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Der Kampf um ein Stück Geschichte.
© Reuters

East Side Gallery: Ein Kulturkampf ist entbrannt

6000 Demonstranten sind gekommen. Sie protestieren gegen – ein Loch. Das ist in die East Side Gallery gerissen worden, weil ein Hochhaus entstehen soll. Doch längst geht es nicht mehr um ein Bauvorhaben.

Es ist natürlich die totale Ironie. Erst konnte es den Berlinern nicht schnell genug gehen, die Mauer loszuwerden. Überall stand sie im Weg. Jetzt wollen sie sie plötzlich unbedingt behalten. 6000 Menschen versammeln sich in diesem Begehren am Sonntag an der East Side Gallery, dem letzten zusammenhängenden Stück Originalmauer. Das Wetter ist herrlich, die Sonne scheint, die Menschen hören Musik, und sie protestieren dagegen, dass Lücken in ihr Leben gerissen werden.

Das hat wohl damit zu tun, dass die Mauer, um die es hier geht, gar nicht mehr die Mauer ist, sondern ein Manifest des Umbruchs. Als das Bollwerk 1989 seinen Sinn verloren hatte, waren es zahlreiche Künstler, die dem Betonband einen neuen gaben. Sie malten gegen die Zurückweisung an, die die Mauer einst dargestellt hatte. Wünsche müssten erfüllt werden, lautet die Botschaft der Bilder. Malen ist Freiheit. Nur deshalb steht die Mauer zwischen Ostbahnhof und Oberbaumbrücke noch, weil sie jetzt für etwas steht. Und deshalb auch fordert Schauspieler Ben Becker auf der Demonstration, dass Klaus Wowereit die Mauererhaltung zur Chefsache machen müsse.

Aus der Mauer ist ein Kultursymbol geworden. Und bei Kultur hört in dieser Stadt der Spaß auf.

Wowereit macht die East Side Gallery am Montag zur Chefsache. Der Teilabriss sei nicht notwendig erklärt er. „Entsprechend müssen Alternativen zur Erschließung der an der Spree gelegenen Grundstücke gefunden werden.“ Wowereit will zwischen den Interessen des Bauherrn, der an der Mauer einen Wohnturm errichten will, und dem Bezirksamt vermitteln.

Vier Tage vor dieser Wendung waren Baumaschinen angerückt, um Segmente aus der East Side Gallery herauszufräsen. Sie sollten an anderer Stelle der Mauer wieder hinzugefügt werden. Aktivisten unterbrachen den Vorgang. Ein erster Erfolg. Seither weiß niemand mehr, wie es weitergehen soll und was der Aufruhr zu bedeuten hat.

Denn Gut und Böse scheinen in dieser Auseinandersetzung eindeutig verteilt zu sein. Da ist der Investor Maik Uwe Hinkel, der den Part des Bösewichts hätte spielen können. Aber er sagt jetzt, dass ihm gar nichts an an der Zerstörung der Mauer liege. Er führe nur den Wunsch des Bezirks aus, die Mauer an zwei Stellen für Passanten und die Bewohner des an der Stelle geplanten Hochhauses zu öffnen.

Und die Aktivisten des Mediaspree-Versenken-Bündnisses, die sich in diesem Kulturkampf als die Guten sehen, streiten eigentlich für einen freien Zugang zur Spree. Der Fluss sei Lebensqualität, sagen sie, der Fluss sei für alle Menschen da. Aber die Mauer, die den Blick versperrt und den Zugang behindert, sie soll jetzt bleiben. So wollen sie es. Es gehe dabei auch um das Gefühl der Bedrohung, das nicht verschwinden dürfe, sagt ein Aktivist am Donnerstag auf die Frage, was gegen einen Durchgang spreche, es gehe um das historische Gefühl, vor einer geschlossenen Mauer zu stehen.

