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Orazio Giamblanco mit seiner Frau.
© pirvat

Opfer rechter Gewalt: "Dieses Jahr war ganz schlecht"

Der italienische Bauarbeiter Orazio Giamblanco wurde vor 22 Jahren von einem Skinhead in Brandenburg beinahe erschlagen. Ein Besuch in Bielefeld.

Die Kraft lässt spürbar nach. Orazio Giamblanco zieht an einem Seilzug Gewichte hoch, je 4,5 Kilo pro Hand, doch es wird ihm bald zu viel. Er stöhnt leise, er schließt die Augen, dann ruft er Efi. Die Griechin ist zur Krankengymnastik mitgekommen, sie ist sofort zur Stelle und legt ihm nur vier Kilo auf. „Er wird älter“, sagt Efi, „aber er darf nicht nachlassen, sonst wird alles steif, das ist nicht gut.“ Sie macht sich Sorgen, nicht nur heute, sondern permanent, seit 22 Jahren. Seit Orazio Giamblanco, der italienische Lebensgefährte von Efis Mutter, 1996 in Brandenburg bei einem Angriff rechtsextremer Skinheads lebensgefährlich verletzt wurde. Und Schäden an Kopf und Körper erlitt, die unheilbar sind.

Der Raum für die Physiotherapie im Bielefelder Franziskus-Hospital ist schon lange ein Schauplatz für den Kampf, den Orazio Giamblanco mit seinem spastisch gelähmten Körper führt. „Er macht meistens Übungen an Seilzuggerät und Beinpresse“, sagt Jan Rombowski bei einem Besuch am vergangenen Montag. Wie jedes Jahr kann der Tagesspiegel kurz mit dem kräftigen Therapeuten über den Zustand seines italienischen Patienten sprechen. Was Rombowski zu sagen hat, klingt nie gut. Und jetzt erst recht nicht.

Er wird unaufhaltsam schwächer

„Dieses Jahr war ganz schlecht“, Rombowski senkt etwas die Stimme. „Über ein halbes Jahr war er nicht da. Wenn er gekommen ist, hat er nur die üblichen Übungen gemacht, nichts Neues. Nur so viel, dass er wieder auf den Stand von vorher kommt.“ Rombowskis Kollege Andreas Schneider wirft ein: „Aber er ist trotzdem genauso aktiv.“ Orazio Giamblanco müht sich auch jetzt noch, im Alter von 77 Jahren, mit viel Energie ab. Obwohl er unaufhaltsam schwächer wird.

Früher ging er, wenn auch mühsam, im Klinikum ein paar Schritte am Rollator zur Physiotherapie. Jetzt kommt er nur noch im Elektrorollstuhl. Mit dem ruckelt er vor den Geräten hin und her, um die Seilzuggriffe halbwegs gerade packen zu können. „Du stehst schräg“, sagt Efi einmal. Orazio blickt genervt und rangiert den Rollstuhl vor und zurück.

Dass er überlebte, grenzt an einem Wunder

Die Tragödie begann am Abend des 30. September 1996. In Trebbin, einer Kleinstadt südlich von Berlin, beschloss eine Clique rassistischer Skinheads, Italiener zu jagen. Die Südländer waren als Hilfskräfte zu einer Großbaustelle im Ort gekommen. Die jungen Glatzen fühlten sich provoziert. Einer ihrer Wortführer, Jan W., fuhr mit einem Kumpel im Trabbi durch die Stadt. Sie sahen Giamblanco und zwei weitere Italiener. Die Skinheads sprangen mit ihren Baseballkeulen aus dem Wagen. Jan W. holte aus und traf Orazio Giamblanco mit Wucht am Kopf. Dass sein Opfer überlebte, dass ihn die Ärzte im Klinikum Luckenwalde in zwei Notoperationen ins Leben zurückholen konnten, grenzt an ein Wunder. Ein weiterer Italiener erlitt Brüche an drei Rippen und dem Nasenbein. Er und der dritte Italiener konnten jedoch trotz des Schocks einen Krankenwagen rufen. Sonst wäre Orazio Giamblanco auf der Straße gestorben.

Langzeitstudie über ein Opfer rechter Gewalt

Seit 1996 bin ich für den Tagesspiegel an der Geschichte dran. Der Kontakt zu Orazio, seiner heute 67-jährigen Lebensgefährtin Angelica Stavropolou und ihrer Tochter Efthimia Berdes, 44, war bald so eng, dass eine Freundschaft entstand. Zuerst war es für mich die übliche Berichterstattung: Recherchen zum Hergang der Tat, Reportagen über das Verfahren gegen Jan W. und seinen Kumpanen. Im April 1997 dann ein Besuch bei Orazio in einer neurologischen Spezialklinik im niedersächsischen Coppenbrügge. Deprimierender kann eine Dienstreise für einen Journalisten in Deutschland kaum sein.

