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Nach-Herrschaftszeiten. Das Helene-Lange-Heim, ein Tagesheim für Studentinnen, gehörte zu den frühen Mietern.
© Ullstein Bild

Das Berliner Stadtschloss nach 1918: Des Kaisers Nachmieter

Wilhelm II, Liebknecht, Krieg, Abriss – So kennt man die Geschichte des Stadtschlosses im 20. Jahrhundert. Doch wer nutzte es zwischen 1918 und 1950? Eine Zeitreise.

Es ist der 9. November 1918: Der Kaiser in Belgien, im Großen Hauptquartier in Spa. Der Krieg ist verloren, und in Berlin ist Revolution. Es ist ein trüber Tag, kaum Sonne, um die zehn Grad. Mittags ruft der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann auf einem Reichstagsbalkon die Republik aus.

Zwei Stunden später, gegen 16 Uhr: Die Dämmerung beginnt langsam, sich über die Stadt zu legen. Doch am Schloss herrscht lebhaftes Gedränge. Die liberale „Vossische Zeitung“ berichtet, ein kleiner Kraftwagen, auf dessen Oberdeck Karl Liebknecht unter einer großen roten Fahne stand, habe sich unter lebhaftem Jubel durch die Masse geschoben und gegenüber dem Hauptportal des Schlosses gehalten. Hier ruft jetzt auch Liebknecht, führender Kopf des kommunistischen Spartakusbundes, die Republik aus: „Das Alte ist nicht mehr. Die Herrschaft der Hohenzollern, die in diesem Schloss Jahrhunderte gewohnt haben, ist vorüber. In dieser Stunde proklamieren wir die freie sozialistische Republik Deutschland.“

Als die Defa gut fünfzig Jahre später Liebknechts Leben verfilmt, zitiert auch sie ihn mit diesen Worten und an diesem Ort. Also keineswegs auf jenem Balkon des Nordportals, der nach Abriss des Schlosses in das Staatsratsgebäude der DDR eingebaut wurde, begleitet von der Legende, Liebknecht habe von dort die Republik ausgerufen. Auf dem Balkon hat er zwar am 9. November auch noch geredet, aber eben nicht die Republik ausgerufen. Was der Spielfilm nicht zeigt, aber die „Vossische Zeitung“ am 10. November 1918 berichtet, ist dies: „Liebknecht verkündete, dass der Arbeiter- und Soldatenrat das Schloss in seinen Schutz genommen habe. Es sei kein beliebiges Privateigentum mehr, sondern Volkseigentum. Die Wache habe striktesten Befehl, jegliche Versuche, einen Angriff auf das Gebäude zu unternehmen, mit Waffengewalt zu vereiteln.“ Von da an ist das Schloss also nicht mehr das Schloss der Hohenzollern, sondern das Schloss der Republik.

Revolutionär. Karl Liebknecht (hier im Jahr 1911) sprach am 9. November 1918 am Schloss - doch anders, als es der Mythos will.
Revolutionär. Karl Liebknecht (hier im Jahr 1911) sprach am 9. November 1918 am Schloss - doch anders, als es der Mythos will.
© Wikipedia

Das Schloss ohne Kaiser verwaist? Keineswegs!

Das Haus überstand die Wirren der Revolution dann relativ unbeschadet. Zwar gab es Heiligabend 1918 noch Schusswechsel zwischen den Truppen der vom Sozialdemokraten Ebert geführten Volksbeauftragten und der im Schloss lagernden revolutionären Volksmarinedivision, bei denen auch die Schlossfassade beschädigt wurde; und massive Plünderungen hatte es auch gegeben. Später wurden dem Kaiser noch Möbel, Porzellan, Bilder aus seinen Privatgemächern hinterhergeschickt nach Doorn, ins niederländische Exil, doch insgesamt war das Haus in guter Verfassung.

