Kolumne "Meine Heimat": Die Wut nach Soma ist verständlich
Unsere Kolumnistin Hatice Akyün versteht den Zorn der Menschen nach dem Grubenunglück in Soma. Sie selbst ist Tochter eines Bergarbeiters, der im Ruhrgebiet unter Tage war.
Das deutsche Wort, das ich nach meiner Erinnerung als erstes gelernt habe, war „Glückauf!“. Mein Vater arbeitete in Duisburg schon als Bergmann, bevor ich mit meiner Schwester und meiner Mutter aus unserem anatolischen Dorf nachkam. Unter Tage ereignete sich ein Unfall, mein Vater verlor den rechten Arm. Ich kenne meinen Vater deshalb nur mit einem Arm. Erst Jahre später erzählte er uns die Geschichte von der Hilfe seines Steigers.
Mit einem Arm arbeitet es sich nicht gut unter Tage, deshalb bot man meinem Vater 10 000 Mark an, um ihn loszuwerden. „Nehmen Sie das Geld, wir haben keine Arbeit mehr für Sie“, sagten sie, als er nach fast einem Jahr das Krankenhaus verlassen durfte. Mein Vater antwortete: „Ich möchte das Geld nicht, geben Sie mir Arbeit.“ Sie setzten ihn weiter unter Druck, aber mein Vater blieb hartnäckig: „Ich bin mit zwei Armen in Ihr Land gekommen. Geben Sie mir meinen Arm zurück, dann gehe ich zurück – ohne Ihr Geld.“ Als der Steiger davon hörte, ging er wütend zu seinen Vorgesetzten und kämpfte dafür, dass mein Vater eine Unfallrente bekam. Er lebt bis heute davon.
Erinnerung ans Ruhrgebiet
Das Grubenunglück in der türkischen Stadt Soma ist mir sehr nahe gegangen. Womöglich anders nah als anderen. Ich bin die Tochter eines Bergarbeiters. Kohlenstaub war der Inbegriff meiner Kindheit. Wer im Ruhrgebiet aufwächst, hat den Geruch von verbrannter Kohle nicht nur in der Nase, wenn er das Haus verlässt. Auch zu Hause in unserem Zechenhaus stand ein Kohleofen. Mein Vater bekam jedes Jahr zwei Tonnen Kohle umsonst. Die brachten sie mit einem Lastwagen bis vor die Hofeinfahrt. Um sie in den Keller zu schaffen, mussten meine Geschwister und ich die ovalen Kugeln in Eimern bis zum Kellerfenster tragen. Dort hatte mein Vater eine selbst gebaute Holzrutsche befestigt.
Unser Kohleofen hatte viele Vorteile. Im Winter rösteten wir Kastanien, wir toasteten frisches Brot, und mein Vater stellte abends immer einen Topf Milch darauf, die wir morgens heiß tranken. Im Haus roch es wunderbar, wenn sich der Duft der Brote mit dem des Feuers mischte. Hatten meine Geschwister und ich genug draußen im Schnee gespielt, kamen wir ins Haus und setzen uns mit durchgefrorenen Füßen und roten Gesichtern vor den bollernden Ofen.
Nicht nur ein Sujet für Sentimentalität
Aber weiß Gott, Kohle ist nicht nur das Sujet für Sentimentalität. Kohle war der Treibstoff für die Industrialisierung, die Hochöfen, den Stahl, den Strom und die Wärme in den Städten, in denen die Arbeiter wohnten und kein Holz schlagen konnten, um zu kochen und zu heizen.
Es gibt Leute, die belegen können, dass die Türkei die Erträge aus dem Wirtschaftswachstum fast nahtlos für Energieimporte ausgibt. Daher, und um auch gegen billige Importkohle zu bestehen, fördert man in der Türkei die Kohle zu miserablen Bedingungen. Nur die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust lässt die Zustände dort ertragen. Die Profite der unter Erdogan privatisierten Gruben werden ebenso nicht angetastet. So verstehe ich die Wut der Menschen, die sagen, dass nun gekommen ist, was abzusehen war.
Hunderte tote Kumpel, Familien ohne Ernährer, Frauen als Witwen, Kinder ohne Väter. Da machen Wasserwerfer und Tränengas fast nichts mehr aus. Wenn zur Trauer Bitterkeit kommt, ist Hass nicht fern. Oder wie mein Vater sagen würde: „Glück auf, Glück auf, der Steiger kommt. Und er hat sein helles Licht bei der Nacht schon angezündt’. Das gibt ein’n Schein, und damit fahren wir bei der Nacht ins Bergwerk ein.“
Hatice Akyün ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause. An dieser Stelle schreibt sie immer montags über ihre Heimat.
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