Debatte um historische Mitte von Berlin: Ein Ort, zwei verschiedene Zukunftswelten
Monatelang wurde über das leere Areal um die Marienkirche eine Bürgerdebatte geführt. Die Gretchenfrage lautet: Soll das Quartier luftig bleiben? Oder sollte es auf historischem Grundriss wieder eng bebaut werden? Am Samstag wurden zehn Leitlinien vorgestellt.
Eines zumindest kann man für die Stadtdebatte „Alte Mitte – neue Liebe?“ auf der Habenseite verbuchen: Zehn „Bürgerleitlinien“ sind übersichtlicher als fünfzehn. Anfang September hatte Senatsbaudirektorin Regula Lüscher diese 15 vorläufigen Thesen zur neuen Mitte publik gemacht, als Halbzeitergebnis der Debatte. Am Sonnabend nun, nach weiterem Online-Dialog, nach Bürgerwerkstatt, Fachkolloquium und mehr, konnte sie am frühen Nachmittag gemeinsam mit Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD) das auf zehn geschrumpfte Bündel der Maximen vorstellen, auf das sich die Teilnehmer der Debatte als, wenn man so will, kleinsten gemeinsamen Nenner jenseits aller bestehenden Unterschiede geeinigt haben.
Oder auch nicht: Denn schon – Berlin bleibt doch Berlin – wurde parallel erheblicher Widerspruch laut, kritisierte die Gesellschaft Historisches Berlin, dass die Leitlinien „das Ergebnis der Stadtdebatte nur unzureichend“ widergäben, und stellte schon mal vorsorglich klar, dass der Verein und „alle anderen interessierten Bürgervereine der Berliner Mitte“ diese nicht mittragen werden.
"Die Zeit drängt", sagt der Senator
Die Gretchenfrage im Konflikt: „Nun sag, wie hast du’s mit der Historie?“ Soll das Areal um die Marienkirche, begrenzt von der Karl-Liebknecht-Straße, dem Roten Rathaus, dem Alexanderplatz und der Spree, eine Bebauung erhalten, die sich an der im Weltkrieg zerbombten und dann gänzlich plattgemachten Vergangenheit orientiert? Soll also die Historische Mitte rekonstruiert werden? Oder soll alles so luftig bleiben, wie es ist? Mit moderater Bebauung und nicht so engbrüstig wie im Straßengewirr des 18. und 19. Jahrhunderts?
Die Zeit drängt, daran erinnerte Geisel mit Blick aufs entstehende Humboldt-Forum. Etwa 3,5 Millionen Besucher pro Jahr seien nach dessen Eröffnung in der alten Mitte zu erwarten. Da habe man die Debatte, was mit dem angrenzenden Areal geschehen solle, nicht aufschieben können und klären wollen: Wie stellen sich die Berliner dort ihre Stadt vor? Eine neue Form der Debatte habe man versucht, offen im Ergebnis, was neue Maßstäbe in der Bürgerbeteiligung gesetzt habe. Nach einem halben Jahr Diskussion gebe jetzt „eine gemeinsame Vision für die Berliner Mitte“, sagte der Senator.
Es gibt viele Wünsche: Grüne Oase, Ort für Kreativität und Demokratie
Die „Bürgerleitlinien“ sollten keine Form vorgeben, in der später gebaut oder nicht gebaut wird, vielmehr allgemeine Leitsätze für das Areal formulieren. Ein „Ort für alle“, öffentlich also, solle es sein, an dem man sich, wie Lüscher konkretisierte, auch mal aufhalten könne, ohne etwas zu konsumieren. Er solle die Geschichte der Berliner Mitte und damit Berlins besser sicht- und erlebbar machen, quer durch die Jahrhunderte. Ein „Ort der Demokratie“ und der Debatten solle es sein, besonders der Platz vor dem Roten Rathaus, zugleich aber auch einer der Kultur und Kreativität.
Weiter eine „Grüne Oase“ der Erholung, dessen Grünflächen aufgewertet und entsprechend gestaltet werden sollen. Daraus ergibt sich bereits die Forderung nach einer Verkehrsberuhigung auf Spandauer und Karl-Liebknecht-Straße. Die Nähe zum Wasser soll stärker spürbar, das Spreeufer daher für den Aufenthalt geöffnet werden. Die Sichtachsen zwischen Fernsehturm und Spree sowie zwischen Rathaus und Marienkirche sollen erhalten bleiben, was massive Querriegel-Bebauung ausschließt. Und schließlich soll die Mitte ständig weiterentwickelt werden, durch flexible und temporäre Nutzungen „zukunftsfähig und dynamisch“ bleiben.
Rund 12 000 Bürger beteiligten sich an der Debatte
Rund 12 000 Personen beteiligten sich an der Debatte, die, wie Lüscher zugab, nicht repräsentativ für die Bevölkerung seien. Aber es sind eben keine Bürgerbeschlüsse, sondern nur Leitlinien, die 2016 dem Abgeordnetenhaus vorgelegt werden sollen, ergänzt durch Expertengutachten. Denn so wenig überraschend der Ruf nach Verkehrsberuhigung auch ist – es bleibt die Frage, was angesichts künftiger Besucherströme machbar ist.
Zur Bilanz der Debatte gehören auch Thesen, die mehrheitlich abgelehnt wurden oder unentschieden blieben, dazu zählte auch die Forderung nach einer Rekonstruktion des historischen Quartier-Grundrisses, vertreten etwa durch die Gesellschaft Historisches Berlin. Dessen Vorstandsmitglied Gerhard Hoya kritisierte, dass sich die Teilnehmer der Debatte keineswegs einvernehmlich auf jene Leitlinien geeinigt hätten, die das Ergebnis der Debatte nur unzureichend darstellten. Mehr als ein Drittel hätten etwa dem Ziel widersprochen, das Quartier zur grünen Oase aufzuwerten.