Gewalt am Alexanderplatz: Die Platzwunde
Er ist einer der belebtesten Orte der Stadt – und zum Problem geworden: Ein Nachtbesuch am Alexanderplatz, bei Polizisten und Pöblern.
Es wird in dieser Nacht bis zwei Uhr dauern, bis die Staatsgewalt kurz mal nicht in Sichtweite ist. Keine Bundespolizei, kein Kontaktmobil, auch keine Streife. Was dann passiert, in den wenigen Momenten, ist Folgendes: Junge Männer pinkeln gröhlend auf Plastikstühle. Einer reckt seine Faust in die Luft, als Zeichen des Triumphs. Ein Betrunkener schlägt wie wild auf eine Werbewand ein. Sieht aus, als wolle er sich hindurchboxen. Die Taxifahrer wiederum interessieren sich nicht mehr für Straßenschilder, halten nun mitten auf dem Bahnhofsvorplatz. Ein Wartender neben dem Brückenpfeiler hat erkannt, was hier vor sich geht: „Kaum sind die Aufpasser weg, holen sich die Idioten ihren Platz zurück!“
Es geschehen nachts schlimme Dinge am Alexanderplatz, so steht es seit Monaten in den Zeitungen. Seit Jonny K. im Oktober 2012 zu Tode geprügelt wurde, gibt es immer wieder Gewaltausbrüche, allein vier Vorfälle im vergangenen Monat. Zuletzt gingen zwei Gruppen junger Männer aufeinander los, mit Bierflaschen und einem Messer. Ein Mensch wurde schwer verletzt. Innensenator Henkel spricht inzwischen von einer „problematischen Partymeile“, die eine „alkoholgeneigte und konfliktbereite Klientel“ anziehe. Warum lässt eine Stadt zu, dass ihr zentraler Ort so verkommt?
Um darauf eine Antwort zu finden, hilft es, sich für eine Nacht dort hinzustellen. Da, wo man sonst nur hinwill, um einzukaufen oder umzusteigen oder ins Kino zu gehen. Nie aber, um zu verweilen.
Erster Eindruck: Hier wird sicher kein Verbrechen geschehen, bei dieser Polizisten-Dichte. Seit Einbruch der Dunkelheit stehen sie demonstrativ überall. Allein bei der S-Bahnbrücke, die den eigentlichen Alexanderplatz im Osten vom Areal um den Fernsehturm trennt, sind vier Einsatzfahrzeuge geparkt. Eine Polizistin hebt ein umgefallenes Fahrrad auf. Keine Sorge, das war nur der Wind! In der Bahnhofshalle wird die Beamtin später eine Obdachlose daran erinnern, dass die ihren Plastikteller bitteschön im Müll entsorgen soll, wenn sie fertig ist mit dem Essen. Dann kommt das Sicherheitsteam der Deutschen Bahn und redet ebenfalls auf die Obdachlose ein. Zu fünft.
Die Wachleute der Deutschen Bahn sind nicht zu verwechseln mit denen der BVG, dazu kommt die Bundespolizei, ein Wagen der Einsatzhundertschaft 23, außerdem patrouillieren Angestellte diverser Sicherheitsfirmen, engagiert von den umliegenden Geschäften. Wer hier Straftaten begeht, muss schön blöd sein. Oder?
Wer Wachschützer beschimpft, darf Hände schütteln
Manchen nervt die Polizeipräsenz. Wer zu lang am Südeingang stehen bleibt, muss seinen Ausweis vorzeigen. „Als Jonny starb, war kein einziger von euch hier“, ruft Volkmar Zacher. Er sagt, er sei nicht obdachlos, aber seit Jahren Dauergast am Alex. Und dass sich die Atmosphäre hier deutlich verschlechtert habe. „Ich hau dir in die Fresse“, „geh weiter, sonst passiert was“, das seien Sätze, die er von Fremden zu hören bekomme. Bekannte hat Volkmar Zacher schon in ihrem eigenen Blut liegen sehen, weil sie nicht schnell genug vor Angreifern flüchten konnten. Das Schlimme sei: „Man sieht den Menschen hier im Trubel nicht an, dass sie gleich zuschlagen.“ Der eine trage Kapuzenpulli, der nächste Jackett. Sie platze einfach so aus ihnen heraus, die Aggressivität.
Am Treppenaufgang zur U-Bahn tanzt ein Lockenkopf auf der Stelle. Links Rewe-Tüte, rechts Pilsdose in der Hand. Er dreht sich im Kreis, wankt dann auf die Wachschützer zu. Beschimpft sie, lacht sie aus, faselt drauflos. Seine Sätze ergeben keinen Sinn, es ist auch nicht klar, ob der Mann auf Drogen ist oder gestört oder sich gerade einen Scherz erlaubt. Klar ist nur, dass die Wachschützer heute viel Geduld haben. Und so lange warten, bis der Mann sich beruhigt hat und weiterzieht. Zum Abschied darf er ihre Hände schütteln.
