Sternenkinder in Berlin: Ein Grab, klein wie ein Handtuch
Es ist ein harter Schlag, ein Kind nach der Geburt sterben zu sehen. Auf einem besonderen Berliner Friedhof können die Eltern trauern.
Nadja Stadlers Tochter ist eine der jüngsten auf dem Alten St.-Matthäus- Kirchhof. Abort in der 12. Schwangerschaftswoche, sagte die Frauenärztin nüchtern. Und: „Sie können ja wieder Kinder kriegen.“ Dann drückte sie ihr eine Kiste in die Hand, eine Gewebeprobe, wie sie erklärte, die sie in der Pathologie des nahe gelegenen Krankenhauses abgeben sollte. Als ihr Freund und sie die Schachtel vor der Praxis aufmachten, stießen sie auf ein gläsernes Röhrchen, darin ihr daumengroßes Kind. „Mit Augen, Handpaddeln, Fußpaddeln“, sagt Stadler.
Vier Jahre ist das her. Nadja Stadler ist noch immer fassungslos über den abgebrühten Ton der Ärztin. Stadler ist eine zierliche, mädchenhaft wirkende Frau. Kurze, lockige Haare, Schlaghose, Gartenschere in der Hand. Ein Kind zu verlieren sei ein lebensveränderndes Ereignis, sagt sie. „Mein Freund und ich hatten das Gefühl, dass wir dem Baby einen Namen geben möchten.“ Sie wollten es auch bestatten: am liebsten zu Hause unterm Apfelbaum. Doch sie bekamen das Kind nicht mehr aus der Pathologie zurück. Aus Gründen der Hygiene, hieß es.
Stadler wandte sich ratlos an eine Bestatterin. Die rief bei der Klinik an: „Ich sitze hier vor der Mutter des Kindes. Sie hätte es gerne wieder!“
Nadja Stadler sagt, es sei wohltuend gewesen, dass sie endlich mal jemand Mutter genannt habe. Denn so fühlte sie sich. Die Bestatterin gab ihr auch den Tipp mit dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof, auf dem auch Fehlgeburten bestattet werden dürfen.
Spätabtreibung: Er hätte höchstens ein Jahr überlebt
Das Grab ist klein wie ein Handtuch, halb zugewuchert von einem Bäumchen auf dem Nachbargrab. Nadja Stadler schneidet die Äste zurück. Die Mutter, deren Kind nebenan liegt, habe ihr das ausdrücklich erlaubt, sagt sie. Zum Vorschein kommen ein Kieselstein, auf dem in gelb Felice geschrieben steht, zwei hölzerne Marienkäfer, Pinguine aus Ton.
Wie auf einem Friedhof sieht es hier nicht aus, mehr wie in einem bunt dekorierten Kräutergarten. Hinter der Mauer, die den Friedhof vom Schöneberger Teil der Monumentenstraße abschottet, breitet sich ein Flickenteppich von hunderten kleinen Gräber aus, auf denen Windspiele rotieren und Spielzeugautos parken. Dazwischen sitzen Männer, Frauen und Kinder auf Decken und essen Kuchen, Nudelsalat. An den Bäumen hängen Girlanden. Neben einer Stele zum Gedenken an die verstorbenen Babys, die nie bestattet werden konnten, steht ein Tapeziertisch mit Getränken. Das „Erste Hilfe Köfferchen“, ein Kreis von Eltern, deren Babys hier begraben sind, hat am vergangenen Sonntag zum jährlichen Picknick geladen.
Eine Kindergruppe inspiziert das Spielzeug, mit dem viele der Gräber dekoriert sind, während die Erwachsenen ihren eigenen Gesprächen folgen. Die kreisen nicht zwangsläufig um den Tod. Partygeplänkel. Das kann plötzlich eine Wendung ins Ernste nehmen. Etwa als sich eine Frau den anderen vorstellt, die drei Wochen zuvor ihren Sohn hier beerdigt hat. Eine Spätabtreibung im fünften Monat, nachdem herausgekommen war, dass er schwere Fehlbildungen hatte, mit denen er höchstens ein Jahr überlebt hätte. „Ich höre immer, die Entscheidung war gut für das Kind. Wer will das wissen? Die Entscheidung war gut für uns“, sagt sie und fängt an zu weinen.