Und nun? Der Kaiser raus, das Schloss verwaist? Keineswegs. Ohnehin machten die kaiserlichen Gemächer nur einen Bruchteil des Schlosses mit seinen rund 1200 Räumen aus. Die meisten Flächen dienten Verwaltung und Repräsentation. Und über deren Verwendung dachte die politisch tief gespaltene Weimarer Republik zuerst nach. Der Kunsthistoriker Guido Hinterkeuser sagt, dass man das Schloss aus der politischen Schusslinie herausnehmen wollte. Und daher sei schon 1920 beschlossen worden, dass es dem Kunstgewerbemuseum überlassen werden sollte. Das saß damals in einem vierzig Jahre zuvor extra für seine Zwecke errichteten Bau in der Prinz-Albrecht-, heute Niederkirchner Straße. Er steht heute noch und ist inzwischen nach seinem Architekten Martin Gropius benannt. Das Kunstgewerbemuseum hatte damals stets wachsende Bestände und litt wohl unter Raumnot. Dennoch ist nicht ganz klar, ob das Museum ins Schloss drängte oder vom Staat ins Schloss gedrängt wurde. Die heutige Chefin des Kunstgewerbemuseums, Sabine Thümmler, berichtet jedenfalls von erheblichen Vorbehalten des damaligen Chefs. Dennoch war der Beschluss schon 1921 umgesetzt – zur Freude der Stadtöffentlichkeit. Bereits am Vortag der Eröffnung des Museums für das Publikum am 1. September 1921 sei der Eingang am Eosander-Portal von Neugierigen bestürmt worden, berichtet der Kunstkritiker der „Vossischen Zeitung“, Max Osborn. Man habe sie vertrösten müssen. Für Guido Hinterkeuser bleibt heute das geradezu verblüffende Tempo des Umzugs bemerkenswert: „Das ist natürlich enorm verglichen mit heute – ein Museumsumzug inklusive Aufstellung der Objekte und Eröffnung innerhalb eines Jahres.“

Das Kunstgewerbemuseum, jetzt als „Schlossmuseum“ firmierend, war dann auch der größte Nutzer des Schlosses und belegte nahezu sämtliche Räume des Lustgartenflügels. Erst erheblich später wurden auch die früheren kaiserlichen Wohnräume geöffnet. Die Gemächer der Monarchen wurden mit äußerster Delikatesse behandelt. Hinterkeuser erinnert daran, dass ja mitnichten alle über die Abschaffung der Monarchie glücklich gewesen waren. Der Kaiser habe natürlich noch viele Anhänger gehabt, und die zunehmende Polarisierung in der Gesellschaft habe den monarchischen Gedanken auch noch gestärkt. Deshalb habe man bewusst die Räume, die Wilhelm II. benutzt hatte, bei Neunutzungen erst einmal außen vor gelassen – eine kluge Entscheidung, wie der Historiker befindet, auch wenn diese Räume weitgehend leer standen.

Das Ziel: kein monarchistisches Gruselkabinett schaffen

Konservatorische Bedenken kamen hinzu, hatte der letzte Kaiser doch in erheblichem Umfang allerlei mehr oder minder gelungene Umbauten vorgenommen, die nun zurückgebaut werden sollten. Didaktische Erwägungen gab es auch: Man wollte die kaiserlichen Privaträume – und das waren lediglich rund 20 Zimmer – nicht so präsentieren, dass „das Publikum da hindurchgeht wie durch ein Gruselkabinett und sich über den Kaiser lustig macht“. Also wurde zunächst ein Konzept erarbeitet, dann umgebaut und schließlich erst 1926 wieder eröffnet. Allerdings hatte man jetzt nicht Kaiser Wilhelms Wohnung vor sich, sondern ein sorgsam gestaltetes Museum. Wer sich hier von Raum zu Raum bewegte, bewegte sich nun zugleich von einer Epoche der Hohenzollern zur nächsten.

Das Schlossmuseum war täglich von 9 bis 15 Uhr geöffnet, wenn auch mit einem originellen System: Sonntag, Montag, Mittwoch und Freitag wurde das Obergeschoss, Saal 1 bis 37, gezeigt, Dienstag, Donnerstag und Samstag Erdgeschoss und erster Stock, Saal 38 bis 70. Auch die Preise folgten einem heute schwer nachvollziehbaren System: sonntags eine Mark, montags fünf, die anderen Tage zwei – außer Mittwoch, da war der Eintritt frei. Auch wenn exakte Zahlen fehlen, lässt sich sagen, dass die Museen im Schloss ein Magnet waren für die Einheimischen und erst recht für den Fremdenverkehr. Sabine Thümmler sagt sogar, das Schlossmuseum sei das meistbesuchte Museum Berlins gewesen. Ähnlich äußert sich Historiker Hinterkeuser, der von einem „der bestbesuchten Museen in der Weimarer Republik, und auch noch im nachfolgenden Dritten Reich“ spricht.

