienstwagen, mit dem Team-Mitarbeiter zu ihr gefahren waren, ist neutral, ohne Aufschrift „Kinderschutz“ oder „Jugendamt“. Erstens wegen neugieriger Nachbarn, zweitens fühlten sich viele Eltern durch ein beschriftetes Auto gebrandmarkt. Und dann werden sie aggressiv. Aber nicht jede Meldung entpuppt sich als Fall von Kindeswohl-Gefährdung. Nur 70 Prozent fallen darunter, in 15 Prozent besteht Hilfsbedarf, die restlichen 15 Prozent sind falscher Alarm.
Der Fall der übergelaufenen Badewanne gehört freilich zu den 70 Prozent. Das Kind wurde sofort in Obhut genommen.