Die Geburt verlief heiter. Doch die Ärztin kehrte nicht wieder
Anfangs, sagt Nadja Stadler, habe sie sich „fast ein bisschen geschämt“, als sie auf dem Friedhof Mütter getroffen habe, die ihre Kinder viel später in der Schwangerschaft verloren hatten. „Finden die es komisch, fragte ich mich, wenn ich hier mein fehlgeborenes Kind betrauere?“
Drei Monate nach Felices Tod war sie wieder schwanger. Sie erinnert sich, wie sie am Grab stand und dachte: „Hoffentlich habe ich nicht bald zwei Kinder hier liegen.“ Mit der Zeit sind ihre Ängste verflogen. Die Geburt kam ihr sogar heiter vor.
Sie legten ihr das Baby auf die Brust: ein Junge. Ihren Freund ermunterten sie, die Nabelschnur zu durchtrennen. „Das hätten die doch nie gemacht, wenn die alarmiert gewesen wären!“, sagt Stadler. Dann nahm die Ärztin den Jungen und lief mit ihm aus dem Kreißsaal. „Er braucht ein bisschen Starthilfe“, sagte sie, noch immer in ruhigem Ton.
Doch sie kehrte nicht wieder. Einmal schaute eine Klinikmitarbeiterin kurz herein, da fasste ihr Freund seine diffusen Befürchtungen in eine konkrete Frage: „Schlägt denn sein Herz?“ Die Antwort fiel wieder beschwichtigend aus: Ja, aber unregelmäßig. Nach zwei Stunden brachte die Ärztin den Eltern das tote Kind zurück. Am nächsten Morgen standen zwei Kriminalpolizisten im Krankenzimmer, wo sich das Paar noch von seinem Sohn, Jakob, verabschiedete. Die Beamten banden dem Jungen ein Schild um den Fuß - Aufschrift: Als Beweisstück beschlagnahmt nach Paragraf 94 StPO - und nahmen ihn mit.
Es ist ihr ein Bedürfnis, dass alle ihre Kinder gelebt haben
Das ist alles kaum auszuhalten: ein zweites Kind in der Pathologie. „Man quillt über vor Liebe, und das Wesen ist weg“, erklärt Nadja Stadler.
Sie war damals neu in der Stadt. Ihre Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einer westdeutschen Uni war befristet gewesen, und so zog sie mit ihrem Freund Timm Meiser nach Berlin, der sich hier selbstständig gemacht hatte. Meiser ist heute mit auf den Friedhof gekommen, er läuft dem anderthalbjährigen Sohn Levi nach, der wiederum einem Eichhörnchen nachläuft.
In ihrer dritten Schwangerschaft, ein weiteres halbes Jahr später, ging alles gut. „Dafür bin ich dankbar, klar“, sagt Stadler. Manche aus ihrem Umfeld waren erleichtert: „Jetzt habt ihr ja ein Kind!“ Ein Satz, den sie verletzend findet. Es ist ihr ein Bedürfnis, dass alle ihre Kinder gelebt haben, auch wenn zwei nur ein kurzes Leben hatten. Deshalb ist der St.-Matthäus-Kirchhof ein so bedeutsamer Ort für sie geworden. Hier fühlt sie sich ihren verstorbenen Kindern nah.
