Kopftuchverbot für Berliner Lehrerinnen: Die zweifelhafte Datenlage des Scheeres-Gutachtens
Ein Juraprofessor zeichnet ein Bild von muslimischen Berliner Schülern als religiöse Tyrannen. Das sollte die Senatorin näher erklären. Ein Kommentar.
Die Berliner Schulverwaltung hat ein Gutachten vorgelegt, wonach das Kopftuchverbot für Lehrerinnen mit Grund- und Menschenrechten sowie EU-Recht und dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz vereinbar sein soll. Politisch zielführend sei es darüber hinaus. Fazit zum so genannten Neutralitätsgesetz: „Eine Änderung (...) ist weder geboten noch zu empfehlen“.
Das Gutachten des Gießener Rechtsprofessors Wolfgang Bock ist von der ersten bis zur letzen der 122 Seiten ein entschiedenes Werk. Ob es ein entscheidendes ist, muss sich zeigen. Es soll Senatorin Sandra Scheeres (SPD) in einem Rechtsstreit mit einer Lehrerin vor dem Bundesarbeitsgericht helfen, die wegen ihres Kopftuchs keinen Job bekam.
2015 hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt, dass Pauschalverbote unzulässig seien. Gerechtfertigt sei der Eingriff nur, wenn der Schulfriede gestört werde. Seitdem klagen abgelehnte Lehrerinnen auf Entschädigung. Der Senat ist sich uneins. Die SPD verteidigt das Gesetz, die Grünen wollen es streichen oder anpassen.
Kein Wunder, dass der Gutachter dieses Urteil für falsch hält. Weniger aus juristischen Gründen. Er findet, dass die Karlsruher Richter blind sind für die „an Berliner Schulen verbreitete islamische Religionskultur“. Diese Kultur besteht aus seiner Sicht im Wesentlichen darin, dass Männer über Frauen herrschen und religiöse Folgsamkeit fordern. Ein „relevanter Teil“ muslimischer Schüler würde muslimische Mitschülerinnen zu islamisch korrektem Verhalten zwingen, und zwar – wörtlich – „mit allen Mitteln“ .
Welchen Mitteln genau? Zweifel kommen nicht nur, aber auch angesichts der Datenlage, auf die sich der Gutachter stützt. Wie der Islam in Berlin erscheint, folgert er aus Studien in Herkunftsländern. Für seine Rekonstruktion einer „Religionskultur“ braucht er erstaunlich wenig Seiten.
Kronzeugin für die Berliner Zustände ist eine Wiener Lehrerin
Die unbelegte Feststellung, dass „bis zur Hälfte aller Schulen“ in Berlin im Alltag „teils schwerwiegende und heftige kulturelle Konflikte“ aufwiesen, kontrastiert mit einem anderen Befund: Dass es nur „wenige Berichte“ aus „einigen Berliner Schulen“ gebe, die solche Konflikte schildern. Und dies, obwohl nach Zahlenwerk und Schätzung täglich Zehntausende Jungs ähnlich viele Mädchen tyrannisieren müssten.
Als Kronzeugin für die Berliner Zustände wird stattdessen eine Wiener Lehrerin zitiert, die über den „Kulturkampf im Klassenzimmer“ ein aus Gutachtersicht unterschätztes Buch geschrieben hat. Empfohlen wird es übrigens von der AfD Münster.
Wer ein Gutachten mit solchen Thesen vorlegt, muss liefern. Nicht ein weiteres Gutachten, sondern Fakten und Daten. Wie sieht es hier wirklich an den Schulen aus? Wo ist es ruhig, wo brennt es? Und warum gibt es bei angeblich so vielen und so großen Problemen offenbar nur derart „wenige Berichte“ aus den Schulen?
Jost Müller-Neuhof