Die Aktivisten sehen sich auf der hellen Seite der Macht

Die Widersprüchlichkeit der Positionen verkörpert am ehesten Franz Schulz. Er ist ein Grüner und Bürgermeister von Friedrichshain-Kreuzberg und gewissermaßen dagegen, dafür zu sein. Oder auch umgekehrt. So genau weiß er das derzeit selbst nicht. Als früherer Baustadtrat war er an sämtlichen Planungen des Areals seit 2001 beteiligt. Jetzt, da diese umgesetzt werden sollen, stellt er sich auf die Seite der Gegner.

Die Fraktionschefs von SPD und CDU im Abgeordnetenhaus werfen ihm deshalb „berlinschädigendes Planungschaos“ vor. Der SPD-Landeschef Jan Stöß machte ihn für die eskalierte Situation verantwortlich. „Dem Grundstückseigentümer von Seiten des Bezirks den Abriss der Mauer aufzutragen und sich dann an die Spitze der Protestbewegung zu setzen, ist gelinde gesagt scheinheilig.“

Rückblende: Dienstag vergangene Woche, ein windig-kalter Vormittag, die Retter der East Side Gallery laden zur ersten Pressekonferenz. Sie wissen, dass die Baumaschinen anrücken werden. Und eigentlich wollten sie auf dem umstrittenen Grundstück mit der Presse sprechen, aber weil ein Aktivist im Vorfeld zu laut in einem Interview darüber nachgedacht hatte, das Baugrundstück zu besetzen, hat der Eigentümer gehandelt und prophylaktisch Hausverbot erteilt. So steht das versprengte Häufchen am Dienstag an der Kreuzung Mühlenstraße Ecke Marianne-von-Rantzau-Straße, zehn Meter entfernt von der schwarzen Fassade der neuen Deutschlandzentrale des Mercedes-Benz-Vertriebs. „Diese Darth-Vader-Türme“ raunt ein junger Mann.

Die Aktivisten sehen sich auf der hellen Seite der Macht. Wobei das mit der Macht eine prekäre Angelegenheit ist. Auf der anderen Straßenseite wacht die Polizei über Hinkels Grundstück, und sie selbst haben nichts in der Hand. Die politischen Sachentscheidungen sind längst gefallen, die Verträge unterschrieben, das Baurecht erteilt.

Die Aktivisten haben ein kleines weißes Pavillonzelt aufgebaut, durch das der Wind pfeift. Sie zeigen den Brief, in denen der Investor mit Strafanzeigen droht. Und sie appellieren, Club-Mate-Flaschen in der Hand. Hinter vorgehaltener Hand räumen sie ein, keine großen Hoffnungen zu haben. Was bleibt, ist politische Moral und die Geschichte.

„Hier sind Menschen gestorben, an der Stelle jetzt Luxuswohnungen hinzustellen ist so, als würde man eine Tankstelle auf die Museumsinsel bauen“, sagt der Clubbetreiber Sascha Disselkamp. Ein starker Satz, Disselkamp wird ihn noch mehrfach an diesem Tag sagen.

Aber stark genug, um fünf Tage später nach Polizeiangaben 6 000 Menschen zu einer Demonstration zu mobilisieren? Welches Unrechtsbewusstsein wird an diesem Mauerstreifen verletzt?

Grünflächen oder Luxuswohnungen?

Der Konflikt um die Freiluftgalerie hat eine über 20-jährige Geschichte. Ein 1992 vom Land Berlin gestarteter städtebaulicher Wettbewerb für das Friedrichshainer Spreeufer hatte zwar die Bebauungsmöglichkeiten im Fokus, aber rechtsverbindlich wurden die Vorgaben erst durch bezirkliche Bebauungspläne. „Das erste Baurecht wurde schon 2005 festgesetzt“, sagte eine Sprecherin der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Damit seien Tatsachen geschaffen worden – ein Jahr vor dem Gedenkstättenkonzept des Landes, auf dessen Grundlage „man wahrscheinlich anders mit dem Grundstück umgegangen wäre“. Das am Bebauungplanverfahren beteiligte Landesdenkmalamt habe damals zwar Vorbehalte gegen den Durchbruch in der East Side Gallery geäußert, sie aber zugunsten der Erschließung von Brücke und Grundstück zurückgestellt.