Tote Babys so liebevoll zu betrauern, ist in Berlin noch nicht lange möglich. Bis Ende der 90er Jahre wurden Föten in den meisten Krankenhäusern mit den amputierten Beinen und den Blinddärmen entsorgt, wenn sie weniger als 500 Gramm wogen. Sie wurden als Sondermüll verbrannt oder zu Granulat verarbeitet, das im Straßenbau Verwendung fand. Das Fernsehmagazin „Report“ machte die Praxis öffentlich, die damals noch Fürsprecher fand wie etwa den gesundheitspolitischen Sprecher der Bündnisgrünen, Bernd Köppl. „Für die von Tot- oder Fehlgeburten betroffenen Frauen oder bei einer Abtreibung entsteht nach dem Ereignis keine personale Bindung an die abgestorbene Leibesfrucht“, meinte der in einem Zeitungsbeitrag.
Früher wurden tote Babys weggebracht, während die Frauen narkotisiert waren
Auch in Berlins Geburtshilfestationen wurde damals wenig Aufhebens um verstorbene Neugeborene gemacht. Noch in den 80ern bekamen Frauen sogar Kurznarkosen, wenn ein Baby tot geboren wurde, erzählt Clarissa Schwarz, die damals als Hebamme in verschiedenen Kliniken arbeitete. Wenn die Frauen wieder aufwachten, war das Kind bereits weggebracht. „Es hieß, das schone die Frauen“, sagt sie.
1985 fing Schwarz an, Hausbesuche bei Wöchnerinnen zu machen. „Dort sahen wir Hebammen auf einmal, was die Praxis der Kliniken anrichtete.“ Sie traf auf verstörte Frauen, die die Frage nicht losließ, wo ihr Kind jetzt ist. Manche träumten, dass sie noch schwanger sind. Andere stellten sich vor, wie schrecklich es ausgesehen habe. „Die Phantasie ist ja oft schlimmer als die Realität.“
Clarissa Schwarz sitzt in ihrer Praxis, die in einem Klinkerbau hinter dem Jüdischen Museum liegt. Sie ist eine grauhaarige, in Türkis und Lila gekleidete Frau mit warmer dunkler Stimme. Sie erzählt, wie das Buch „Gute Hoffnung - jähes Ende“ die Heimlichkeit beendete, nachdem die Psychologin Hannah Lothrop darin 1991 für einen Abschied vom verstorbenen Kind plädiert hatte. „Da haben wir uns dann getraut, den Frauen die Babys zu zeigen“, sagt Schwarz.
Mittlerweile sind Kreißsäle mit Kerzen und Körbchen ausgestattet, in die tot geborene Babys gebettet werden. Um die Jahrtausendwende änderten die Krankenhäuser schließlich auch ihre Beisetzungspraktiken. Seitdem gibt es alle paar Monate Sammelbestattungen für die tot geborenen Kinder. Seit neun Jahren können sie auf dem St.-Matthäus-Kirchhof sogar einzeln beigesetzt werden. Es war der erste innerstädtische Friedhof Berlins, der das angeboten hat.
700 Kinder liegen hier bestattet
Zu den Gründern des sogenannten Gartens der Sternenkinder zählt Bernd Boßmann, der zugleich Schauspieler, Schwulenaktivist, Theatermacher ist. Künstlername: Ichgola Androgyn. Bei einem Besuch am Grab eines Freundes habe er das Häuschen gleich hinter dem Friedhofstor entdeckt, erzählt er, das damals leer stand, und ein Café draus gemacht: das Finovo. Davor sitzt er jetzt. Ein lebhafter Mann um die 60 in türkisfarbenem Muscleshirt. Eine Bekannte, deren Sohn mit Anfang 20 verstorben und auf dem St-Matthäus-Friedhof beerdigt ist, habe die Idee aufgebracht, Bestattungen für Sternenkinder anzubieten: Darunter fallen Fehl- und Totgeburten sowie Babys, die nur kurz leben.
Zunächst hat die Friedhofsverwaltung 73 Einzelgräber ausgewiesen. „Ganz schnell war klar: der Bedarf ist viel größer“, sagt Boßmann. Mittlerweile liegen 700 Kinder hier bestattet. Er sehe seine Aufgabe darin, fährt er fort, die Bedürfnisse der Eltern in dieser schwierigen Zeit zu befriedigen, „und zwar so einfach wie möglich“. Er organisiert die Beisetzung und überführt sogar den Leichnam aus der Pathologie.