Doch das Schloss war nach der Revolution keineswegs nur Museum. Im Gegenteil. Es war auch Wohnhaus, Bürohaus und es wurde, mehr und mehr, wissenschaftliches Zentrum. Die Schlösserverwaltung residierte in dem Bau – und das Schlossbauamt auch, das dafür sorgen sollte, die gesamte Immobilie überhaupt nutzbar zu machen: Zentralheizung, Wasserleitungen, elektrisches Licht, Toiletten.

Die ersten Mieter

Da ahnt es noch nichts. Zur Zeit dieser Aufnahme aus dem späten 19. Jahrhundert wohnt hier noch der Kaiser.
Da ahnt es noch nichts. Zur Zeit dieser Aufnahme aus dem späten 19. Jahrhundert wohnt hier noch der Kaiser.
© Keystone

Die Mieter waren zunächst ein etwas konturloses Konglomerat: Das Fürsorgeamt für die vertriebenen Beamten aus den mit Friedensschluss verlorenen Grenzgebieten hatte reichlich Quartier genommen. Und einige solcher Beamte auch – „nur Junggesellen“, wie es in einem Zeitungsartikel heißt, „da den Quartieren die Küche fehlt“. Der Gewerkschaftsbund deutscher Verwaltungsbeamter war eingezogen und das Landesamt für Gewässerkunde. Hilfsorganisationen waren da, die die Not der Nachkriegszeit lindern wollten: die Kinderspeisung der Quäker und die Gemeinschaftsküche der österreichischen Freundeshilfe.

Die Schlossküche, in meterhohen, bis Kopfhöhe mit Glasursteinen ausgekleideten Räumen, im Erdgeschoss direkt an der Spree gelegen, wurde umgewandelt zur Mensa des Studentenwerks.

Im Mai 1928 öffnete das Helene-Lange-Tagesheim für Studentinnen. Prominente linksliberale Frauen – die Frauenrechtlerin Helene Lange selbst sowie Gertrud Bäumer und Marie-Elisabeth Lüders, beide damals Reichstagsabgeordnete der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) – hatten sich für das Projekt eingesetzt. Im Berliner Landesarchiv lagern mehrere Bittbriefe von Lüders an Oberbürgermeister Gustav Böß, ein Bewilligungsvermerk über 2000 Reichsmark, schließlich auch ein Dankesschreiben Lüders für eine „wesentliche Kohlenbeihilfe“.

Frauen waren unbeliebte Mieter - sie brauchten ein Heim im Schloss

Das Tagesheim war eine Reaktion auf die besonders drängende Wohnraumnot der Studentinnen. Frauen, die 1928 unter allen Studierenden im Reich gerade einmal einen Anteil von 14 Prozent erreicht hatten, waren auf dem Wohnungsmarkt nicht besonders beliebt, weil sie dazu neigten, ihre Zimmerchen auch zu benutzen: Während die männlichen Kommilitonen ihre Abende großenteils in Lokalen und Burschenschaftsheimen verbrachten, saßen die Frauen zu Hause und verbrauchten Licht und Wasser. Angelika Schaser, Geschichtsprofessorin an der Uni Hamburg, betont dann auch die Notwendigkeit des Tagesheims gerade für Frauen, die aus finanziellen Gründen weit außerhalb wohnen mussten. Für sie sei es wichtig gewesen, dass sie während ihres Studienalltags einen Raum hatten, wo sie sich aufwärmen konnten oder wo sie den Sonntag verbringen konnten – weil die Vermieter sie auch am Sonntag nicht zu Hause in den Zimmern hätten haben wollen. Das Helene-Lange-Heim hatte auch Bad und Wirtschaftsräume, also Nähraum, Bügelraum, Waschraum, was alles, so Schaser, „weit und gern genutzt“ wurde.

Gleich 1920 hatte auch die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft Räume erhalten. Eine Vereinigung von Wissenschaftsakademien und Universitäten, gegründet, um „die der deutschen wissenschaftlichen Forschung durch die gegenwärtige wirtschaftliche Notlage erwachsene Gefahr völligen Zusammenbruchs abzuwenden“. Die Forscher Fritz Haber, Max Planck, Adolf von Harnack und Preußens Kultusminister Friedrich Schmitt-Ott gehörten zu den treibenden Kräften dieser Organisation, die später unter dem heute noch aktuellen Namen Deutsche Forschungsgemeinschaft firmierte.

