Brutaler Tritt in Berlin-Neukölln: Die Frau im U-Bahnhof Hermannstraße kann jede sein
Die Videoaufzeichnung einer Attacke im U-Bahnhof Hermannstraße verursacht Wut - und verstärkt das Gefühl der Hilflosigkeit. Wie stark ist die Macht der Bilder? Ein Kommentar.
Die Szene dauert nur wenige Sekunden, die Bilder aber graben sich tief ins Gedächtnis ein. Eine junge Frau geht im U-Bahnhof Hermannstraße in Berlins Bezirk Neukölln die Treppe hinunter. Vier junge Männer folgen ihr. Einer davon tritt der Frau mit voller Kraft in den Rücken. Sie stürzt über die Stufen und fällt mit dem Gesicht nach vorn auf den Steinfußboden. Die Männer gehen weiter.
Die Aufzeichnung ist sechs Wochen alt. Die BVG hatte das Material unmittelbar nach der Tat der Polizei zur Verfügung gestellt. Wie und durch wen es jetzt an die Öffentlichkeit gelangte, ist unbekannt. Auch über die Identität von Opfer und Täter sowie die Hintergründe des Verbrechens kann nur spekuliert werden.
Verroht diese Stadt? Die Kriminalitätsstatistik verzeichnet für 2015 weniger Fälle von Mord und Totschlag, Rohheits- und Sexualdelikten. Auf Straßen und Plätzen, in Bussen und Bahnen geht die Gewalt deutlich zurück. Die Zahl der Gewaltverbrechen ist auf ein neues Rekordtief gesunken. Laut Polizei ist sie auf dem niedrigsten Stand seit zwanzig Jahren.
Doch warum vermag die Statistik den durch das Video nach oben geschnellten Erregungspegel nicht wieder zu dämpfen? Die Alltäglichkeit der Ausgangssituation – Frau geht im Bahnhof eine Treppe hinunter – erzeugt eine nur schwer erträgliche Nähe. Denn diese Frau kann jeder sein. Und weil Sicherheit stets auch gefühlte Sicherheit ist, verursacht die Szene einerseits Wut auf den Täter, und sie verstärkt andererseits Wehr- und Hilflosigkeitsempfindungen. Vor einem Verbrechen solcher Art gibt es keinen Schutz. In der Treppabwärtsbewegung von hinten getreten zu werden, ist der Inbegriff heimtückischer Brutalität.
Menschen sind visuell sehr viel leichter zu erreichen als informationell
Besonders wirkungsmächtig in dieser Psychologie sind die Bilder. Menschen sind visuell sehr viel leichter zu erreichen als informationell. Zu wissen, dass in Afrika jedes dritte Kind hungert, ist das eine, ausgemergelte kleine Körper zu sehen, über denen Fliegen kreisen, etwas anderes. Zu wissen, dass Flugzeuge abstürzen können, der Flugverkehr aber immer noch die sicherste Form des Reisens bleibt, ist das eine, Trümmerreste und trauernde Angehörige von Absturzopfern zu sehen, etwas anderes. Zu wissen, dass Schwarze in Amerika Opfer weißer Polizeigewalt werden, ist das eine, zu sehen, wie ein am Boden Liegender erschossen wird, etwas anderes.
Durch zunehmende Videoüberwachung des öffentlichen Raums, schnell produzierte Handyaufnahmen und deren bequeme Weiterverbreitung mittels digitaler sozialer Dienste sind heute mehr Bilder über Dramen und Katastrophen, Verbrechen und andere Inhumanitäten im Umlauf als je zuvor. Das erzeugt das Gefühl, die Welt sei aus den Fugen geraten, Elend und Gewalt lauerten überall. Von einer Omnipräsenz der Bilder wird auf eine Omnipräsenz des Gezeigten geschlossen.
Das Verbrechen im U-Bahnhof Hermannstraße muss dringend aufgeklärt werden. Es allerdings zum Anlass zu nehmen, sich über Verrohungstendenzen im öffentlichen Raum zu echauffieren, wäre falsch. An die Statistiken zu erinnern, ist weder kalt noch herzlos, sondern ein manchmal notwendiger Schutz vor der Überforderung des Seelenhaushalts. Im Kampf um die Macht der Bilder sollte der Verstand nicht auf der Strecke bleiben.
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