Oft stoßen die Mütter auf Unverständnis
Dort stoße er noch manchmal auf die alte Mentalität. „Ich sage: Guten Tag. Ich möchte ein Sternenkind abholen - Watt wolln `se?“ Auch auf den Ämtern, bei denen Förderung für die Beisetzungen beantragt werden kann, herrsche mitunter Unverständnis. Das war ja noch nichts! habe eine Frau von einer Sachbearbeiterin zu hören bekommen. „Wie kann man nur zu einer Mutter, die ihr Kind verloren hat, sagen, dass das noch nichts war!“, sagt er.
Bernd Boßmann will kurz zum Sommerfest, die Eltern vom „Erste Hilfe Köfferchen“ begrüßen. Über die von alten Buchen gesäumte Hauptallee des Friedhofs läuft er den Hügel hinauf, auf dessen Kuppe die Grabfelder für die Sternenkinder liegen. Der St.-Matthäus-Kirchhof ist das, was man unter einem ehrwürdigen Ort versteht: mit Grabstätten von Berliner Größen wie Carl Bolle und den Gebrüdern Grimm. Boßmann geht am Grab von Rio Reiser vorbei und am Mahnmal für die Hitler-Attentäter um Graf Stauffenberg. Fünf der Verschwörer waren mal hier bestattet, die SS hat sie wieder ausgegraben, verbrannt und die Asche auf Rieselfeldern verstreut.
Aus Pietätsgründen würden Eltern ihren Kindern mitunter verbieten, auf dem Friedhof zu rennen oder zu lachen, erzählt Boßmann. „Pietät, das ist doch das Schachmatt der Friedhofskultur. Das Wort braucht kein Mensch.“ Erst kürzlich habe er mehrere Kinder in einem Bollerwagen den Hang hochgezogen. Gemeinsam hätten sie mit Blütenblättern das Grab des verstorbenen Bruders dekoriert. Er denke sich immer etwas aus, erklärt er, damit die geladenen Kinder bei Beisetzungen mithelfen können.
Sie war im sechsten Monat, als sie das Grab aussuchte
Katharina Schmidt war im sechsten Monat schwanger, als Bernd Boßmann sie hier hinauf zum Garten der Sternenkinder führte. „Alles hat damals noch leer ausgesehen“, sagt sie. Erst zehn Plätze waren belegt. Sie könnten sich ein Grab aussuchen, hieß es. Sie lacht kurz auf. Eine unfassbare Situation. Ihr Mann und sie wählten eine Grabstelle unter einem kleinen Apfelbaum, daneben lag bereits ein Mädchen. „Wir wollten nicht, dass er so alleine ist“, erklärt Schmidt.
Das Bäumchen ist kaum größer als Katharina Schmidt und geschmückt wie ein Christbaum, nur dass ein Schlumpf, ein Schnuller und eine Kristallkugel dran hängen. Schmidt geht in die Knie. Eine schlanke Frau mit schulterlangen Locken, in denen eine Sonnenbrille steckt.
Neun Jahre und drei Wochen ist das erste Treffen mit Bernd Boßmann her. Das weiß sie so genau, weil sie am 8. August 2008 die große Ultraschalluntersuchung hatte, die ihr Leben aus den Angeln hob. Ihr Mann und sie hätten „ein wertvolles Familienereignis“ daraus machen wollen. „Ein gemeinsames Begrüßen des neuen Familienmitglieds.“ Deshalb hatte sie sich in der PR-Agentur, in der sie damals arbeitete, den Nachmittag frei genommen und den zweieinhalbjährigen Sohn von der Kita abgeholt. „Eine gefühlte Ewigkeit“, sagt sie, hätte der Arzt ihr mit der Sonde über den Bauch gestreift. Als sie zu ihrem Mann herüberschaute, bemerkte sie, dass der alarmiert aussah. Schließlich sagte der Arzt: „Nicht alles ist so, wie es sein sollte.“ Das Baby habe einen schweren Herzfehler. Die Diagnose müsste noch von einem zweiten Mediziner bestätigt werden. Sie dürften sich aber keine Hoffnungen machen.