Alexander-von-Humboldt-Stiftung, Akademischer Austauschdienst und viele mehr - bald schon zieht akademisches Leben ins Schloss.
Alexander-von-Humboldt-Stiftung, Akademischer Austauschdienst und viele mehr - bald schon zieht akademisches Leben ins Schloss.
© Ullstein Bild

1922 zog die noch von Kaiser Wilhelm II. 1911 gegründete und nach ihm benannte Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (KWG) ein mit ihrer damals noch recht bescheidenen Generalverwaltung – und suchte den Kontakt zur Öffentlichkeit. Am Samstag, dem 23. November 1923, abends um „8 1/2“ fand ein erster „Wintervortrag“ im Festsaal der KWG statt. Es sprach ihr Präsident, Adolf von Harnack, über Sprache und Sprachreinigung. Weitere Vorträge folgten im Monatsabstand, unter den Rednern der Genetiker Richard Goldschmidt und der Atomphysiker Otto Hahn. Später verlegte man die Vorträge auf Mittwoch und ließ sie eine halbe Stunde früher beginnen. Und ausnahmsweise war auch einmal eine Frau unter den Vortragenden: Lise Meitner, Deutschlands erste Physikprofessorin, sprach am 19. Januar 1927 „Über den Bau des Atominneren“. Susanne Kiewitz, die die Max-Planck-Gesellschaft, also die Rechtsnachfolgerin der KWG, in Berlin vertritt, berichtet, dass diese Vorträge sehr beliebt gewesen seien. Der Eintritt war frei, aber man musste sich auf jeden Fall eine Karte reservieren lassen.

Das Schloss wird zum Ort von Forschung und Politikberatung

Neben der Generalverwaltung der KWG wurden auch zwei Kaiser-Wilhelm-Institute untergebracht: das 1924 als insgesamt 15. KWI gegründete Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht sowie jenes für ausländisches und internationales Privatrecht von 1926. Für Kiewitz ist gerade das erstgenannte Völkerrechtsinstitut besonders bemerkenswert, weil man daran sehen könne, wie Wissenschaft auf den Ersten Weltkrieg reagiert habe. Das Institut machte „Politikberatung für die Regierung infolge der ja durchaus schwierigen Situation Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg“. Nach dem Versailler Vertrag habe man es mit völlig neuen völkerrechtlichen Problemen zu tun gehabt. So wurde das Völkerrechtsinstitut dann auch sehr groß und meldete, als in den 1930er Jahren ein Umzug zur Debatte stand, einen Bedarf von 70 Räumen. Das war weit mehr, als die KWG-Generalverwaltung beanspruchte.

Eine andere Reaktion auf den Ersten Weltkrieg war in Deutschland die Gründung des Akademischen Austauschdienstes: „Das Ziel: die Wiederanknüpfung akademischer Beziehungen zu den großen, uns im Weltkrieg feindlichen westlichen Kulturnationen: Vereinigte Staaten, England, Frankreich.“ Gegründet als studentische Initiative in Heidelberg und zunächst beschränkt auf Studenten der Staatswissenschaften zog der Austauschdienst aber bald nach Berlin, wo er vom Auswärtigen Amt finanziert wurde. Neue Adresse für mehrere Jahre: Berlin C2. Schloss, Portal III.

Ein Vorläufer des Humboldt-Forums

Keine Illusion. Das Psychologische Institut der Berliner Universität hatte für seine Arbeit große Laborräume eingerichtet.
Keine Illusion. Das Psychologische Institut der Berliner Universität hatte für seine Arbeit große Laborräume eingerichtet.
© Ullstein Bild

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der Deutsche Akademische Austauschdienst, ab 1925 auch die Alexander-von-Humboldt-Stiftung – alle unter dem Dach des Schlosses. Fast scheint die heutige Idee des Wissenschaftsorts Humboldt-Forum schon einmal Wirklichkeit gewesen zu sein. Und mit den Genannten ist die Reihe noch nicht an ihrem Ende: Auch die Universität litt Raumnöte und drängte ins Schloss. Zu den ersten und dann auch flächenmäßig größten akademischen Mietern gehörte das Psychologische Institut, das für seine Arbeiten in der Gestaltpsychologie große Laborräume einrichtete. Das Institut zählte damals auch international zur Spitze in seiner Disziplin. Margarete Pratschke, Professorin für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich, weiß, dass wer damals etwas auf sich hielt in der Psychologie, auch das Institut besucht hatte. „James Jerome Gibson aus den USA, ein sehr wichtiger Wahrnehmungspsychologe, war auf Europatour natürlich auch im Schloss, ließ sich einen Leserausweis ausstellen und guckte sich dann dort um.“ Zu sehen bekam er eine Reihe von Räumen, die das Schloss kaum noch erkennen ließen. Die Böden abgedeckt, die Decken verhängt, große Installationen im Raum, sogar einen Filmvorführsaal gab es.

