Ausstellungseröffnung wegen Corona geplatzt: Ein Berliner Sammlerpaar erinnert an "Wrapped Reichstag"
Vor 25 Jahren verhüllten Christo und Jeanne-Claude den Reichstag. Dazu war nun eine Ausstellung im Palais Populaire geplant. Aber dann kam das Virus.
Alles war perfekt geplant. Vor wenigen Tagen hätte Christo nach Berlin kommen sollen, zur Eröffnung der Ausstellung mit Arbeiten von ihm und seiner 2009 verstorbenen Frau Jeanne-Claude. 70 Werke aus der Zeit von 1963 bis heute sollten ab Sonnabend im Palais Populaire, den Ausstellungsräumen der Deutschen Bank Unter den Linden, zu sehen sein.
Am Donnerstag bereits wäre Christo in eine kleine Seitenstraße des Kurfürstendamms gefahren. Der Wagen hätte vor einem herrschaftlichen Mehrparteienhaus gehalten, der 84-Jährige wäre ein paar Stockwerke hochgelaufen, oben hätten ihn Ingrid und Thomas Jochheim ungeduldig erwartet – große Fans, große Sammler des Künstlers, der Berlin vor fast 25 Jahren sein wohl berühmtestes Kunstwerk im öffentlichen Raum schenkte. Zumindest für zwei Wochen: der „Wrapped Reichstag“.
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Das Jubiläum sollte der Anlass sein für eine große Retrospektive im Pariser Centre Pompidou und eine kleinere Schau mit Werken aus der Sammlung der Jochheims in Berlin. Beides: abgesagt. Aus bekannten Gründen. Keine Schauen, kein Christo. Vorerst.
„Wir hoffen, dass zumindest die Ausstellung, die bis Mitte August angesetzt war, doch noch eröffnet, verlängert oder zumindest verschoben wird”, sagt Ingrid Jochheim, die nun keinen Empfang mit vielen Gästen für den Künstler in ihrer Wohnung vorbereiten muss, sondern Zeit hat für lange Gespräche, bei gebührendem Abstand natürlich. Nebenher läuft der Kontakt mit dem Team des Palais Populaire, das sich komplett neu sortieren muss. Die Arbeit von rund zwei Jahren ist vielleicht nicht verloren, aber zumindest auf Eis gelegt.
Wie überall muss jetzt auch hier neu- und umgedacht werden, immer ohne Gewähr. „Ich hätte nie damit gerechnet, dass ein Virus der Grund dafür sein könnte, dass die Ausstellungseröffnung abgesagt wird”, sagt Thomas Jochheim. Es sei schade um den geplatzten Termin, viel mehr sorge er sich aber um die Wirtschaft, um Galerien und Künstler ohne großes finanzielles Polster.
Es ist das einzige Mal in zwei Stunden, dass der 70-Jährige ein sorgenvolles Gesicht macht. Seine Frau und er seien Optimisten, sagen beide, aber sie waren eben auch Unternehmer, bis sie 2005 die Heimtierfutterfirma von Ingrid Jochheims Vaters verkauften.
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Und als solche fühlen sie jetzt mit, auch wenn die letzten 15 Jahre vor allem aus Treffen mit Künstlern, Reisen um die Welt, Galeriebesuchen und „Kaffee, Kuchen, Kunst” bestanden. So nennt Ingrid Jochheim die Nachmittage, zu denen das Paar die unterschiedlichsten Leute, nicht nur, aber viele aus der Kunstbranche, zu sich einlädt.
Vor gut 40 Jahren begannen die beiden zu sammeln. Eigentlich wollten sie nur ihre Wohnung dekorieren. Heute umfasst ihre Kollektion mehr als 600 Werke, verteilt auf ihren Recklinghäuser Wohnsitz und die 300 Charlottenburger Quadratmeter. Vieles ist auch in einem Lager untergebracht – obwohl sie ihre Sammlung am liebsten ganz nah bei sich haben. „Manchmal gefallen uns Werke und trotzdem kaufen wir sie nicht, weil wir nicht mit ihnen leben möchten”, sagt Ingrid Jochheim.
In der Kirche wackelt der Kronleuchter - ein riesiger Totenkopf
Die mit Durchbrüchen verbundenen Räume sind zum Bersten voll mit Kunst, das Auge saust die 3,70 Meter hohen Wände entlang, unfähig alles zu erfassen. Minimalismus können andere, die Jochheims fahren auf: Hier ein gewaltiger Jonathan Meese neben dem großen Esstisch, schräg gegenüber ein tätowierter Schweinerücken von Wim Delvoye, drüben vor dem Balkon ein pinkes Hündchen von Jeff Koons, Couchtische von Yves Klein. Eine Wandskulptur mit Neonröhren, in der Ecke ein Bildschirm in einem Einkaufswagen.
Von wem wohl der gewaltige Totenkopf-Kronleuchter in der Küche ist? Gerade klimpern die Kristalle, im Stockwerk darüber stampft jemand über den Boden.
Nun hängt die Sammlung in Mitte - und keiner kommt
Doch über dem Sofa klafft nun eine große Lücke. Nur ein paar Nägel und ein blasser Umriss, den die Sonne auf die Wand gemalt hat, zeugen davon, dass sich hier bis vor Kurzem zwei riesige Zeichnungen von Christo befunden haben – eine zu seinem „Running Fence”, für den Mitte der 70er Jahre ein riesiger Stoffzaun durch die nordkalifornische Landschaft gezogen wurde, die andere zu „Over The River”, ein Projekt in Arkansas, das er absagte, als Trump an die Macht kam.