Orazio lag die meiste Zeit im Bett, starrte an die Decke, sprechen konnte er kaum. Ein Arzt sagte, eine Genesung sei „extremst unwahrscheinlich“. Angelica hielt seine Hand. Und sagte fast nichts.

Der Blick auf ein knapp gerettetes, aber doch unrettbar ruiniertes Leben war für mich Anlass, die Berichterstattung über Rechtsextremismus auszuweiten. Mit einem Projekt, dessen Ende offen ist. Eine Langzeitstudie über ein Opfer rechter Gewalt, mit jährlichen Besuchen und Reportagen. Über das Schicksal von Orazio, der mit Angelica und Efi schon vor der Tat in Bielefeld lebte. Als Beispiel für die Qualen eines Menschen und seiner Angehörigen als Folge braunen Hasses in Deutschland. In diesem Fall lebenslang.

Offizielle Opferzahlen rechter Gewalt zu niedrig

Seit der Wiedervereinigung sind weit mehr als 10 000 Menschen, das lässt sich aus Polizeidaten schließen, bei Angriffen von Neonazis und anderen Rechten verletzt worden. Wie viele Opfer endlos leiden, körperlich oder zumindest seelisch, weiß niemand. Gesellschaft und Staat fragen nicht. Obwohl es bei mehr als 10 000 Verletzten seit 1990 kaum denkbar erscheint, dass physisch und psychisch Langzeitverletzte wie Orazio in der Bundesrepublik lediglich Einzelfälle sind.

Zu den Opfern müssen auch die Angehörigen der Toten gezählt werden, der Erschlagenen, Erstochenen, Verbrannten, Ertränkten, Erschossenen. Seit der Wiedervereinigung haben Rechte nach Recherchen von Tagesspiegel und „Zeit Online“ mindestens 169 Menschen getötet. Die Polizei spricht von 84. Eine offenkundig viel zu niedrige Zahl. Auch das Entsetzen, das die Republik ergriff, als die Morde der Terrorzelle NSU bekannt wurden, hat in den meisten Bundesländern bei den Regierungen nicht den Blick auf die eigenen, lückenhaften Bilanzen zu mörderischer rechter Gewalt geschärft.

Die meiste Zeit sind sie für sich

Orazio hat nach dem Angriff des Skinheads mehrmals gesagt, lieber wäre er tot. Seit 22 Jahren ist er ein Invalide. Ihn quält nicht nur die spastische Lähmung. Da sind die chronischen und von Jahr zu Jahr heftiger werdenden Probleme mit Magen und Verdauung, die Kopfschmerzen, die Depressionen, die Sprachstörung. Er kann sich nur mühsam mitteilen. „Das Ganze schlecht“, flüstert er, als ich ihn vergangenen Montag in Bielefeld frage, was er diesmal am Jahrestag des Angriffs gedacht hat. „Warum?“, dann versagt die Stimme. Angelica kommt hinzu: „Ich hatte den Tag wieder vergessen. Aber Orazio hat sich erinnert und geweint. Ich habe gefragt, warum weinst du. Dann hat er es mir gesagt.“

Und doch ist die Stimmung am Montag besser als üblich. Orazio, Angelica und Efi freuen sich über den Besuch. Viel mehr Kontakte nach draußen haben die drei nicht. Die meiste Zeit sind sie für sich, gefangen im gemeinsamen Leid. „Das Leben ist für uns immer ein Kampf“, sagt Efi. Und Angelica erzählt, dass sie von einer Nachbarin in dem Wohnhaus gemobbt wird.

„Sie hat gesagt, sie holt die Polizei, weil die Rollstühle im Treppenhaus stehen.“ Angelica ist empört. „Da ist doch genug Platz!“ Das stimmt. Der Flur zwischen der Wohnung von Orazio und Angelica rechts und der von Efi gegenüber ist geräumig genug für fünf Rollstühle. Die zwei von Orazio und sein Rollator blockieren keinen Weg. Die Geräte würden die Wohnungen der drei nur verstopfen. Die Nachbarin interessiert das offenbar nicht. „Letztens kam sie runter und hat neben mir ausgespuckt“, sagt Angelica.