Ganz zivil. Mitarbeiter der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.
Ganz zivil. Mitarbeiter der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.
© Max-Planck-Gesellschaft

Das Psychologische Institut war auch der Ort, an dem das als „Berliner Phonogramm-Archiv“ begründete Lautarchiv seine Heimat fand. Es war auf Initiative des ersten Institutsdirektors Carl Stumpf eingerichtet worden und enthielt eine Vielzahl von Tonaufnahmen: Musik ferner Kulturen wie auch Aufzeichnungen fremder Sprachen, die teilweise während des Krieges in Gefangenenlagern entstanden waren. Nur dieses Lautarchiv, das später zwischen Universität und Völkerkundemuseum aufgeteilt war (und noch heute zwischen Humboldt-Universität und Ethnologischem Museum aufgeteilt ist), wird wohl zurückkehren ins Schloss, als Exponat im Humboldt-Forum.

Die Kriegsnot verschwindet, ein Sportmuseum kommt

Der einstige Preußen-Palast war in den 1920ern also kein Geisterhaus, sondern randvoll genutzt: Auch ein auf Betreiben von Fritz Haber gegründetes Japan-Institut fand seinen Platz, die Mexiko-Bücherei, das von Reinhold Seeberg gegründete Institut für Sozialethik und Wissenschaft der Inneren Mission, das an der Fakultät für evangelische Theologie angedockte Seminar für Publizistik unter August Hinderer und auch das 1927 gegründete und vom Orientalisten Julius Ruska geführte Forschungsinstitut für die Geschichte der Naturwissenschaften.

Und natürlich gab es auch Mieterwechsel. Die Quäker und die Gemeinschaftsküche der österreichischen Freundeshilfe verschwanden mit der ärgsten Nachkriegsnot, und auch das Fürsorgeamt für die vertriebenen Beamten aus den Grenzgebieten gab seine Räume irgendwann auf. Andere Mieter zogen nach. 1925 eröffnete das welterste Sportmuseum, damals „Museum für Leibesübungen“, im dritten Stock des Schlosses. Ein privater Museumsverein hatte dafür sechs Räume angemietet, in denen er Sportliches zeigte vom Altertum bis in die – wie es damals hieß – „Jahnzeit“. Man betrachtete nicht nur Turn- und Sportgeräte, sondern auch die Schnittstellen zu Medizin, Architektur, Kultur. Mit der Eröffnung verband sich die Hoffnung, eines Tages größere Räume im Haus zu bekommen und staatliche Förderung. Doch sie wurde enttäuscht. Zwar wurde das Museum vom Staat übernommen, zog dann aber in Räume außerhalb des Schlosses um und wurde schließlich von den Nazis geschlossen.

Sportlich, sportlich. 1925 eröffnete im Schloss das welterste "Museum für Leibesübungen":
Sportlich, sportlich. 1925 eröffnete im Schloss das welterste "Museum für Leibesübungen":
© Ullstein Bild

Auch die Deutsche Kunstgemeinschaft zählte Mitte der 1920er zu den neueren Mietern. Sie wurde mit staatlicher Hilfe gegründet, um der wirtschaftlichen Not der Künstler entgegenzuwirken. Die Bundeszeitung des Allgemeinen freien Angestelltenbundes schrieb, dass die Bevölkerung gegenwärtig außerstande sei, selbst kleinere Beträge für die Anschaffung von Kunstgegenständen zurückzulegen. „So finden die wertvollsten Arbeiten unserer deutschen Künstler keine Abnahmen. Der Kampf der Künstler um das nackte Dasein ist ein verzweifelter.“ Die Kunstgemeinschaft wollte durch Ratenzahlungen den Ankauf von Kunst erleichtern. Im Sommer 1926 wurde die erste Verkaufsausstellung eröffnet.

