Berliner Wurzeln - Teil zehn unserer Familienserie: East Side Family Urzendowsky
Für die Urzendowskys hat die Oberbaumbrücke eine besondere Bedeutung. Weil sie für ihr Leben in Berlin steht – in der geteilten und wiedervereinigten Stadt, die es großen Künstlern oft leicht und den kleinen so schwer macht. Teil zehn unserer Serie.
Die Mama muss weinen, als Sebastian zur Armee einrückt. Wie er so dasteht, klein und schmächtig in der graugrünen Uniform mit den viel zu großen Schulterklappen und dem Pistolengurt, das Barett über das geschorene Haar gestülpt. Plötzlich sind die Erinnerungen wieder da. Erinnerungen an Einschüchterung und Hilflosigkeit. An den Vater, den die Nazis in den Krieg zwangen. An den Bruder, eingezogen mit 18, pünktlich zum Prager Frühling. Die Tränen kommen, immer mehr und immer lauter.
Da dreht sich Jan-Josef Liefers um und fragt: „Wer ist diese Frau?“
Stille im Kino. Schluchzen im Kino.
Sebastian flüstert: Mama, bitte!
Sebastian flüstert: „Mama! Reiß dich bitte zusammen!“
Zwei Jahre ist das jetzt her. „War schon ein bisschen peinlich“, sagt Sebastian Urzendowsky. Dass die Mutter so laut geweint hat bei der Premiere von Christian Schwochows Literaturverfilmung „Der Turm“ am Kurfürstendamm, denn natürlich haben es alle mitbekommen. Der Schauspielerkollege Jan-Josef Liefers und die auch sonst reichlich vorhandene Prominenz. Im Rückblick erwärmt Sebastian sich an dem Gedanken, „dass ich wohl nicht so schlecht gespielt habe, wenn es ihr so ans Herz gegangen ist“.
„Der Turm“ zog an zwei Abenden hintereinander ein Millionenpublikum vor die Fernseher. Sebastian Urzendowsky spielt einen Dresdener Bürgersohn, der sich bevorzugt seinem Cello widmet und Medizin studieren will, aber dann kommt ihm die Armee dazwischen. Das fügt sich ganz gut in die Familiengeschichte der Urzendowskys. Großvater Herbert musste als 17-jähriger Sanitäter für Hitler an die Westfront und brachte es nach dem Krieg bis zum Facharzt an der Charité. Mutter Jeannette hat zu DDR-Zeiten Medizin studiert und gastiert heute als „Chanson-Nette“ auf Berliner Kleinkunstbühnen. Die kleine Schwester Lena, 14, hat schon als Fünfjährige eine Musical-Schule besucht und in diesem Sommer ihre erste Filmolle gespielt.
Zum Familienfoto an der Oberbaumbrücke kommt Sebastian Urzendowsky zwischen zwei Drehterminen. Es sind anstrengende Tage für ihn in diesem frühen Herbst. Später am Abend muss er noch zur Preisverleihung für den First-Steps-Award an den Potsdamer Platz. Er spielt die Hauptrolle in „Backpack“, es geht um einen gescheiterten Referendar, der zu einer Asientour aufbricht, auf der so ziemlich alles schiefläuft.
Viel Arbeit am Filmset, wenig Freizeit: gut so
„Backpack“ bekommt am Ende den No Fear Award für Nachwuchsproduzenten, längst abgehakt, es stehen neue Projekte an. Sebastian Urzendowsky pendelt zwischen Köln, Wiesbaden, München und Berlin. Viel Arbeit, wenig Freizeit, aber alles besser als das oft wie eine Ewigkeit daherkommende Warten zwischen zwei Engagements, „das nervt am meisten“.