„Sind das da drüben die Bauarbeiter?“, fragt am Montagmorgen Ingrid Kühle und lugt misstrauisch über die Straße. Doch da steht nur ein Polizeitransporter, und die Beamten sind mehr damit beschäftigt, die Demonstranten vor dem Berufsverkehr als die Mauer vor einer aufgebrachten Meute zu beschützen. Etwa 50 Demonstranten hatten sich gegen sieben Uhr in der Früh am eingerissenen Stück der East Side Gallery eingefunden, darunter die 62-jährige Bewegungstherapeutin. Um vier Uhr morgens war sie aufgestanden und hatte sich mit leuchtend rotem Lippenstift und orangefarbener Schutzweste aufgemacht, die Mauer zu beschützen, um dann zu erfahren, dass die gefürchteten Bauarbeiter bis zum 18. März nicht mehr auftauchen würden. Erst an dem Tag soll eine Entscheidung fallen.

Sascha Disselkamp von der Clubcommission verkündet die frohe Botschaft durch ein Megaphon. Er steht vor der Lücke im Mauerwerk. Protestierende haben sie mit ihren Demo-Schildern vom sonntäglichen Massenprotest vollgestopft. Nun will das „Bündnis Eastside Gallery Retten“ die Atempause nutzen und am Montagabend bei einem Treffen in der Diskothek „Watergate“ mit dem Käufer des Nebengrundstücks verhandeln. „Es ist nicht der wichtigste Punkt, ob die Mauer geöffnet wird“, stellt er klar, „wir sind gegen die Kombination aus Mauerabriss und dem Bau von Hotels und Wohnungen im Todesstreifen.“

Bei frühmorgendlicher Kälte und strahlender Sonne trommeln und diskutieren die Aktivisten, Dampfwolken formen sich vor ihren Mündern. Einige haben schon ein langes Protest-Wochenende hinter sich. Daniel Stein, 25 Jahre alt, nutzt seinen Urlaub für die Aktionen. Früh aufstehen und was bewegen ist ihm lieber als zu Hause rumzuhängen, sagt er. Wie ein Marktschreier ruft er in die Gruppe: „Wer will noch ein Käsebrötchen?“ Viele Abnehmer gibt es nicht mehr. Es ist halb neun, die Demonstration ist beendet. Aber: „Wenn es sein muss, komme ich jeden Morgen um sechs hierher“, sagt Ingrid Kühle und ihre akkurat nachgezogenen Lippen formen ein Lächeln.

Zur selben Zeit will Stadtentwicklungssenator Michael Müller seine Pläne zur Entlastung des Wohnungsbaus vorstellen. Aber der Konflikt an der Mauer hat auch ihn erreicht. Er zieht eine eng bedruckte Chronik des Verhandlungspokers hervor, den seine Verwaltung zusammengetragen hat und bemerkt süffisant, dass der Bezirk zuletzt im Oktober angefragt habe, ob der Senat auch der Anlage von Grünflächen an der East Side Gallery zustimmen würde statt dem Bau von Luxuswohnungen – „und wir hätten nichts dagegen“, sagt Müller.

Franz Schulz hätte sich gegen die Baupläne des Investoren stellen müssen

Müller liebt Tatsachen, Fakten und Zahlen und eine weiße Weste. Dass er die Park-Idee überhaupt erwähnt, gibt ihm Gelegenheit, seine eigene unbeschmutzt zu lassen. Und die vielen Sitzungen und Beschlüsse, die es in den letzten knapp zehn Jahren in der Sache gab, fährt Müller fort, hätten nur eins belegt: Der Bezirk würde sich mit der Versetzung der Mauer arrangieren. 