Als Reaktion auf den Tod von Jonny K. hat die Berliner Polizei das sogenannte Kontaktmobil geschickt: Jeweils zwei Beamte, die im Wagen Präsenz zeigen.Während ab 22 Uhr die Zahl der Polizeiwagen sichtbar abnimmt, bleibt das Kontaktmobil in den Wochenendnächsten bis zum Morgen. Seit Jahresbeginn haben die Mitarbeiter 100 Anzeigen aufgenommen, 500 Personen überprüft, 250 Platzverweise ausgesprochen und 15 000 Fragen beantwortet. In dieser Nacht kommt die nächste.
Unter der S-Bahnbrücke bequatschen Katja und Mirella, zwei dunkel gekleidete, junge Frauen die Polizisten: „Wollt Ihr nicht mitkommen ins Insomnia?“ Da sei heute Fetischparty, Menschen in Uniformen seien dringend erwünscht. Frage 15 001 wird verneint.
Als Senator Henkel das Kontaktmobil einführte, gab er sich überzeugt, dadurch werde die Verbrechensrate sinke. Tatsächlich belegen neue Zahlen einen leichten Rückgang: Zwischen Anfang Januar und Ende November gab es rund um den Alexanderplatz 3965 Straftaten, das sind 1,8 Prozent weniger als im Vergleichszeitraum 2012. Die schweren Straftaten sind sogar um 3,4 Prozent zurückgegangen. Aber reicht das?
Was sich jetzt ändern soll
Es sei doch Augenwischerei, zu glauben, dass man hier langfristig ein Problem gelöst habe, sagt SPD-Innenpolitiker Tom Schreiber. Er verlangt die Einrichtung einer „kombinierten Wache“ als Anlaufpunkt für Bürger, gemeinsam genutzt von Bundes- und Landespolizei sowie Ordnungsamt. Die Innenverwaltung lehnt den Vorschlag ab, unter anderem mit dem Argument, das ständige Besetzen einer solchen Wache binde viel Personal, das dann auf der Straße fehle. SPD-Mann Schreiber schlägt auch die Anschaffung von „Segways“ vor, den zweirädrigen Einachsern, auf denen man in Berlin-Mitte Touristengruppen über Bürgersteige flitzen sieht. In anderen Bundesländern werden sie bereits von der Polizei genutzt, wegen der hohen Geschwindigkeit eignen sie sich besonders zur Überwachung großer Flächen. Schreiber hat mit Herstellern Kontakt aufgenommen. Die Segways könnte man leasen.
Entscheidend seien Präsenz und Sichtbarkeit der Beamten, sagt Roland Weber, der Opferbeauftragte des Landes. Dazu müsse am Alexanderplatz stadtplanerisch eingegriffen werden. Die langwierigen Baustellen hätten Passanten abgeschreckt, das Gelände in einen Unort verwandelt. Aus Erfahrung, etwa in London, wisse man: An solchen negativ belegten Plätzen müsse man positive Gegenpole setzen. Zum Beispiel durch Open-Air- Konzerte, Benefizveranstaltungen. Gern auch durch einen hochwertigeren Weihnachtsmarkt.
Und dann ist da Lutz Leichsenring, der Sprecher der Berliner Clubcommission. Er sagt, das problematische Klientel am Alex liege nachts eben auch am mangelhaften Ausgehangebot: "Es ist unterirdisch, der Stadt nicht angemessen." Es gebe Würstchenbuden und Karussells, dazu "Dissen, in denen die Musik teilweise vom Band kommt, aber der Alkohol billig ist." Leichsenring fordert die Schaffung "kreativer Hotspots", also das Ermöglichen von Räumen, an denen sich Berliner Kreative ohne horrende Mieten austoben können. Das könnten Galerien sein oder Clubs. "Das hätte positiven Einfluss, es würde das gesamte Areal bereichern." Und langfristig ein anderes Publikum herlocken.
Man verdrängt das ja gern, aber eine Nacht am Alex führt es einem wieder vor Augen: In dieser Stadt gibt es sehr viele unangenehme Menschen. Rüpel, Angeber, Druffis, Halbstarke. Leute, mit denen man freiwillig lieber keine Zeit verbringen möchte. Der Alexanderplatz scheint sie anzuziehen. Wenn kurz kein Polizist anwesend ist, fallen die Hemmungen. Oder es wird, wie etwas früher an diesem Abend, ein DRK-Mitarbeiter minutenlang um sein Blutspendemobil gejagt. Der arme Mann weiß sich nicht anders zu helfen, als ins Fahrzeug zu flüchten und zu warten, bis der Angreifer abzieht.
Sebastian Leber