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Seit mehr als 400 Jahren gibt es die Spandauer Zitadelle.
© Kitty Kleist-Heinrich

Festung des Westens: Die Geschichte der Zitadelle Spandau

Jeden Sommer wird die Zitadelle Spandau zum Pilgerort für Musikfans. Zwischen Fledermäusen, Kriegsgott Ares und Ritter Putin wird es ganz schön laut zwischen den alten Mauern.

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Die Erinnerung an den Krieg liegt heute gleich neben dem Spandauer Gewerbegebiet. Von der gegenüberliegenden Straßenseite, neben dem Schuhladen und dem Trödelmarkt, ist sie jedoch fast unsichtbar. Erst wenn man über die kleine Brücke nach Norden geht, durch die Baumreihen hin zum Wasser, sieht man sie, eine gedrungene Front aus roten Ziegeln, rund 300 Meter breit, hinter einem niedrigen Graben, an ihren Seiten zwei Bastionen, die wie riesige Schlachtschiffe ins Wasser ragen.

Seit mehr als 400 Jahren liegt die Spandauer Zitadelle hier, wo die Spree in die Havel mündet. Davor wacht, oxidiert auf einem Steinsockel, der griechische Kriegsgott Ares. Kriegerischer Beistand für einen kriegerischen Ort. Könnte man so glauben.

Still ruht sie, kaum Besucher da an diesem etwas grauen Vormittag. Ein kleines Mädchen weint, weil es nicht von seiner Mutter von der Brüstung heruntergehoben werden will, auf der „Lebensgefahr“ steht. Ein junges Pärchen spaziert Hand in Hand quer über den Hof. Eine Schulklasse brüllt sich den Juliusturm hinauf, der am Eingang 30 Meter in den Himmel ragt und an die Burg erinnert, die hier vor der Zitadelle mal stand.

Vielleicht schönste Konzertlocation

An den Sommerabenden allerdings wird die kleine Brücke zum Pilgerweg für Musikliebhaber – vergangene Woche begann die 10. Ausgabe des Citadel Music Festivals mit Konzerten von Limp Bizkit und Faith No More, elf weitere folgen. Biergartenatmosphäre zwischen den historischen Mauern machen die Zitadelle zur vielleicht schönsten Konzertlocation der Stadt – jedenfalls aber zu einer ganz besonderen. Dann geht es zwar friedlicher zu als noch vor einigen Jahrzehnten, ruhiger hingegen weniger.

Den Gott rechts liegen gelassen geht es über das Kopfsteinpflaster der Brücke in den Innenhof. Was beim ersten Rundgang gleich auffällt: Die Verteidigungsanlagen sind lange von der Natur übernommen worden. Vorne links, auf der Bastion „König“, ragt eine Kastanienbaumgruppe in den Himmel, auf den Wällen wächst Gras. Ein Reiher sitzt auf einem Brunnen der Bastion „Kronprinz“ und wartet bis zum allerletzten Moment, bevor er Richtung Graben wegfliegt.

Als Kurfürst Joachim II. im Jahr 1560 begann, die Burg seiner Familie nordöstlich von Spandau zur Zitadelle auszubauen, war das auch eine Angstreaktion. Türkengefahr, so hieß das damals, sagt Karl-Heinz Bannasch vom Spandauer Geschichtsverein, der Führungen durch die Festung organisiert. Das osmanische Reich dehnte sich nach Westen aus und die Fürsten Europas hielten dagegen, bauten Abwehrstellungen für den Ernstfall. Festung Europa.

Franzosen besetzten Festung für sieben Jahre

Die ständige Entwicklung immer neuer, durchschlagkräftigerer Waffensysteme machte aus dem Festungsbau eine hochkomplizierte Wissenschaft. Ideal: absolute Absicherung. Auch die Spandauer Zitadelle, sagt Bannasch, war genauestens geplant. Was er damit meint, wird einem bei einem Gang durch die Kasematten, die Wehrgänge unter den Bastionen, klar. Durch die engen Schießscharten konnten die Soldaten das gesamte Gebiet um die Zitadelle überblicken, Kanonen deckten alles ab. Kein toter Winkel, komplette Kontrolle.

Doch als die Zitadelle nach fast vier Jahrzehnten fertig war, war sie eigentlich schon veraltet, sagt Bannasch. Inzwischen waren Geschütze mit größerer Reichweite entwickelt worden. Und obwohl die Türken nie bis nach Spandau kamen, wurde die Festung in den Jahrhunderten nach ihrem Bau mehrmals zum Kriegsschauplatz. Im 17. Jahrhundert lagerten die Schweden vor ihren Wällen, im Jahr 1806 übernahmen die Franzosen unter Napoleon die Festung und besetzten sie für sieben Jahre. 1813 holten die Preußen sie sich zurück. „Von da, wo heute Ikea ist, haben sie auf die Festung geschossen“, sagt Bannasch. Die östliche Bastion wurde dabei zerstört und acht Jahre später wieder aufgebaut.

Heimat für viele Fledermausarten

Im ehemaligen Kampfstofflabor, wo während des Zweiten Weltkriegs hunderte Wissenschaftler für die Nazis mit Kampfstoffen wie Sarin, Tabun und Blausäure experimentierten, befinden sich heute Ateliers und Werkstätten. Maler, Bildhauer und andere Künstler arbeiten hier, ein Laden für Naturkosmetik verkauft selbstgemachte Seifen und harmlose Badebomben, in offenen Werkstätten können Besucher sich in Instrumentenbau und Wollverarbeitung üben.

