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Historisches Treffen. Wenige Tage nach dem Beginn des Mauerbaus trafen sich zwei Mädchen an der Grenze zwischen Treptow und Neukölln, um eine Flucht zu besprechen.
© Landesarchiv/Horst Siegmann

Eine ungewöhnliche Mauer-Geschichte: Die Blume des Grenzsoldaten

Kriemhild und Rosemarie waren Schulfreundinnen. Vor 58 Jahren trafen sie sich an der Mauer, ein berühmtes Foto entstand. Nun haben die beiden sich wieder getroffen.

Rosemarie trägt eine Wolljacke auf dem berühmten Foto von 1961, ihre Haare sind vom Wind etwas zerzaust. Kriemhild hat sich einen knielangen Mantel angezogen, zu hochhackigen Schuhen, die Haare sind zu einem langen Pferdeschwanz gebunden. So lassen sie sich noch heute unterscheiden, 58 Jahre später. Kriemhild Meyer ist die Elegantere von beiden, sie kann mühelos in jede Kamera lächeln, wenn ihre Schulfreundin schon zum Aufbruch drängt.

Jahrzehnte hatten sie sich aus den Augen verloren, jetzt sitzen sie nebeneinander im Museum Treptow in Johannisthal und erzählen ihre jeweilige Version, wie das Foto entstanden ist und warum sie sich überhaupt an der frisch errichteten Mauer, die noch ein hüfthohes Provisorium war, getroffen hatten, wenige Tage nach dem 13. August. Und warum der Grenzsoldat oder Volkspolizist – je nach Version – eine Blume in der Hand hält anstelle einer Waffe.

Kriemhild Meyer und Rosemarie Badaczewski gingen 1961 in dieselbe Klasse der Elbe-Grundschule in Neukölln, damals waren sie 15 Jahre alt. Kriemhild lebte im Westen, Rosemarie im Osten, in Alt-Treptow, sie hatte aber einen Passierschein bekommen für den Schulbesuch in Neukölln. Als der Mauerbau begann, flüchtete ihr Vater in den Westen und schmiedete einen Plan, seine Familie nachzuholen.

Passierschein für den Schulbesuch

Kriemhild wurde in diesen Plan eingeweiht und ging zum Garten ihrer Schulfreundin, der direkt an der Mauer lag, um ihr mitzuteilen, „dass es klappt“. Das damals ein Vopo daneben stand, habe sie durchaus bemerkt, erklärt sie beim Pressetermin am Freitag, aber „der hielt ja Distanz“, außerdem seien die Grenzbewacher genauso vom Mauerbau überrascht worden wie alle anderen, meist noch blutjung und „noch nicht ausgerichtet aufs Schießen“, sagt Rosemarie.

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Zur Flucht-Unterstützung hatte die West-Berliner Polizei ihrem Vater versprochen, einen „Gefängniswagen“ zu schicken, sagt Rosemarie. Kriemhild hatte „irgendwas von einem Feuerwehrauto“ gehört. Schließlich stand wohl eine grüne Minna auf der Harzer Straße, vergittert und schusssicher. Die Häuser auf der Treptower Seite standen wie an der Bernauer Straße in Mitte direkt an der Grenze.

Abends kletterten Rosemarie und ihre Mutter aus dem Fenster einer Wohnung im Hochparterre, sprangen auf die Straße und liefen zur grünen Minna, dort habe schon ein Vopo gesessen, auch geflohen, erzählt Rosemarie. Sie fuhren zur nächsten Polizeistation, zum Verhör, dort habe sie die erste Zigarette ihres Lebens geraucht, erinnert sie sich.

Wiedervereinigt. Kriemhild Meyer (rechts) lebt heute in der Schweiz, Rosemarie Badaczewski in Hessen.
Wiedervereinigt. Kriemhild Meyer (rechts) lebt heute in der Schweiz, Rosemarie Badaczewski in Hessen.
© Thomas Loy

Am 19. August 1961 war die Flucht, sagt Rosemarie, das Foto an der Mauer muss wenige Tage davor entstanden sein. Aufgenommen hat es der Fotograf Horst Siegmann, im Auftrag der Landesbildstelle. Auch ein Fotograf vom „Stern“ hatte ihre Begegnung abgelichtet. Rosemarie hatte damals weder von den Fotografen noch vom Volkspolizisten mit der Blume etwas mitbekommen, sie dachte nur noch an die Flucht. Anders Kriemhild: „Ich habe bemerkt, dass da Journalisten waren“, den Fotografen vom Stern habe sie angesprochen und sich später die Ausgabe besorgt. Alle Zeitungen und Sender dokumentierten damals den Mauerbau, die Landesbildstelle hatte auch einen Kameramann geschickt, der Film lagert im Landesarchiv und gehört zum Weltdokumentenerbe der Unesco.

Nach der Flucht trennten sich ihre Lebenswege

Nach diesen aufregenden Tagen trennten sich die Lebenswege der Freundinnen sehr schnell. Rosemarie wurde nach Hessen geschickt, dort lebten Verwandte. In Gießen beendete sie die Schule, ging zur Handelsschule und wurde Chefsekretärin an einem Institut der Universität. Kriemhild machte eine Ausbildung zur Dekorateurin, zog zu ihrer Schwester in die Schweiz und lernte dort ihren späteren Ehemann kennen. Die DDR und das geteilte Berlin spielten in ihrem Leben bald keine Rolle mehr.

Vor sieben Jahren habe sie mal den Schrebergarten ihrer Eltern gesucht, wo das Foto entstand, erzählt Rosemarie. Weder Haus noch Garten waren auffindbar, stattdessen nur Brachen. Inzwischen stehen dort neue Häuser, der Quadratmeter koste jetzt 3000 Euro, habe sie gehört. Der Treptower Park kam ihr dagegen vertraut vor, „als Kind bin ich da oft mit der Straßenbahn hingefahren“.

Ein Aufruf in der Zeitung brachte sie wieder zusammen

Das Wiedersehen nach 58 Jahren hatte ein Aufruf des Museums Treptow bewirkt. Das Foto von 1961 ist ein wichtiges Zeugnis für die Geschichte des Stadtteils, nur fehlten die Namen der Mauermädchen, die darauf zu sehen sind. Mauermädchen? Wenn sie das hören, müssen die beiden Damen, 72 und 73 Jahre alt, immer lachen. Eine Freundin von Rosemarie las den Aufruf in einer Zeitung und gab ihr Bescheid, später konnte das Museum auch Kontakt zu Kriemhild in der Schweiz aufnehmen. Jetzt, da sie sich wiedergefunden haben, wollen sie sich öfter sehen. Am Sonnabend ist ein Fototermin an der Harzer Straße geplant, das wird neue Erinnerungen wachrufen.

Ach ja, die Blume des Grenzers, was hat es damit auf sich? Rosemarie fällt dazu nur ein, dass sie ja in einem Schrebergarten standen, der bald zum Todesstreifen werden sollte. Da wird sich der Soldat oder Volkspolizist – je nach Version – wohl eine Blume gepflückt haben.

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