Im nächsten Mai feiert er seinen 30. Geburtstag, aber ein misstrauischer Wirt könnte sich schon mal fragen: Darf ich dem überhaupt ein Glas Rotwein einschenken? Mit seiner zarten Statur geht Sebastian Urzendowsky problemlos als Teenager durch. Für die Karriere war es gewiss nicht von Nachteil, dass er schon immer jünger aussah. Ein 18-Jähriger mit Talent spielt einen 14-Jährigen überzeugender, als das ein 14-Jähriger mit Talent kann. Als Sebastian den 17-jährigen Bürgersohn im „Turm“ spielte, war er selbst 27. Er hat dem pädophilen Sexual-Mörder Jürgen Bartsch ein Gesicht gegeben, einem polnischen Gulag-Häftling und einem islamischen Bombenattentäter. Jugendliche Rollen, gewiss, aber keine flachen. „Der braun gebrannte Surferboy liegt mir nicht.“
Die Erscheinung hat er von seinem Großvater geerbt und wahrscheinlich noch einiges mehr. Wer dem Menschen Sebastian Urzendowsky näherkommen will, der kommt an Opa Herbert nicht vorbei. „Er hat mich geprägt als Kind, und ich bewundere ihn immer noch.“ Den frisch ausgelernten Schriftsetzer, der kurz vor Kriegsende noch an die Westfront musste. „Er hatte den ungeheuren Mut, sich freiwillig als Sanitäter zu melden“, sagt Sebastian. „Dabei wurden doch die Sanitäter immer als Erste abgeschossen, wenn sie vom Schlachtfeld die Verwundeten abtransportierten. Aber Opa hatte seine Prinzipien, und er wollte auf keinen Fall eine Waffe in die Hand nehmen!“
Herbert Urzendowsky steht vor dem 89. Geburtstag. Sebastian hat seinen Geschichten seit frühester Kindheit gelauscht. Da war dieses traumatische Erlebnis im November 1938. Reichspogromnacht. Der zwölfjährige Hermann musste mitansehen, wie die braunen Schergen den jüdischen Schuster aus der Nachbarschaft auf die Straße zerrten und zu Tode prügelten. „Er hat das so plastisch geschildert, dass ich es nie vergessen werde“, sagt Sebastian. „Einmal hab’ ich ihn gefragt: ‚Opa, konntet ihr denn gar nichts dagegen machen?’“ – Der Großvater hat geantwortet: „Basti, glaube mir, genau das werfe ich mir heute noch vor.“
Kurze Pause. „Im Nachhinein schäme ich mich für diese Frage“, sagt Sebastian. „Wer bin ich denn, dass ich in der Sicherheit dieser Zeit jemandem so etwas an den Kopf werfen kann, der damals ein halbes Kind war und in einer Diktatur lebte?“
Der Opa rettet den Sohn vorm Gefängnis
Jeannette Urzendowsky hat Familienfotos mit an die Oberbaumbrücke gebracht. Sie selbst als Kind neben ihren vier Geschwistern. Das Hochzeitsbild der Eltern, sie haben sich kurz nach dem Krieg im Krankenhaus Friedrichshain kennengelernt, „da stand in der Bettwäsche noch der alte Name: Horst-Wessel-Krankenhaus“.
Die Erfahrungen des Vaters haben ihr eine rundum pazifistische Jugend beschert. „Keine Spielzeugwaffen, keine Böller zu Silvester.“ Ihr älterer Bruder wurde mit 18 zur NVA eingezogen, kurz vor dem Prager Frühling 1968. „Nach einem Kurzurlaub ist er einfach nicht zurück zu seiner Einheit. Da kam die Militärpolizei zu uns nach Hause, mein Vater hat uns ins Bett gestopft und gewarnt: ,Ihr schlaft und sagt keinen Ton!’“ Irgendwie ist es dem HNO-Arzt Herbert Urzendowsky gelungen, den Sohn als hoch fiebernden Kranken vorzuführen. Und ihm damit das Gefängnis zu ersparen.