Die Jochheims haben sie für die Ausstellung hergegeben, wie fast jedes ihrer Stücke von Christo und Jeanne-Claude – Vorzeichnungen, auch zur Reichstag-Aktion, Originale und von Christo mit Stoffen und anderen Materialien versehene Halboriginale. Nun hängen sie in Mitte, um für ihre Detailliertheit bewundert zu werden. Doch keiner kommt.
Aber die Erinnerung an den verhüllten Reichstag, die haben viele ja im Kopf, selbst wenn sie damals, im Sommer ’95, nicht selbst dort waren. Die Bilder sind tief ins kollektive Gedächtnis eingesickert, die bekannten Fotomotive stammen von Wolfgang Volz, der exklusiv mit dem Künstlerpaar zusammenarbeitete – die Jochheims haben auch Arbeiten von ihm an den Palais Populaire gegeben.
Fünf Millionen bewunderten den verhüllten Reichstag
Also in Abwesenheit des Werks, der Entwurfszeichnungen und des Künstlers mal ein wenig sinnieren über „Wrapped Reichstag”, ein ganzes Stück zurückspulen: Ingrid und Thomas Jochheim verfolgten die Arbeit der beiden Künstler schon länger, als diese 1995 mit dem Aufbau der Aktion begannen.
Der Reichstag war innen entkernt und sollte, bevor er seine neue politische Funktion im wiedervereinten Berlin bekommt, einmal kurz Kunstwerk sein dürfen. 100.000 Quadratmeter feuerfestes, silbrig schimmerndes Polypropylengewebe wurden über die Vorsprünge, die Säulen, den Giebel gespannt und mit fast 16 Kilometern blauem Seil verschnürt.
Die Jochheims, damals noch ohne Berliner Wohnsitz, sahen zu und blieben eine Woche, um sich die Aktion täglich aufs Neue anzuschauen – wie fünf Millionen andere Besucher, die vom 24. Juni bis 7. Juli zum Platz der Republik kamen, um von dort den merkwürdig fesselnden Anblick des wie für einen Umzug eingepackten Gebäudes zu genießen.
"Die Leute flüsterten fast, bewegten sich bedächtig"
„Es gab so eine besondere Stimmung, friedvoll, euphorisch, die Leute sprachen sich gegenseitig an, machten Fotos voneinander.” Ingrid Jochheims Blick wandert, wenn sie davon spricht, von links nach rechts, als könnte die 66-Jährige den verhüllten Reichstag in diesem Augenblick vor sich sehen. Kein Wind am Tag der Eröffnung, schönstes Sommerwetter. „Die Menschen haben sich auf die Wiese gesetzt und haben das einfach auf sich wirken lassen.”
Und alles war gedämpft, schiebt ihr Mann hinterher. „Die Leute flüsterten fast, bewegten sich bedächtig.”
Kurz darauf, im Herbst 1995, arrangierte der belgische Galerist Guy Pieters, bei dem die Jochheims gerade ihre ersten drei kleinen Christo-Zeichnungen gekauft hatten, ein Treffen zwischen dem Künstler- und dem Sammlerpaar bei Christo und Jeanne-Claude in New York. „Eigentlich sollte es nur ein kurzes Kennenlernen werden”, erzählt Ingrid Jochheim.
Aber nach einer Weile fragten die Künstler: „Habt ihr heute noch etwas vor?” Und so gingen sie gemeinsam essen, es folgten viele Treffen im Studio in New York, wo die Jochheims immer neue Arbeiten entdeckten, die sie besitzen wollten, aber die beiden Kunst-Stars kamen auch zu Besuch nach Recklinghausen.
Sammeln mit Gefühl statt mit Kalkül
Und ihre Sammler haben seit der Reichstagsverhüllung nicht ein Großprojekt verpasst, sind fasziniert von den monumentalen Aktionen, vom langen Atem, den es braucht, um so etwas in die Welt zu bringen. Von der Idee bis zur Umsetzung von „Wrapped Reichstag” verging ein Vierteljahrhundert.
Für Ingrid und Thomas Jochheim ist es aber auch und gerade der persönliche Kontakt zu Künstlern, der den Werken einen besonderen Wert gibt. „Die sind eben anders als du und ich, die haben einen Zukunftsblick auf die Welt.”
Nicht nur für Christo und Jeanne-Claude schwärmt das Paar, auch für Künstler der zeitgenössischen Berliner Szene und ihre Arbeiten, für Künstler aus dem Nahen und Mittleren Osten, der Pop-Art, des Nouveau Réalisme, dem Christo zwar nicht offiziell angehörte, aber dem er nahe steht. „Mit manchen Künstlern sind wir befreundet, eng befreundet.”
Die Jochheims sammeln eher mit Gefühl als mit Kalkül. Keine Beratung, kein Interesse an lukrativen Weiterverkäufen. Erwerben sie Kunst, kaufen sie damit auch Geschichten und Anekdoten, machen Bekanntschaften, von denen sie lange zehren.
Wenn Ingrid Jochheim an die zwei Meter hohe Vorzeichnung zu „The Gates“, dem 2005 in New York verwirklichten Projekt von Christo und Jeanne-Claude, denkt, sieht sie vor sich nicht nur die mit orange-gelben Tüchern verhängten Bögen, die auf 37 Kilometern Länge die Wege des Central Parks überspannten. Sie muss auch daran denken, wie der damalige Bürgermeister Michael Bloomberg die erste Stoffbahn herabließ, daneben die Künstler, sie und ihr Mann in nächster Nähe. „Der Frau unseres Galeristen und mir sind Tränen übers Gesicht gelaufen.”
Wenn die Ausstellung Palais Populaire irgendwann doch noch eröffnet wird und auch Christo dabei ist, könnte es wieder Tränen geben.