Wölfe in Brandenburg: Die neue Angst vorm bösen Wolf
In Brandenburg leben inzwischen 22 Rudel. Vergangenes Jahr rissen sie mindesten 143 Schafe und 19 Kälber. Einige Bauern halten daher Nachtwachen.
Bitterkalt ist er, dieser Samstagabend, an dem Frank Michelchen im Unterspreewald zur Wolfswache aufgerufen hat. Am Himmel glitzern die Sterne, am Boden die Reste der kürzlich noch geschlossenen Schneedecke im Schein eines Lagerfeuers. Das dämmt die Kälte ein wenig, dafür treiben einem bissige Rauchschwaden Tränen in die Augen.
Minus fünf Grad zeigt das Thermometer, als sich etwa 20 Leute am Waldrand von Leibsch, einem kleinen Dörfchen etwa 60 Kilometer südlich von Berlin, versammeln. Eingepackt in dicke Winterjacken wollen sie Michelchen unterstützen, wollen auf die Mutterkuhherde, vor allem aber auf die Kälber aufpassen, die wenige Meter weiter weiden. Denn im Unterspreewald geht der Wolf um.
So ähnlich muss es in vergangenen Jahrhunderten immer gewesen sein. Auch damals hielten Bauern gemeinsame Nachtwachen, denn vor allem in kalten Wintern kamen hungrige Wölfe näher an sonst eher gemiedene menschliche Behausungen heran. Wolfs- und Geschichtsforscher vermuten, dass deshalb die zahlreichen Märchen vom bösen Wolf entstanden sind. "Die sieben Geißlein" zum Beispiel und "Rotkäppchen", der Klassiker.
Zwar hätten die Wölfe sehr selten Menschen direkt angriffen, heißt es. Aber wenn sie die einzige Kuh oder Ziege eines armen Bauern erwischten, konnte das für dessen Familie ebenfalls den Hungertod bedeuten.
Ganz so schlimm wird es Frank Michelchen und seiner Lebensgefährtin Britt Liebknecht nicht ergehen, aber in ihrer Existenz als Biolandwirte bedroht fühlen sie sich durchaus. In Leibsch hält das Paar derzeit 40 Kühe, zwölf Kälber und 30 halbwüchsige Rinder. Die Tiere seien durch die wachsende Anzahl von Wölfen in Gefahr, sagt Michelchen. 46 Wolfsrudel leben inzwischen wieder in Deutschland, 22 davon in Brandenburg. Hier haben sie im vergangenen Jahr neben Rehen, Wildschweinen und Waschbären laut Landesumweltamt 143 Schafe, 19 Kälber, zwölf Damwildtiere und eine Ziege gerissen.
Im vergangenen Mai wurde zum ersten Mal eines von Michelchens Kälbern getötet. Er wird den Tag nie vergessen, erzählt er am Lagerfeuer: wie er am Morgen bei der Herde ankam, die Tiere zählte und merkte, dass ein Kälbchen fehlte. Wie er die Wiese absuchte und immer noch dachte, dass es sich irgendwo versteckt. Bis er die Überreste in der Nähe des Zaunes fand: den Kopf, ein bisschen Fell und die Wirbelsäule.
"Das hat mich kalt erwischt, ich war einfach total hilflos", sagt Michelchen, der mittlerweile Wolfsbeauftragter beim Bauernbund Brandenburg ist. Der kritisiert seit Jahren, dass das Land zwar Schadenersatz für vom Wolf gerissene Tiere zahlt, dieser aber nicht die finanziellen Mehraufwendungen jener Landwirte ausgleichen kann, die ihre Tiere artgerecht und ökologisch im Freien weiden lassen.
Auf einem "Wolfsplenum" Mitte Dezember in Potsdam forderte Ökobauer Marcus Schilka klare Regeln für den Herdenschutz: "Es kann nicht angehen, dass wir zusehen müssen, wie ein Raubtier unsere Kälber und Schafe tötet."
Deshalb haben sie sich an diesem Abend auf der Weide versammelt: Frank Michelchen, seine Lebensgefährtin, der Tierarzt des Ortes, benachbarte Landwirte oder Pferdehalter, Freunde, die ihre Solidarität zeigen wollen. Es gibt Glühwein und dazu Bratwurst und Kartoffelsalat. Das Ganze wirkt wie eine Mischung aus Informationsveranstaltung und Protest. Irgendwie will man wohl vor allem die eigene Hilflosigkeit demonstrieren.
"Die Wölfe sind eine tickende Zeitbombe", sagt ein Viehhalter. "Das Problem ist, dass sie keinen natürlichen Feind haben", ergänzt die Mitarbeiterin einer Agrargenossenschaft. Und dass offenbar viele Schutzmaßnahmen, die den Tierhaltern von den Behörden empfohlen werden, nicht greifen. So galt eine Höhe der Schutzzäune von 1,20 Meter als ausreichend, aber sowohl die Wölfe in Brandenburg als auch ihre Artgenossen im benachbarten Sachsen überwinden sogar Zäune mit eine Höhe von 1,40 Meter.