Sie gab ihren Job auf um ihn zu pflegen

Dass die zierliche Frau seit mehr als zwei Jahrzehnten die Pflege für Orazio und nun auch noch Anfeindungen durchsteht, ist nahezu unglaublich. Angelica ist stark – und doch fast am Ende ihrer Kraft. „Ich bin auch viel schlapper geworden“, sagt sie. Gleich nach dem „Unfall“, wie sie den Schlag des Skinheads nennt, gab sie ihren Job auf, um Orazio zu pflegen. Und sie zahlt einen hohen Preis. Bluthochdruck und Depressionen setzen ihr zu. Dennoch schafft sie es immer noch, Orazio nachts aus seinem Bett zu holen, wenn es ihm schlecht geht und er ins Bad muss. Angelica hievt dann den schweren, kompakten Mann an die Bettkante und zieht ihm die orthopädischen Stiefel an. „Barfuß kann Orazio nicht“, sagt sie.

Im Juni war Orazio Giamblanco doch noch seine alten Heimatinsel besuchen. Spenden hatten dies möglich gemacht.
Im Juni war Orazio Giamblanco doch noch seine alten Heimatinsel besuchen. Spenden hatten dies möglich gemacht.
© privat

Im Frühjahr war sie so erschöpft, dass sie auf die jährliche Reise mit Orazio in seine alte Heimat Sizilien verzichten wollte. Orazios Magenprobleme wurden so schlimm, dass er die Verdauung kaum noch unter Kontrolle hatte. Die Medikamente halfen nicht mehr. In ihrer Verzweiflung suchten Angelica und Efi einen Weg jenseits der Ärzte. In einem griechischen TV-Sender sahen sie die Werbung für eine Rezeptur, die eine bessere Verdauung bewirken soll. Efi holte ein ähnliches Mittel in einer Bielefelder Apotheke – und tatsächlich ließen Orazios Beschwerden etwas nach. Dann ging es doch noch im Juni nach Sizilien. Mit dem Geld, das Tagesspiegel-Leser im vergangenen Jahr gespendet hatten, konnten die drei den fast vierwöchigen Aufenthalt in einem halbwegs behindertengerechten Hotel bezahlen. Die Reise tat ihnen gut. „Der Urlaub hat geklappt, da waren wir alle glücklich“, sagt Efi. Solche Momente sind auch in ihrem Leben selten.

Der Täter bereut seine Tat

Nach dem „Unfall“ brach sie die Lehre als Friseuse ab. Ihr Chef akzeptierte nicht, dass sie mehr freie Zeit brauchte, um der Mutter bei der Pflege von Orazio zu helfen. Heute arbeitet Efi in einer Schokoladenfabrik. Kaum ist sie zu Hause, schaut sie nach ihrer Mutter und Orazio.

Einen Lebenspartner hat Efi nicht. Die Männer, die sie kennenlernte, „haben kein Verständnis, dass ich mich viel um Mutter und Orazio kümmern muss“, sagt sie. 2013 erkrankte auch sie an Depressionen und hätte sich beinahe umgebracht. Noch heute nimmt sie starke Medikamente, dazu Schlaftabletten.

Der Täter weiß aus früherem Kontakt zum Tagesspiegel vom Drama in Bielefeld. Jan W., den das Landgericht Potsdam 1997 zu 15 Jahren Haft verurteilte, bereut seine Tat und hat mit der Szene der Neonazis gebrochen. 2006 gab er mir zwei Briefe mit, in denen er sich zu seiner Schuld bekennt. „Ich war damals einfach der größte IDIOT der Welt“, steht da. Orazio, Angelica und Efi verziehen ihm. Doch mit der Zeitung reden will W. nicht mehr. Der Kontakt ist gerissen.

In Bielefeld ist der Täter diesmal kein Thema. Orazio denkt ans Frühjahr. Er und die Frauen hoffen, genug Kraft aufzubringen, um nach Sizilien zu reisen. Ob das klappt? Angelica und Efi gucken skeptisch. Orazio nuschelt: „Ich glaube ja.“

Hilfe für Orazio Giamblanco

Der Potsdamer Verein „Opferperspektive“ sammelt Spenden für Orazio Giamblanco: Bank für Sozialwirtschaft, IBAN: DE34100 20500 00038 13100, BIC: BFSWDE33BER, Stichwort „Orazio“. Wer eine Quittung möchte, nennt bitte auf der Überweisung die Anschrift. Der Verein wird im kommenden Februar die Quittungen schicken.

Spenden nimmt auch die Stadt Trebbin entgegen: Mittelbrandenburgische Sparkasse, IBAN: DE24160 50000 36470 21740, BIC: WELADED1PMB, Stichwort „Spende für Orazio Giamblanco“. Quittungen gibt es über das Rathaus, Telefon 033731 - 8420.

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