Lena, die Jüngste, kennt Ost und West nur noch als Himmelsrichtungen
Die DDR nimmt nicht viel Platz ein in Sebastians Erinnerungen. Verschwommene Bilder, wie er an der Hand der Mutter den Friedensgottesdienst an der Gethsemanekirche besucht hat. Er war viereinhalb Jahre alt, als die Mauer fiel. Die Nacht der Nächte haben Mutter und Sohn verschlafen. Im Klinikum Buch, wo die Ärztin Jeannette Urzendowsky rund um die Uhr arbeitete, weil so viele Ost-Berliner Ärzte damals Glück und Geld im Westen suchten. Sebastian tollte zwischen Patienten und Krankenschwestern herum, wenn die Mama zur Visite musste. Kann er sich noch an den ersten Besuch im Westen erinnern? „Ja, ganz dunkel“, und nicht besonders angenehm. „Ich hab schon gemerkt, dass es was Besonderes war, aber es hat mir da drüben nicht gefallen. Ich wollte zurück nach Hause.“
Wie sollte er die Begeisterung der anderen nachvollziehen? Die kindliche Freude der Mutter, dass sie endlich mal auf der Oberbaumbrücke über die Spree spazieren konnte, den alten Schulweg ihres Vaters von Friedrichshain rüber nach Kreuzberg?
Später, als die Mutter im Zweitberuf Chansons sang, hat Sebastian Urzendowsky ihr das Lied vom Windheulen geschrieben. Es geht so:
„Lass den Wind vorbeiziehen,
und das andere auch.
Stell dich in eine Nische
und lach aus vollem Bauch.
Lass die Dinge fließen,
weil die Zeit weiter muss.
An der höchsten Stelle der Brücke,
da spucke in den Fluss!“
Einmal in dieser frühen Zeit nach dem Mauerfall ist Jeannette mit dem Boot unter der Oberbaumbrücke hindurchgepaddelt, vorbei an der Stelle, wo früher die Grenzsoldaten standen. „Da hab ich denen im Geist eine lange Nase gezogen. Für mich war das eine Befreiung. Das kann man heute nicht mehr nachempfinden, wie wir uns vor der Wende jedes Wort dreimal überlegt haben, weil man nicht wusste, wer neben einem stand.“
Lena sagt: Heute ist alles so leicht
Lena Urzendowsky hat das Gespräch bisher weitgehend schweigend verfolgt. Sie ist in die Lichterfelder Beschaulichkeit hineingeboren und kennt Ost und West nur noch als Himmelsrichtungen. Als aber die Mutter von der untergehenden DDR erzählt, „da wünsche ich mir schon, dass ich so eine Zeit auch erlebt hätte. Heute ist alles so leicht …“ – „Das ist das Problem aller jungen Künstler“, erwidert ihr Bruder. „Sie wissen einfach nicht mehr, wogegen sie rebellieren sollen.“
Der Künstler Sebastian Urzendowsky begann seine Karriere eher zufällig. Im TIK, dem Theater im Kino an der Boxhagener Straße, gleich neben dem Haus, in dem die Mama aufwuchs. Er war 14 und spielte Kindertheater, als der Regisseur Hendrik Handloegten vorbeischaute, auf der Suche nach einem Hauptdarsteller für seinen Debütfilm. „Paul is Dead“ gewann gleich einen Preis beim Ophüls-Festival und im Jahr darauf auch den Grimme-Preis. Seitdem hat Sebastian Urzendowsky in Hollywood mit Peter Weir gedreht, mit Max Färberböck oder Dominik Graf. Und zwischendurch einen kleinen Kulturschock überstanden, ein Ost-West-Erlebnis der besonderen Art.