Kaum jemand fragte, was mit ihrem Baby sei
„Spontan stand für mich außer Frage, dass ich das Kind bekomme“, sagt sie. Die Diagnose lautete: hypoplastisches Linksherz. Der Herzfehler wurde damals bereits operiert. Schmidt belas sich im Internet, sprach mit einem Cousin, der Kardiologe ist, wandte sich an eine Psychologin, eine Humangenetikerin, einen zweiten Arzt. Dabei hörte sie von vielen OPs, die missglückt waren, und wurde immer hoffnungsloser. Nach fünf „quälenden“ Tagen, wie sie sagt, sei die Entscheidung gefallen. Für das Paar war die Aussage der Mediziner maßgeblich: Sie sähen nicht richtig, dass das Ganze erfolgreich verlaufen könne.
Katharina Schmidt machte einen Termin im Krankenhaus Neukölln für den 15. August und noch einen auf dem Friedhof. Nicht dass jemand gedrängelt hätte, sagt sie. Aber es sei ihr „irgendwie sinnlos“ erschienen, die Schwangerschaft fortzuführen, wenn sie das Kind doch nicht bekommen würde. „Heute würde ich das anders machen. Die Zeit, als er bei mir im Bauch war, war ja die einzige, die ich mit ihm hatte.“
Sie zieht ihren Geldbeutel aus der Tasche. In einem Fach steckt ein Blatt mit zwei Fußabdrücken, klein wie von einer Puppe. In der Nacht, als ihr Sohn tot geboren wurde, hat sie seine Füßchen gestempelt. Kimi haben sie ihn genannt. „Die Diagnose war der Horror. Die Entscheidungsfindung noch schlimmer. Aber am schlimmsten war es, ohne Kind aus der Klinik nach Hause zu gehen“, sagt Schmidt.
In den nächsten Wochen verließ sie kaum die Wohnung. Wenn sie doch mal unter Leute ging, fiel ihr auf, dass kaum jemand fragte, was mit ihrem Baby sei. Dabei war ihr Bauch vorher unverkennbar rund gewesen. Ein Kind zu verlieren, ist offenbar eines der letzten Tabus. „Es darf nicht sein: Ein Kind soll gesund geboren werden und nicht sterben“, erklärt sie. „Aber wenn das, was nicht sein darf, einem passiert ist, möchte man natürlich darüber reden.“
Fast immer stellen sich Paare die Frage: Warum wir?
Die Beerdigung stand ihr noch bevor. Dreimal trafen ihr Mann und sie sich in der Vorbereitung mit Bernd Boßmann. „Er hatte ein unglaublich geduldiges Ohr“, sagt Schmidt. Boßmann machte ihnen konkrete Vorschläge: Sie könnten das Baby anziehen, um es ins Grab zu legen, oder nur in ein Tuch einschlagen oder in eine Kiste legen, die sie bemalen könnten. Die Unbefangenheit, mit der Boßmann das Thema behandelte, fand Schmidt tröstlich. Schließlich kaufte sie eine Kiste, die sie zusammen mit ihrem Mann und ihrem zweieinhalbjährigen Sohn mit buntem Papier beklebte und einem Tuch auskleidete. Am Beerdigungstag war das Baby in seinem kleinen Sarg in der Friedhofskapelle aufgebahrt. Ihr Mann und sie ließen ihn ins Grab hinab. Ihre Mutter stand am Rand. Eine Geigerin, die eine Freundin empfohlen hatte, spielte Tschaikowski. Schmidt bedauert, dass sie kein großes Fest draus gemacht hat. „Dann hätten alle Kimi kennengelernt“, sagt sie.
