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Orazio Giamblanco.
© Frank Jansen

Nach Neonazi-Angriff vor 20 Jahren: "Weiterleben. Einige Monate so, und einige Monate so.“

Das alte Leben von Orazio Giamblanco endete im September 1996. Ein Skinhead tötet ihn fast. Seitdem leidet er. Jeden Tag. Unser Reporter besucht ihn. Jedes Jahr.

Als Helmut Kohl noch Deutschland regiert, in den USA Bill Clinton erneut Präsident wird und im Wembley-Stadion die deutsche Nationalmannschaft durch das erste Golden Goal der Fußballgeschichte die Europameisterschaft gewinnt, taucht in den Zeitungen auch eine kleine Meldung auf, dass im brandenburgischen Trebbin junge Skinheads italienische Bauarbeiter angegriffen haben. Ein Opfer wird durch einen Hieb mit einer Baseballkeule lebensgefährlich verletzt. Im Tagesspiegel steht: „Italienische Bauarbeiter mehrmals überfallen.“

Diese Geschichten scheinen weit weg zu sein. 1996 ist ein Jahr aus analoger Vorzeit. Das Internet ist noch kein Massenphänomen und Fernseher sind klobige Geräte. Doch 20 Jahre später hat sich nicht alles geändert. Deutschland bleibt wohlhabend, der Rechtsstaat funktioniert. Die rassistische Gewalt aber kann er bisher nicht beenden – 1996 so wenig wie 2016.

Bielefeld, im November 2016. Orazio Giamblanco, ein kompakter, alter Mann aus Sizilien, steht im Franziskus-Hospital gebeugt vor seinem Rollstuhl. Ein Physiotherapeut und eine schmale Frau haben ihn herausgehievt. Beide stützen Giamblanco. Er drückt seine rechte Hand in den Griff einer Krücke, die linke Faust presst sich in die Hand von Efthimia Berdes, der Tochter seiner Lebensgefährtin. „Geht es, Orazio?“, fragt Berdes. Er ruckelt vorwärts. „Möchte laufen“, nuschelt Orazio. Erstmals seit Monaten versucht er es wieder mit Krankengymnastik – trotz schwerer Magenprobleme. Später setzt er sich ans Seilzuggerät. Schwer atmend zieht er an den Griffen.

2016 gab es bereits 730 rechte Attacken

Orazio Giamblanco ist der Mann, dem der Skinhead Jan W. am 30. September 1996 in Trebbin die Keule an den Kopf schlug. Seitdem leidet Giamblanco unter spastischer Lähmung, er ist auf Rollstuhl und Rollator angewiesen. Das linke Bein steckt in einer Stahlschiene. Seine Stimme ist kaum zu verstehen, der Schlag hat eine Sprachstörung und häufige Kopfschmerzen verursacht. Giamblanco ist schwer behindert. Lebenslang.

Giamblancos Geschichte ist ein Teil der Historie Deutschlands. Seit der Wiedervereinigung haben Rechtsextremisten schätzungsweise mehr als 10.000 Menschen verletzt und 150 getötet. Allein in diesem Jahr hat die Polizei bis Ende September 730 Attacken gezählt – und 545 Verletzte. Die Schicksale sind weitgehend unbekannt.

Um eine Ahnung davon zu bekommen, was ein Opfer rechter Gewalt durchmacht, begann der Tagesspiegel 1997 eine Art Langzeitstudie über Orazio Giamblanco. Sein Fall erschien so brutal, dass sich noch mehr als bei vielen anderen Opfern die Frage aufdrängte: Wie lebt der Mann weiter?

Jedes Jahr fahre ich nach Bielefeld, wo Orazio Giamblanco, seine Lebensgefährtin Angelica Stavropolou und ihre Tochter Efthimia Berdes, genannt Efi, leben. Inzwischen sind wir Freunde geworden, wir duzen uns, sind gemeinsam älter geworden. Orazio ist heute 75, Angelica 65, Efi 42 Jahre alt. Nicht alles, was ich vom Leben der drei mitbekomme, muss in die Zeitung. Dennoch zeigen sich viele Leser jedes Jahr berührt – und spenden für Orazio und die Frauen. Die Anteilnahme tut den dreien gut. Ein Lichtblick in einem Drama, das schon 20 Jahre dauert.

Vergangenen Montag haben wir in der kleinen Wohnung in Bielefeld über die lange Zeit gesprochen. Orazio und die Frauen tun sich schwer. „Die Kraft wird immer weniger“, sagt er. „Meine Gedanken sind immer, dass Angelica gesund bleibt. Sie hat es schwer, sie und Efi ...“. Er beendet den Satz nicht. Angelica schaut ihn an. Sie sagt, „wir hatten ein anderes Leben, wir waren frei, ich habe gearbeitet“.