Den Film "Un amour de jeunesse" sprach Sebastian auf französisch ein
Das war kurz nach dem Karrierestart mit „Paul is Dead“. Die Ehe der Eltern war zerbrochen und ein neuer Mann in Jeannette Urzendowskys Leben getreten. Einer aus dem Westen, aber das war nicht das Problem. Sondern der Umzug der Familie. Aus dem rauen Osten ins beschauliche Lichterfelde, was Sebastian nur halb im Scherz „ein Verbrechen“ nennt. Ja, die Mutter hat es gut gemeint mit dem schönen Garten, „aber ich musste von einem zum anderen Tag weg aus meiner Umgebung. Mit 15! Nach Lichterfelde! Tiefstes West-Berlin, nur junge Familien und ältere Leute. Furchtbar!“
Drei Jahre lang ist Sebastian deshalb mit der S-Bahn nach Mitte zum John-Lennon- Gymnasium gefahren. Er ist auch in Frankreich zur Schule gegangen und in England, nach dem Abitur war er für ein paar Monate in Spanien und hat für längere Zeit in der Schweiz gelebt. Sein Französisch ist so gut, dass es für eine Hauptrolle in der französischen Produktion „Un amour de jeunesse“ reichte.
Wie schön, der Alex im Sonnenuntergang
Sebastian Urzendowsky wohnt längst wieder in Friedrichshain, „aber in einer Ecke, die noch nicht zur Einflugschneise des Easyjetsets gehört“. Er liebt die Karl-Marx-Allee, den Blick vom Frankfurter Tor hinunter zum Alex im Sonnenuntergang. Zu seiner WG gehören außer ihm nur Musiker, der Kontakt zu anderen Schauspielern reduziert sich auf die Dreharbeiten, und die finden eher selten in Berlin statt. „Dafür sind hier die meisten Castings. Und durch die beiden Film-Hochschulen ist ein Kontakt zu jungen Filmemachern da. Für mich ist es definitiv ein Vorteil, hier zu leben.“
ChansonNette gibt bewusst und gern die Berliner Göre
Für Mutter Jeannette ist Berlin dagegen ein künstlerisch eher schwieriges Terrain. Die Konkurrenz auf Kleinkunstbühnen ist hier besonders groß und die Gagen sind viel kleiner als in anderen Städten. Jeannette Urzendowsky gibt auf der Bühne als ChansonNette bewusst und gern die Berliner Göre – „wat soll ick denn woanders?“
Ihr Sohn hat Berlin aus der Distanz der Auslandsaufenthalte noch besser schätzen gelernt. Sebastian Urzendowsky sagt, er mache sich schon Gedanken „über die Pflöcke, die ich in der Zukunft noch einrammen will“.
Sebastian plant seine Zukunft in Berlin
Nein, keine Details, „das sind meine ganz privaten Gedanken“, aber diese Zukunft soll schon in Berlin stattfinden. „Einerseits ist das eine verdammt coole Stadt geworden, du kannst in irgendeine Bar gehen und dich mit allen Leuten auf Englisch unterhalten.“
Und andererseits?
„Wenn irgendwann die Investoren ganz die Macht übernehmen, dann ist Berlin nicht mehr Berlin. Dieser Kampf ist noch nicht entschieden.“ Von seiner Wohnung sind es zu Fuß zehn Minuten zum Boxhagener Platz, wo die Mutter aufgewachsen ist und nur noch die Fassaden an früher erinnern. Tavernen, Lounges und Bars aus Spanien, Syrien und Griechenland sind in die Ladenwohnungen gezogen. Hundert Meter weiter stolpern Touristen mit dem „Lonely Planet“ in der Hand über die Simon-Dach-Straße. An der Rigaer Straße entstehen Eigentumswohnungen im Hochpreissegment, wo früher mal der Friedrichshainer Punk tobte. Als die Kästen noch im Rohbau waren, hat es in einer Etage gebrannt und ... Sebastian überlegt kurz, „wie drücke ich das jetzt aus, dass es nicht falsch rüberkommt“. Er sei natürlich weit davon entfernt, so etwas gutzuheißen, „und wenn ich die Brandstifter gesehen hätte, dann wäre ich bestimmt dazwischengegangen“.
Für einen Augenblick stellt man sich den schmächtigen Sebastian Urzendowsky bei einem Handgemenge mit dem schwarzen Block vor, aber da ringt er noch um die die richtige Formulierung, ein paar Sekunden lang. „Sagen wir mal so: Ich habe nicht ganz unzufrieden festgestellt, dass es noch eine rebellische Bezirksseele in Friedrichshain gibt.“