In den Monaten danach war sie fast jeden Tag auf dem Friedhof. Die Grabgestaltung war wie eine schmerzlindernde Beschäftigung, sagt sie. „Alles, was man dort macht, hat ja mit dem Kind zu tun.“ Jahrelang ging sie außerdem zu den Treffen des „Erste Hilfe Köfferchens“, die alle vier Wochen im Café Finovo stattfinden. In dem Kreis wurde auch viel über die verlorenen Kinder gesprochen. Miteinander können sie ihren Elternstolz ausleben, der fast stärker durchschlägt, da die Kinder nur so ein kurzes Leben hatten. „Indem man über die Sternenkinder redet“, erklärt Katharina Schmidt, „behalten sie ihre Existenzberechtigung.“
Beim Kennenlernen lässt sich Clarissa Schwarz ein Bild des verlorenen Babys zeigen. „Dieses Kind hat sie zu Eltern gemacht“, sagt die Hebamme. „Dann freuen die sich, dass ich das anerkenne.“ Sie arbeitet auch als Bestatterin und trifft dabei häufig auf Frauen, die unter Schock stehen. Der Zustand sei wie ein „weiches Kissen“. Die Betroffene gewinne dadurch Zeit, um sich allmählich an die Realität zu gewöhnen. In ihrer Arbeit gehe es darum, die Eltern dabei zu unterstützen, das Geschehene zu begreifen, sagt Schwarz. Das sei einfacher, wenn sie Kontakt hätten mit dem toten Kind, in dem sie es etwa selbst in den Sarg betteten. Bald darauf komme die Zeit, in der sie den Verlust beweinen könnten. „Trauer wird nur leichter, indem man trauert“, sagt Schwarz. Fast immer stellten Paare ihr die Frage: Warum wir?
Was wäre gewesen, wenn sie die andere Hebamme gehabt hätten?
Nadia Stadler war bei Clarissa Schwarz im Geburtsvorbereitungskurs für ihren Sohn Jakob und hat sie später als Bestatterin engagiert. Die Frage - warum wir? - hat sie allerdings nie beschäftigt. Nur ein Gedankenspiel trieb sie manchmal um.
Als sie in der Geburtshilfestation eingetroffen waren, hatten zwei Hebammen Dienstbeginn. Timm Meiser traf die eine auf dem Flur, die meinte: „Du bist mir sympathisch, zu euch komme ich.“ Was wäre gewesen, wenn sie die andere Hebamme gehabt hätten?
In den Wochen bis zur Beerdigung traf Nadja Stadler mehrmals Clarissa Schwarz. Schwarz bestärkte das Paar darin, sich für die Abschiedsrituale Zeit zu nehmen. Beispielsweise das Kind in der Pathologie zu besuchen. Sie könnten ruhig mehrmals hingehen, sagte sie, was Nadja Stadler und Timm Meiser auch taten. Beim ersten Mal kam Schwarz sogar mit. Sie bot an, einen Blick auf das Kind zu werfen und den Eltern anschließend zu beschreiben, welche Verletzungen die pathologische Untersuchung hinterlassen hatte.
Nach Jacobs Tod meldeten sich viele Freunde bei Nadja Stadler und Timm Meiser, das tat ihnen gut. Andere leisteten praktische Hilfe, wie die Nachbarn, die Essen vorbeibrachten. „Bei der Kraft, die man aufbringen muss, um sich aus der Schockstarre zu befreien, kommt man kaum dazu, die Notwendigkeiten des Alltags zu erledigen“, erklärt Stadler.
