1. Mai in Berlin: Die Autonomen entdecken das Thema Wohnen
Die radikale Linke thematisiert mit der Wohnungsnot eine Sorge, die viele teilen. Die Gelbwesten zeigen, dass diese Strategie Erfolg haben kann. Ein Kommentar.
Man muss seine Umgebung schon mit verzerrter Optik wahrnehmen, um Berlin als reiche Stadt zu bezeichnen. „Gegen die Stadt der Reichen“ lautet das Motto, mit dem radikale Linke zur Demonstration am 1. Mai mobilisieren. Diesmal wollen sie Kreuzberg hinter sich lassen und in den Norden von Friedrichshain, in die Rigaer Straße, marschieren. Hier liegen einige der letzten Rückzugsorte der Autonomen, und die sind immer gut für Unruhe, Feuer auf der Straße und Stress mit der Polizei.
Man könnte meinen: alles wie gewohnt. Ein paar Mal im Jahr prügelt sich die Hardcore-Linke mit Polizisten und nervt sogar die Nachbarn, deren Herzen links schlagen und die, wie die Mehrheit in Berlin, nicht reich sind, durch eine lange Krawallnacht mit Feuerwehr und Tatütata. Aber etwas erscheint anders in diesem Jahr: Die radikalen Linken rufen zum Widerstand gegen eine Entwicklung, die vielen Sorge macht. Es geht ums Wohnen.
Die "Stadt der Reichen" - damit ist wohl auch eine Stadt gemeint, in der mit Immobilien der große Reibach gemacht wird. In der es allein ums Geld geht und um das Geldmachen. Um den Neubau von Eigentumswohnungen, der schneller vorankommt als alles, was die öffentliche Hand anpackt. Um den Verkauf von Häusern und das Vergraulen alteingesessener Mieter. Um ein Denken in Gewinnmargen, die mit den sozialen und menschlichen Zusammenhängen in Berliner Wohngegenden nichts zu tun haben.
Das Mietenproblem ist für viele Berliner existentiell
Die Wucht des Problems mit dem Wohnen hat sich vor ein paar Wochen gezeigt als Zehntausende in Berlin und anderswo gegen „Mietenwahnsinn“ demonstrierten. Dieses Problem ist für viele existentiell. Es betrifft längst nicht mehr bloß ein paar Kämpfer, die dieser Stadt, diesem Staat und dem Wirtschaftssystem mit blankem Hass begegnen. Zumal die Politik dieses Staates in Berlin dadurch zum Ausdruck kommt, dass die Stadtentwicklungssenatorin von der Linkspartei als Bausenatorin nicht liefert, was sie liefern soll.
Aber es passt ins Kollegium: zu einer Schulsenatorin, die die Bildungspolitik derart treiben lässt, dass Berlin seit vielen Jahren stets am Ende aller einschlägigen Rankings zu finden ist. Und es passt zu einer Verkehrssenatorin, die den Auftrag von 100.000 Radfahrern offenbar erst in den zwanziger Jahren konkret angehen will. Es passt zu einem Regierenden Bürgermeister, der zwischen Groll auf den eigenen Laden und Teilnahmslosigkeit mäandert.
Einzig der Innensenator macht den Eindruck von Präsenz – und die könnte um den 1. Mai herum besonders gefragt sein. In der „Stadt-der-Reichen"-Logik der radikalen Linken soll dieser Tag seine „Wiedergeburt als rebellisches Datum“ (so das linke Internet-Forum Indymedia) in der Rigaer Straße erleben. Dort lässt der Immobilien-Unternehmer Christoph Gröner zwei Häuser mit Wohnungen bauen. Er hörte von Projektbeginn 2017 an, er treibe die Gentrifizierung des Kiezes voran.
Die Gelbwesten als Vorbilder der radikalen Linken
Die Baustellen werden wohl durch eine große Zahl von Polizisten gesichert werden; wahrscheinlich wird die Straße gesperrt. Klar auch, dass hier diejenigen Krawalle finden werden, die Krawalle suchen. Die radikalen Linken, die den 1. Mai wieder „revolutionär“ machen wollen, berufen sich übrigens vollmundig auf die Protestbewegung der Gelbwesten in Frankreich.
Kein Wort davon, dass manche in dieser Bewegung offenbar antisemitisch angetrieben sind, andere islamistisch, wie sich an den Angriffen auf den Philosophen Alain Finkielkraut gezeigt hat. Das interessiert Berliner Autonome nicht, es ist für hiesige Linksradikale ohne Bedeutung. Denen imponiert der „Aufstand“ gegen das Macron-Regime. Und der hatte, so hässlich er in Teilen war, offenbar Erfolg.