"Vor 20 Jahren hatten wir Träume"

In Bielefeld lernten sie sich Anfang der 1990er kennen. Orazio führte mit einem Bruder eine Pizzeria, Angelica mit ihrem Ex-Mann ein griechisches Lokal. Weder Orazio noch Angelica hatten Erfolg. Orazio suchte einen Job beim Bau. Im September 1996 fuhr er nach Trebbin, um auf einer Baustelle als Hilfsarbeiter anzufangen. „Orazio und ich hatten uns gewünscht, irgendwann in Griechenland ein Haus zu bauen“, sagt Angelica. Efi nickt: „Wir hatten Träume.“ Sie stockt. „Seit 20 Jahren ist unser Leben eingeschränkt. Das ist schwer.“

Im September 1996 kommen Italiener nach Trebbin, um auf der Baustelle zu arbeiten. Am Abend des 30. September greifen Rechtsextreme die ihnen verhassten Ausländer an. In der Nähe der Containerunterkunft der Bauarbeiter treffen Jan W. und ein Kumpan auf Giamblanco und zwei Kollegen. „Seid ihr Italiener?“, rufen die Skinheads. Dann schwingt Jan W. den Baseballschläger. Er trifft Giamblanco an der linken Schläfe. Die Rechten springen in ihren Trabant, rasen weg. Giamblancos Kollegen bringen ihn ins Luckenwalder Krankenhaus. Zwei Notoperationen retten sein Leben. Die beiden anderen Italiener werden noch in derselben Nacht erneut in Trebbin attackiert.

Orazio treffe ich erstmals im April 1997. Er liegt in der Klinik für Neurologie in Coppenbrügge bei Hannover. Orazio starrt an die Decke, er wirkt apathisch. Angelica sitzt an seinem Bett, versucht ihn aufzumuntern. Ein Arzt sagt, es sei „extremst unwahrscheinlich“, dass Orazio je wieder gesund wird.

Orazio Giamblanco ist gelähmt. Er muss sich ständig in der Reha fit halten, um mobil zu bleiben, hat chronische Schmerzen.
Orazio Giamblanco ist gelähmt. Er muss sich ständig in der Reha fit halten, um mobil zu bleiben, hat chronische Schmerzen.
© Frank Jansen

So ist es gekommen. Aber Orazio und die Frauen haben nie aufgehört zu kämpfen. Um ein bisschen Lebensfreude. Mithilfe von Angelica und Efi sind Momente möglich, in denen Lähmung und Schmerzen zweitrangig sind. Im Juni 2003 reisen die drei erstmals seit dem Überfall nach Sizilien, in Orazios alte Heimat. Er will die Grabstätte seiner Eltern besuchen. Gestützt auf Angelica und eine Krücke müht sich Orazio den hügeligen Friedhof hoch zum Totenhaus, in dem auch seine Eltern bestattet sind. Orazio sagt nichts, er berührt nur die Marmorplatte. Beim Verlassen des Totenhauses lächelt er minutenlang. Er hat es geschafft.

Orazio fliegt auch in weiteren Jahren mit Angelica und Efi nach Sizilien. Zuletzt waren die drei im Juni auf der Insel. Die mediterrane Luft, die Wärme, die Verwandten lindern sein Leid.

In Deutschland hilft vor allem Empathie. Als 2009, immerhin 13 Jahre nach dem Angriff, drei Kommunalpolitiker aus Trebbin zu Orazio reisen, um zu erfahren, wie es dem Mann geht, der in ihrer kleinen Stadt fast totgeschlagen wurde, gibt es rührende Szenen. Orazio und die Frauen empfangen Vize-Bürgermeisterin Ina Schulze und die Stadtverordneten Peter Blohm und Hendrik Bartl herzlich. Die Politiker sind gerührt, vielleicht auch beschämt. Sie sehen, wie Orazio bei der Krankengymnastik kämpft, mit dem Rollstuhl ruckelt, wie Angelica und Efi sich kümmern. Er habe sich das alles nicht vorstellen können, sagt Blohm.

Krankenkasse stellt sich quer

Nach diesem Treffen ändert sich einiges. Auf einer Veranstaltung in Trebbin, zu der auch der Täter kommt, berichten die Politiker dem Publikum, wie es Orazio und den Frauen geht. Die Stadt startet nun eine eigene Spendenaktion.

In den 20 Jahren erleben Orazio, Angelica und Efi allerdings auch Enttäuschungen und Kälte. Es beginnt damit, dass Efi nach der Gewalttat die Lehre in einem Friseursalon abbrechen muss. Ihr Chef hat kein Verständnis dafür, dass Efi zuweilen nicht pünktlich kommt, weil sie der Mutter bei der Pflege von Orazio geholfen hat. Orazio sei nicht mal ihr leiblicher Vater, muss sich die junge Griechin anhören. Ein halbes Jahr vor Abschluss der Lehre gibt sie auf.

Auch Behörden und Krankenkassen lassen die Familie in Bielefeld verzweifeln. Da ist zum Beispiel der Kampf um einen Elektro-Rollstuhl, mit dem ein Schwerbehinderter selbst fahren kann. Die AOK lehnt ab, trotz einer Empfehlung von Orazios Hausarzt. Die Frauen bitten den Tagesspiegel, mit der Krankenkasse zu sprechen. Die Sachbearbeiterin, die den Rollstuhl nicht bewilligen will, stellt während des Telefonats beim Blättern in den Akten fest, dass sie gar nicht zuständig sei. Sie wird unsicher. Kurz darauf ist der Elektro-Rollstuhl genehmigt.