Spezielle Schutzhunde wiederum seien zwar für Schafe geeignet, aber nicht für Rinderherden, sagt Frank Michelchen: "Vor allem, wenn die schon mal Bekanntschaft mit einem Wolf gemacht haben, dann geraten sie allein beim Anblick eines frei laufenden Hundes in Panik." Er habe alles getan, was zum Schutz der Kühe und Kälber möglich sei. Die Elektrozäune lägen mit fünf Drähten noch über dem Standard und inzwischen gingen seine Lebensgefährtin und er Nacht für Nacht selbst auf die Weide, um Präsenz zu zeigen. Ihre Nächte sind seither kurz, sie stoßen an ihre Grenzen.
Die Bauern sind in Sorge um ihr Vieh
Andere erleben Ähnliches. "Ich habe jeden Morgen ein mulmiges Gefühl, weil ich nicht weiß, ob noch alle Tiere leben", sagt ein Viehhalter. Auch könne man nicht das gesamte Freiland, auf dem Tiere weiden, umzäunen. Das wären viele Kilometer – wer das bezahlen solle? Wobei es nicht nur um den ökonomischen Schaden gehe. "Ich liebe meine Tiere", sagt Britt Liebknecht: "Wenn ich jeden Morgen ein totes Kalb finden müsste, würde mich das zerreißen."
Offiziell leben in der Nähe von Leibsch zwei Wolfsrudel im Umkreis von zwölf Kilometern. Laut Behörden eins mit zwölf, das andere mit sechs Tieren. Michelchen schätzt, dass die Rudel weitaus größer sind. "Wir müssen darüber reden, wie viele Wölfe wir hier haben wollen", sagt er. Ein Ansatz sei, "Problemwölfe" über die Entfernung zum Dorf und den Weidetieren zu definieren. Unterschreitet ein Tier immer wieder eine gewisse Grenze, müsse es erschossen werden. "So könnten die Wölfe lernen, von den Dörfern und Herden wegzubleiben", hofft er.
Auch andere Landwirte fordern, dass der strenge Schutzstatus des Wolfs gelockert wird, weil es wieder mehr Wölfe gibt. Da dies nur im europäischen Maßstab geht und länger dauert, sollten sogenannte Problemwölfe schon jetzt unkompliziert geschossen werden können. Beim Landesamt für Umwelt nimmt man die Sorgen der Tierhalter ernst. Schließlich setze Brandenburg auf ökologische Landwirtschaft, sagt ein Sprecher. Deshalb müsse man das Wolfsmanagement gemeinsam weiterentwickeln, auch den Umgang mit "Problemwölfen".
Die wurden bisher als solche nur im Zusammenhang mit einer vermuteten Gefährlichkeit für Menschen definiert. So hatte im Dezember ein Wolf – manche sprechen von mehreren Tieren – in Rathenow einige Ängste ausgelöst. Laut der im Wolfsmanagementplan Brandenburg festgelegten Kriterien habe man sein Verhalten als problematisch eingeordnet, sagte der Sprecher. Deshalb sei eine artenschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung beantragt worden. Die hätte auch eine Tötung des Tieres zugelassen, wenn andere sogenannte Vergrämungsmaßnahmen erfolglos geblieben wären.
Auch in Sachsen ist ein Wolf zum Abschuss freigegeben
Auch im benachbarten Sachsen steht ein Wolf auf der Abschussliste. Der in Polen geborene und dort offenbar angefütterte zweijährige Rüde streift über Höfe, plündert Komposthaufen, einschließlich pflanzlicher Abfälle, und frisst sogar Äpfel. Pumpak, was auf Polnisch "der Fette" heißt, soll nach dem Willen des Landratsamts Görlitz und des Umweltministeriums getötet werden. Fast 30 000 Menschen haben schon in einer Online-Petition dagegen protestiert – auch der Naturschutzbund Deutschland. Ein Nabu-Mitarbeiter hat gerade ein Video veröffentlicht, das Pumpak zeigt, der es auf einen vor einer Haustür abgestellten Kuchen abgesehen hat. Rotkäppchen lässt grüßen.
Aber auch Pumpak frisst natürlich vor allem Fleisch, wie alle Wölfe. Und deshalb müsse sich die Gesellschaft überlegen, was sie wolle, sagt Frank Michelchen. Wenn die Ausbreitung der Wölfe nicht geregelt werde, bekomme auf jeden Fall der ökologische Landbau ein großes Problem: "Es wird sich in den nächsten Jahren entscheiden, ob wir in Zukunft auf den Weiden noch Kühe sehen, die Gras fressen, oder aber Wölfe, die jagen."
Er selbst müsse seine Herde aufgeben, wenn sich das Problem nicht bessere, sagt er. Und wacht mit dem harten Kern noch bis kurz nach Mitternacht am Feuer. Dann erlöschen die Flammen. Bis zum Morgen bleibt Frank Michelchen allein die Hoffnung, dass die Wölfe in dieser Nacht nicht zuschlagen.