10 Jahre Bahnhofsmission: Die Mutmacher vom Hauptbahnhof
Zehnjähriges Jubiläum feierte am Wochenende auch die Bahnhofsmission, wo sich oft rührende Geschichten abspielen. Ein Ortstermin.
Die Frau war Rainer König schon öfter aufgefallen. Schon etwas älter und meist gut gelaunt, verkaufte sie ihre Obdachlosenzeitungen vor dem Hauptbahnhof, immer einen flotten Spruch auf den Lippen: „Ick schlaf’ heut nacht im Sieben-Sterne-Hotel“, sagte sie. Was natürlich heißen sollte: unter freiem Himmel.
„Für ihren großen Traum – eine kleine bezahlbare Einraumwohnung – hätte sie das Sieben-Sterne-Hotel aber sofort eingetauscht“, sagt Rainer König. Er ist einer von fünf hauptamtlichen Mitarbeitern der Bahnhofsmission, die am Wochenende gemeinsam mit dem Hauptbahnhof ihr zehntes Jubiläum gefeiert hat.
Sieben-Sterne-Hotel machte krank
Eines Tages bemerkte Rainer König bei seinem Rundgang, dass die Frau sich kaum auf den Beinen halten konnte. Er nahm sie mit in die Bahnhofsmission, dort sank ihr Kopf auf den Tisch, sie schlief immer wieder ein. Auf Nachfrage erzählte sie König, dass man sie in der Nacht zuvor nicht die Notunterkunft gelassen habe, weil sie sich weigerte, ihre augenscheinlich verlauste Perücke abzunehmen. Sie schämte sich, weil ihr die Haare ausgefallen waren und viele kahle kreisrunde Stellen hinterlassen hatten. Die kalte Nacht im Freien ging dann aber über ihre Kräfte.
Nach dem Morgen wurde nicht gefragt
Menschen wie sie finden in der Bahnhofsmission Hilfe und Unterstützung – mehr als 250 000 Mal ist das in den vergangenen zehn Jahren geschehen. Die hauptamtlichen Mitarbeiter, sechs Freiwillige und mehr als 40 Ehrenamtliche betreuen Menschen mit sozialen und finanziellen Schwierigkeiten und mit körperlichen oder psychischen Einschränkungen – auch mit den Projekten „Kids on Tour“ und „Mutmacher am Bahnhof“.
Letzteres, erklärt Rainer König, sei eine innovative Weiterentwicklung der klassischen Bahnhofsmission: „Die funktionierte ja so, dass jemand, der keine Unterkunft hatte, eine Adresse erhielt, wo er am Abend unterkommen könnte. Nach dem Morgen danach wurde nicht gefragt.“ Und viele wüssten nicht, wie es am anderen Morgen weitergeht, sagt König. Deshalb versuchten er und seine Kollegen ihnen sozusagen über den Tag beziehungsweise die Nacht hinaus zu helfen: durch Zuhören, Gespräche, manchmal auch Kontakten zu Hilfsangeboten.
Hilfe für Reisene in Krisensituationen
Die Mutmacher kümmern sich aber durchaus nicht nur um Menschen mit sozialen, physischen oder psychischen Problemen, sondern auch um Reisende in akuten Krisensituationen, sagt Köhler. Und erzählt von einer Frau, die ihre in Berlin studierende Tochter besuchte und dabei feststellte, dass diese extrem magersüchtig war. Sie ging mit ihr zum Arzt, der klarmachte, dass die junge Frau sterben würde, wenn sie nicht sofort in stationäre Behandlung käme.
Die Mutter veranlasste das Notwendige, brach dann aber am Bahnhof zusammen. Wieso hatte sie nichts bemerkt? Warum war sie nicht früher gekommen? Wie sollte es nun weitergehen? Woher sollte sie die Kraft nehmen, zu helfen?
Philosoph lebt vom Flaschensammeln
„Es war für diese Frau sehr wichtig, mit jemandem über ihre Sorgen zu reden“, sagt König. Er kennt die ganze Palette der menschlichen Schicksale, denen man am an allen großen Berliner Bahnhöfen begegnet: den Akademiker, der ein abgeschlossenes Philosophiestudium hat und vom Flaschensammeln lebt; die depressive Frau, die über Suizid nachdenkt; den Mann, dessen Frau gerade gestorben ist und der einfach nicht mehr in die gemeinsame Wohnung zurückkehren will. „Wir können nicht die ganze Welt retten, aber wir versuchen zu helfen“, sagt seine Kollegin Gabi Melchior. Unterstützt werden die Mitarbeiter der Bahnhofsmission von einer Psychiaterin, denn viele Hilfsbedürftige haben psychische Probleme.
26 Ehrenamtliche engagieren sich im anderen Projekt der Bahnhofsmission – „Kids on Tour“. Sie begleiten alleinreisende Kinder zu den Bahnhöfen Frankfurt, Hamburg, München und Dortmund – fast 20 000 waren es seit dem Start des Projekts. Die Eltern haben kein Geld oder keine Zeit, oft handelt es sich bei den Alleinreisenden um sogenannte Scheidungswaisen, die traurig sind, weil sie gerade wieder einmal von Mutter oder Vater oder den geliebten Großeltern Abschied nehmen mussten.
Zwei junge Männer wollten heiraten
Noch trauriger fand König das Schicksal einer sehr betagten Frau, die aus ihrer Wohnung musste, weil sie die Miete nicht mehr zahlen konnte. Während des Schlafs am Hauptbahnhof wurde ihr die Handtasche gestohlen, in der sie viele Fotos und andere Erinnerungsdokumente aufbewahrt hatte. „Für die Diebe waren die völlig wertlos, für die Frau aber so unendlich wertvoll“, sagt Rainer König.
Zum Glück gäbe es aber auch viele schöne Momente für die Mutmacher vom Hauptbahnhof. So kamen vor einiger Zeit zwei junge Männer zu ihm und wollten wissen, wo sie in Berlin heiraten könnten. Er hat sie zum Standesamt von Mitte gebracht, ob sie tatsächlich geheiratet haben, weiß er nicht. „Wir bekommen immer nur einen kleinen Teil so einer Schicksalsgeschichte mit“ sagt er. Und wünscht sich für die Zukunft nur eins: „Bezahlbaren Wohnraum für alle Menschen, die in Not sind.“
Das wird wohl vorläufig ein frommer Wunsch bleiben. Für die Frau vom „Sieben-Sterne-Hotel“ ist er wenigstens teilweise in Erfüllung gegangen. Nach Informationen von Rainer König ist sie schließlich in einem Pflegeheim untergekommen.