Mordfall Georgine Krüger: „Die Angehörigen erleben heftigste Emotionen noch mal neu“
Im Mordfall Georgine Krüger ist ein Verdächtiger festgenommen worden. Im Interview erklärt ein Psychologe, wie ein solcher Fall die Familie belasten kann.
Im Mordfall Georgine Krüger ist ein Verdächtiger festgenommen worden. Das Mädchen verschwand 2006. Aus Ihrer Sicht als Psychologe, was macht es mit der Familie des Mädchens, wenn der Fall jetzt wieder neu ins Bewusstsein tritt?
Wenn das eigene Kind getötet wurde, ist das sicherlich das Schrecklichste, was Eltern widerfahren kann. Wenn jemand festgenommen ist, dann gehen Eltern sehr schnell davon aus: Der ist es! Denn sie wünschen sich, dass einer zur Verantwortung gezogen wird. Andererseits ist noch nichts sicher, denn grundsätzlich gilt auch bei schwerwiegenden Delikten und auch bei hoher Wahrscheinlichkeit der Täterschaft die Unschuldsvermutung. Diese Ambivalenz ist schwer auszuhalten, es ist ein Wechselbad der Gefühle. Im Prozess wird dann sehr viel aufgewühlt, die Angehörigen erleben heftigste Emotionen noch mal neu und ähnlich intensiv wie zum Zeitpunkt der Tat. Kommt es zum Freispruch, ist es, als wäre das Opfer ein zweites Mal getötet worden.
Welche Folgen hat ein solcher Fall für die Angehörigen?
Das kommt sehr darauf an, welche Ressourcen jemand hat und auch, wie er disponiert ist. Wenn das eigene Kind stirbt, ist das besonders schrecklich, denn das ganze Leben stand dem jungen Menschen noch bevor, das ist widernatürlich und ein Trauma für die Angehörigen, die das aushalten müssen. Einige Menschen reagieren mit sozialem Rückzug oder einer Depression, andere mit Aggressivität, oder sie kommen mit der neuen Wirklichkeit nicht zurecht, das nennt man Anpassungsstörung.
Was meinen Sie mit Ressourcen?
Ressourcen sind Bereiche, wo Menschen sich positiv erleben können. Wer zum Beispiel in der Familie gute Beziehungen hat, wer ein Umfeld hat, das ihm Trost spendet, der ist in einer vergleichsweise guten Situation; er hat Kraftquellen. Viel schlechter geht es Menschen, die das alles nicht haben. Wer Geldsorgen hat, keine Arbeit oder vielleicht ein Alkoholproblem, der hat wenig Ressourcen. Dann ist die Gefahr besonders groß, dass es durch so ein Ereignis zu einem regelrechten Absturz kommt.
Wie hilfreich ist Therapie?
Therapie kann helfen, manche Menschen brauchen sie aber nicht, manche lehnen sie rundweg ab. Ein solcher Fall ist ja eine fundamentale Erschütterung des ganzen Konzepts, wie man auf das Leben blickt. Viele Angehörige machen sich auch Vorwürfe, nehmen sich selbst in die Verantwortung und sind damit in großer Gefahr. „Hätte ich sie bloß zur Schule gebracht“, sagen sie dann, „Hätte ich sie bloß früher losgeschickt“, so in der Art – das kann man ihnen gar nicht ausreden. Gerade die Eltern machen sich selbst massive Vorwürfe. Wenn sich ein Trauerprozess über Jahre hinzieht, werden dafür viele Kräfte verbraucht, und manchmal kommt es dann Jahre später zu schwersten Krisen, zu Angstzuständen oder Depressionen.
Es gibt bisher keine Leiche. Was bedeutet das für die Familie?
Wenn ein totes Opfer gefunden wird, ist das natürlich ganz furchtbar für die Angehörigen, aber es kann auch die Verarbeitung des schrecklichen Geschehens befördern, denn dann ist der Tod ein Fakt, dann ist man auch selbst gezwungen, einen Weg zum Weiterleben zu finden. Andererseits, solange keine Leiche gefunden wurde und kein Täter die Tat eingeräumt hat, gibt es noch ein Fünkchen Hoffnung, auch wenn es noch so unwahrscheinlich sein mag, dass das Kind doch noch am Leben sein könnte. Auch das kann den Betroffenen helfen, das schreckliche Erlebnis durchzustehen, ohne daran zu zerbrechen.
Niels Habermann ist Rechtspsychologe und Professor an der SRH Hochschule Heidelberg. Er arbeitet zugleich als psychologischer Gutachter mit dem Schwerpunkt Kriminalprognose.
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