Die SPD hat sich fein herausgewunden aus der Verantwortung.  Kein Wort entfährt den Fachleuten in der Partei zur historischen und politischen Bedeutung des Bauwerks. Stattdessen Fakten zu den Baugenehmigungen, die der Bezirk dazu in alleiniger Verantwortung erteilt habe. Jeder zeigt mit dem Finger auf – den Bezirk. Tatsache ist, dass es die Unterschrift von Franz Schulz ist, die unter dem städtebaulichen Vertrag prangt und den Abbau der Mauer auf 23 Metern erlaubt. Aber nun haben innerhalb von zwei Tagen plötzlich sämtliche Stadtpolitiker kein Interesse mehr an der Lücke und auch sonderlich nötig findet sie keiner.

Franz Schulz, grünes Kreuzberger Urgestein, das seit der Bezirksreform auch für Friedrichshain zuständig ist, fühlt sich auf dem falschen Bein erwischt. Gerne und kenntnisreich analysiert er sonst Stimmungen und Strömungen in seinem Bezirk, nun war er tagelang kaum zu erreichen. Er hatte sich dafür eingesetzt, dass die Clubbetreiber vom Kater Holzig das frühere Bar25-Areal bekamen, er hatte ein Ersatzgrundstück für den Yaam-Club erkämpft, er hatte sich von den Aktivisten der Media-Spree-Versenken beschimpfen lassen – obwohl er sich gegen die Investoren und für die Ziele des erfolgreichen Bürgerbegehrens für freien Zugang zu den Spreeufern von Kreuzberg und Friedrichshain einsetzte. Doch bei der East Side Gallery hat Schulz den Überblick verloren.

Zum „meistgehassten Projekt des Bezirks“ hatte Schulz kurze Zeit vor Beginn der Bauarbeiten den geplanten Wohnturm an der Spree erklärt – und trotzdem wenige Tage zuvor einen Vertrag mit dem Bauherrn des Projektes unterzeichnet. Schulz würde das luxuriöse Appartementhaus wohl am liebsten ganz verhindern. Doch er weiß: Dann zieht der Senat das Verfahren an sich und entmachtet den Bezirk. Außerdem müsste der mit Schadenersatzforderungen rechnen. War es also Schulz’ Rache, dass er dem Investor wenigstens alle Kosten für den Bau der geplanten Spreeüberquerung aufbürdete, die von Clubbetreibern und Aktivisten selbst gewünscht und gefordert worden war?

Schulz hätte „nein!“ sagen müssen zu diesen Plänen. Er tat es nicht. Weil er es nicht kommen sah, was da kam. Jedes Detail dieser Planung lag längst offen zutage. Noch im Januar hatten Senat, Bezirke, Bauherr und Aktivisten in einem gemeinsamen „Forum“ dieses Projekt und andere Planungen am Ufer der Spree diskutiert. Auch die Öffnung der Mauer. Natürlich. Damals protestierte niemand.

Dass es um die Zerstörung eines Kulturguts geht, für das die Touristen aus aller Welt nach Berlin kommen, begriff man erst, als sich die Bilder eines Mauerfalls wiederholten. Das Zeichen des Umbruchs, als das die East Side Gallery gilt, sollte seinerseits dem Umbruch weichen. Aber will Berlin sich noch erneuern?

Bereits am Sonntag hatte Regierungschef Wowereit den Bauunternehmer Hinkel angerufen, um nach Lösungen zu suchen. Auf einen Geländetausch will der sich allerdings nicht einlassen. „Das wird nicht funktionieren“, sagt er am Telefon. „Wir haben bereits 20 der geplanten 36 Wohnungen verkauft. Ich kann den Familien jetzt doch nicht erklären, die sollen stattdessen nach Köpenick oder in die Rummelsburger Bucht ziehen.“

Erschienen auf der Reportage-Seite.

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