Belastend fanden ihr Freund und sie nur, dass in ihrem Umfeld so viel über die Todesursache spekuliert wurde. „Wir haben es uns verboten. Das führte zu nichts“, sagt sie. „Wir wollten das Obduktionsergebnis abwarten und dann Fragen stellen.“
Bei Freunden spürte sie Ungeduld: Sie müsse endlich abschließen
Am schlechtesten ging es Nadja Stadler drei Monate nach Jakobs Tod. „Ich war total erschöpft.“ Sie beantragte eine Kur. Damals spürte sie erste Ungeduld bei manchen Freunden: Sie müssten auch mal abschließen. „Das war gut gemeint“, sagt sie, „die wollten, dass es uns wieder besser geht.“ Doch ein Trauerprozess sei ein ständiges Auf und Ab, erklärt sie. „Was Freunde wie einen Rückfall erlebten, war für mich selbst ein Schritt nach vorn.“
Das Obduktionsergebnis kam, kurz bevor sie zur Kur abreiste. Demnach war der Säugling gesund, er starb an Sauerstoffmangel bei der Geburt. Alles deutete darauf hin, dass die Herztöne falsch interpretiert worden waren. Doch juristisch reichten die Untersuchungsergebnisse für ein Strafverfahren nicht aus.
In der Kur drückte ihr eine Psychologin einen Lehmklumpen in die Hand und sagte: Sie solle den Klumpen an die Wand werfen, ihrer Wut freien Lauf lassen. Das ist die nächste Trauerphase: Gefühle rauslassen. Die Psychologin drängte: „Versuchen Sie es! Ich an Ihrer Stelle wäre wütend.“ Doch sie habe einfach keine Wut empfunden, sagt Stadler. Die Kur hat sie abgebrochen.
Nadja Stadler sagt, sie habe sich von der Kur versprochen, einen Weg zu finden, mit der Vermeidbarkeit des Todesfalls weiterzuleben. „Uns war klar: Wiedergutmachung kann es nicht geben. Schadenersatz, was hätten wir damit anfangen sollen?“ Sie hatte das Bedürfnis, noch mal mit der Ärztin und der Hebamme zu sprechen, nicht, um sie zur Rede zu stellen, sondern um zu erfahren, wie sie die Geburt erlebten und was genau in den zwei Stunden passiert war, nachdem sie das Kind aus dem Kreißsaal mitgenommen hatten.
"Hast Du ein Kind"? Was soll man da antworten?
Bis heute kam es zu keinem Gespräch. Stadler und Meiser haben es nicht forciert. „Ich glaube sowieso nicht, dass die von Mensch zu Mensch mit uns sprechen könnten, sondern als Repräsentanten der Klinik, die um ihren Ruf fürchtet“, sagt Stadler. „Meiner Meinung nach hätten wir nicht die Antworten bekommen, die uns tatsächlich interessieren“, ergänzt Meiser.
Es ist Abend geworden auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof. Stadler, Meiser und Sohn Levi sitzen im Café Finovo. Auf dem Grab von Felice, in dem später auch Jakob beerdigt wurde, sind die Pflanzen gestutzt und alles Unkraut gerupft. Es soll kein Gras über das Ganze wachsen.
Nadja Stadler und Timm Meiser wirken einträchtig. Oft entzweien sich Paare, wenn sie so uneins mit ihrem Schicksal sind. Meiser sagt, dass seine Freundin „offensiver“ getrauert habe als er. Sie habe ihn mitgezogen, seine Trauer ebenfalls mehr mit anderen zu teilen. Außenstehenden gilt das oft als Frauenleiden, was Meiser ärgerlich findet. Oft habe er zu hören bekommen: Wie geht es Nadja? Als hätte er kein Kind verloren. Die beiden verstorbenen Kinder würden immer Familienmitglieder bleiben, sagen sie. Sie werden auch ständig darauf gestoßen. Schon bei der Smalltalk-Floskel: Hast du ein Kind? Dann müsse man überlegen, was in der Situation die passende Antwort ist, sagt Meiser. In der Regel erwidert er bündig: „Zwei.“
Nadja Stadler sagt: „Ein Lebendes.“
Nachfrage erwünscht.
* Die Namen aller betroffenen Eltern sind auf ihren Wunsch geändert