Seit die Zitadelle am 1. Mai 1945 der Roten Armee übergeben wurde, geht es friedlich zu in Spandau. Eine Gedenktafel im Torhaus erinnert an Hauptmann Wladimir Gall und Major Wassili Grischin, die als Unterhändler die in der Zitadelle verschanzten Wehrmachtssoldaten zur kampflosen Übergabe bewegten.

Eine Gruppe Kinder steigt mit ihren Eltern die Stufen zum Keller des Gebäudes hinab. Am Fuß der Treppe, in einem Kassenraum, verraten Plüschtiere um was es hier geht: Fledermäuse. Hinter der Kasse geht es in einen langen Gang. An seiner Decke verläuft ein Rohr, jemand hat es mit Fledermausaufklebern dekoriert. An den Wänden hängen mehrere Schautafeln, die das Leben der Tiere beschreiben – Großes Mausohr, braunes Langohr, Bartfledermaus. Die Fledermäuse selbst leben in abgedunkelten Ausstellungsräumen: Nilflughunde und Brillenblattnasen starren den Besuchern aus der Dunkelheit entgegen, flattern hinter raumhohen Glasscheiben.

Die Arten, die hier im Keller leben, sind allerdings keine einheimischen, sondern Pflanzenfresser aus Nordafrika und Mittel- und Südamerika. Insektenfressende europäischen Arten können ohne Ausflug nicht überleben, sagt Jörg Harder, der Vorsitzende des Vereins BAT, der sie betreut.

Kulisse für viele Filme

Trotzdem ist die Zitadelle auch für sie Heimat. In den Kasematten, wo früher Soldaten unter Tonnen von Erde und Ziegeln ihren Feinden entgegenlugten und wo es im Sommer immer zwölf Grad sind, überwintern jedes Jahr Tausende von ihnen, hängen an der Decke zwischen den Backsteinziegeln. Dann gibt es keine Führungen durch die Kasematten. Nur keine Konfrontation: Natur und Geschichte wechseln sich ab. Friedliches Zusammenleben.

Blutrünstig wurde es in der Zitadelle nach 1945 nur noch vor der Kamera. „Sehen Sie die Treppe?“, fragt Bannasch am Ende der Kasematten-Tour. „Das ist die ist aus dem Edgar-Wallace-Film.“ Er meint Alfred Vohrers „Der Hexer“. In einer Verfolgungsjagd ist die Treppe zu sehen, Inspektor Higgins wird dabei von zwei Schäferhunden durch düstere Gänge gejagt. Und da drüben, der dunkle Gang, das sei im Film eine Londoner Gasse. Auch „Der Bucklige von Soho“ und „Der Rächer“ wurden in der Zitadelle gedreht. England zwischen Havel und Spree. Hier spricht Edgar Wallace. Großes Kino.

Zurück im Hof empfängt einen der Bass. Ein Tontechniker testet die Anlage der Bühne fürs nächste Konzert. Neben zwei historischen Wachhäuschen an der Exerzierhalle reihen sich die Dixi-Klos. „No Sanctuary here“ von Chris Jones dröhnt zum Soundcheck über den Platz.

Putin mit Holzschwert zum Ritter geschlagen

Neben dem Torhaus liegt der Eingang zur Zitadellenschenke. Serviert werden mittelalterliche Gerichte im Gewölbe des Kommandantenhauses. Neben der Kinderspielecke hängen mehrere Fotos. Wladimir Putin ist darauf zu sehen, vor 15 Jahren war er hier mit seiner Frau zum Abendessen und wurde danach mit einem Holzschwert zum Ritter von Spandau geschlagen. Heute sitzen nur wenige Touristen im Biergarten im Hof. Kommandanten und Ritter sind nicht dabei.

Wenn man sie aber sucht, kann man sie auch heute noch finden, die großen Kriegsherren, die Ritter, die Befehlsgewaltigen von einst. In Plastikfolie eingehüllt stehen sie im Hof und warten darauf, dass sie wieder gebraucht werden. Statuen in langen Reihen, in einem abgegrenzten Bereich neben dem Südwall. Laminierte Schilder verraten die Namen der Verhüllten. Albrecht der Bär, Friedrich der Große, König Friedrich Wilhelm III. Vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren ihre Standbilder Teil der Berliner Siegesallee. Im Krieg stark beschädigt, wurden sie 1950 abgebaut, auf dem Gelände des Schlosses Bellevue vergraben, wieder ausgebuddelt und im Kreuzberger Lapidarium gelagert. 2009 kamen die Statuen zur Restaurierung in die Zitadelle.

Ausstellung über verschollene Denkmäler

Im Herbst sollen sie hier wieder gezeigt werden, als Teil einer Ausstellung über Berlins verschollene Denkmäler. Auch die kürzlich wiederentdeckten Thorak-Pferde und der Kopf der Leninstatue, die zu DDR-Zeiten am heutigen Platz der Vereinten Nationen stand, sollen dort ausgestellt werden, wenn es nach der Museumsleitung geht. Erinnerung an vergangene Macht und Gewalt, an überholten Prunk.

Und irgendwie passt das ja auch ganz gut. Schließlich ist die Zitadelle, wie sie da zwischen Spree und Havel liegt, als minutiös geplanter Ausdruck der Hoffnung auf absolute Verteidigung gegen jeden Feind, auch so etwas wie ein Relikt, eine Erinnerung an eine gewalttätigere Zeit, gebaut für Kriege, die es so seit 70 Jahren nicht mehr gegeben hat in Spandau. Ares wäre enttäuscht. Aber wer glaubt schon an Ares.

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