Der Täter ist reuig und rechts

Eine Langzeitstudie wäre ohne einen Blick auf den Täter nicht vollständig. Seit 2002 hat der Tagesspiegel sporadisch Kontakt zu ihm. Was bewegt Jan W. 20 Jahre nach dem Angriff?

Die Sprache ist unverändert derb. „Ick hab’ Scheiße gebaut, dafür hab’ ick meine Jahre gekriegt“, sagt er. „Es war Scheiße, dass ick überreagiert hab.“ Die raue Stimme wird leise. „Jetzt, zu dieser Jahreszeit, seh’ ick 20 Jahre zurück. Mensch, da hab’ ick im Gefängnis gesessen. Da kriegt man sein Bündel Wäsche, sein Essen. Da gab es einschneidende Erlebnisse ...“ Jan W. stockt. Der Mann, der nun selbst auf dem Bau arbeitet, ist 42 Jahre alt und ständig mit seinem Transporter unterwegs. Die Scham wirkt echt, auch wenn sie sich mit Selbstmitleid mischt. Jan W. ist reuig und rechts. Bei Facebook gibt er an, dass ihm die AfD gefällt. Von Gewalt und Nazis aber will er nichts mehr wissen.

Das Landgericht Potsdam verurteilt Jan W. 1997 zu 15 Jahren Haft. Versuchter Mord, sagt der Richter. Nach dem Urteil weint der Kraftkerl wie ein Kind. Doch im Gefängnis löst er sich erst nach Jahren von seinen „Kameraden“. Im Prozess hat er keine Mittäter genannt, die Szene aber lässt ihn hängen. Jan W. rächt sich, redet 2002 mit einem Staatsanwalt. Sieben Rechte werden doch noch für die Angriffe in Trebbin bestraft.

„Und dat mir dat immer noch leid tut“

Nach acht Jahren kommt Jan W. vorzeitig aus dem Gefängnis. Er verändert sich, 2006 schreibt er zwei Briefe – einen an Orazio allein und einen an ihn und die beiden Frauen. Jan W. gibt mir die Schreiben mit. In Bielefeld bittet Orazio, ich möge die Briefe vorlesen. Da steht, „ich war damals einfach der größte IDIOT der Welt, der sich mit falschem Stolz durchs Leben schlug“. Und: „Wissen Sie, es ist sehr herzaufwühlend, wenn ich der Wahrheit jeden Tag aufs Neue ins Auge blicke.“ Denn ihm werde „bewusst, was ich damals für einen riesengroßen Fehler beging, indem ich Ihr Leben zerstörte“. Orazio, Angelica und Efi sind bewegt. Sie bitten, Jan W. auszurichten, dass sie ihm verzeihen. Die Nachricht überwältigt den Ex-Skinhead. Am Telefon ist er damals so erleichtert, dass er kaum etwas sagen kann.

Regelmäßig lässt Jan W. Grüße ausrichten. „Und dat mir dat immer noch leid tut“, sagt er auch jetzt. In Bielefeld reagieren sie zurückhaltend. „Er kann sein Leben weiterleben, wie er will“, sagt Efi. Sie leidet unter Depressionen, musste wochenlang ihre Arbeit in einer Schokoladenfabrik unterbrechen. Angelica sorgt sich um Efi, die in ihrer Freizeit hilft, Orazio zu pflegen. Und die in den 20 Jahren den Wunsch aufgegeben hat, eine Familie zu gründen. „Früher habe ich gesagt, ich hätte gern drei Kinder“, sagt Efi. Die Männer, die sie kennenlernte, waren nicht bereit, so viel Zeit zu opfern, um Efis Einsatz für Orazio zu unterstützen.

Wie geht es weiter?

„Ich muss weitermachen, kämpfen“, sagt Efi, „es gibt nichts Wichtigeres als die Familie.“ Angelica, die ebenfalls zum Psychiater geht, sagt: „Gott muss mir Kraft geben, Orazio und Efi brauchen mich.“ Orazio schweigt. Dann sagt er: „Weiterleben. Einige Monate so, und einige Monate so.“

Die „Opferperspektive e. V.“ sammelt Spenden für Orazio Giamblanco: Konto 3813100, Stichwort „Orazio“, Bank für Sozialwirtschaft, IBAN: DE34100 20500 00038 13100, BIC: BFSWDE33BER. Wer eine Quittung möchte, nennt bitte auf der Überweisung die Anschrift. Spenden nimmt auch die Stadt Trebbin an: Mittelbrandenburgische Sparkasse, „Spende für Orazio Giamblanco“, IBAN: DE24160 50000 36470 21740, BIC: WELADED1PMB. Quittungen gibt es über das Rathaus (033731 - 8420)

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