Die Philharmoniker gaben hier noch 1941 Open-Air-Konzerte

So war das Schloss zu dieser Zeit auch ein Musentempel: Kultur und Wissenschaft dicht an dicht. Ab Mai 1932 wurde dieser Charakter in besonderer Weise unterstrichen mit Konzerten unter freiem Himmel. „Schlossmusiken“ hieß die Reihe, und die Kapelle der Staatsoper unter Erich Kleiber eröffnete sie im Schlüterhof mit Haydn, Händel, Mozart und der 3. Sinfonie von Friedrich dem Großen. Hundert Studenten mit Fackeln säumten den barocken Hof. Die Konzertreihe wurde bis in die Kriegsjahre hinein fortgesetzt, selbst im Juni 1941 gaben die Philharmoniker noch drei Konzerte.

Als 1933 die Nazis die Macht übernahmen, bekam man das bald auch im Schloss zu spüren. Ulrich Grothus, stellvertretender Generalsekretär des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, berichtet von gegensätzlichen Tendenzen: Zum einen hätten die Nazis ein großes Interesse an der auswärtigen Kulturpolitik gehabt. Das Budget des DAAD sei bis in den Zweiten Weltkrieg hinein wieder gestiegen. Es wurden viel mehr Stipendien vor allem in Südosteuropa vergeben, um die Hegemonialbestrebungen Deutschlands in dieser Region zu flankieren. Zum anderen seien die Wurzeln, die der DAAD in der Republik bei Demokraten wie auch bei konservativen Nicht-Demokraten hatte, ziemlich schnell abgeschnitten worden. In der Geschäftsstelle wurden bereits 1933 zwei sogenannte halbjüdische Mitarbeiterinnen entlassen. Der jüdische Buchhalter, Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg, habe noch bis 1936 bleiben dürfen. Präsident des DAAD war 1933 Professor Theodor Lewaldt, Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees und ebenfalls sogenannter Halbjude. Während er noch bis zu den Olympischen Spielen 1936 im IOC habe bleiben können, wurde er als DAAD–Präsident schon Anfang 1933 durch den SS-Brigadegeneral Ewald von Massow ersetzt.

Die Nazis und das Schloss - eine ambivalente Beziehung

Voll da nach dem Krieg. 1946 drängen sich Besucher in einer Ausstellung moderner französischer Malerei.
Voll da nach dem Krieg. 1946 drängen sich Besucher in einer Ausstellung moderner französischer Malerei.
© Ullstein Bild

In einer der raren Rundfunkaufzeichnungen jener Jahre erläutert von Massow, was jetzt von den Stipendiaten gefordert wurde. Da die „Ausgetauschten als Repräsentanten ihrer Heimat beurteilt“ würden, sei eine sorgfältige Auswahl nicht nur nach wissenschaftlichen Leistungen und Sprachkenntnissen, sondern besonders auch durch Wertung der ganzen Persönlichkeit geboten. Es sei selbstverständlich, dass hierfür „eine eindeutige, offene Einstellung zum neuen Deutschland verlangt werde“.

Dieses „neue Deutschland“ ergriff ansonsten allerdings nur verhalten Besitz vom Schloss, Guido Hinterkeuser spricht von einem Dasein im „kulturellen Windschatten“. Weder gab es große Selbstinszenierungen des Regimes in den Kulissen des Gebäudes, noch wurde es in größerem Maße für administrative oder protokollarische Zwecke genutzt. Hinterkeuser hat sogar eine regelrechte Abkehr vom Schloss beobachtet: Hatten die Redner auf Demonstrationen im Lustgarten zu Zeiten der Weimarer Republik das Schloss in der Regel als Hintergrund genutzt, so drehte die Nazi-Regie die Verhältnisse jetzt um. Die Redner standen nun vor Schinkels Altem Museum, die Massen wandten dem Schloss den Rücken zu.

Während sich das Regime so insgesamt der Barbarei verschrieb, pflegte man im Schloss weiterhin Kultur und Wissenschaft. Es wurde sogar ein neues Museum angesiedelt – das Museum der preußischen Staatstheater. Die Theaterwissenschaftlerin Ruth Freydank hat dessen Geschichte rekonstruiert: 1929 ein bescheidener Start in einem früheren Stallgebäude in der Oberwallstraße. 1937 dann der Umzug ins Schloss. Preußens Ministerpräsident Hermann Göring war der für die Staatstheater zuständige Dienstherr. Und als solcher habe er sich auch für die Frage interessiert, wie man die seit 1929 entstandene Theatersammlung besser unterbringen könnte. Damit habe Göring gegenüber Goebbels, der ja in der Berliner Kultur einen großen Anspruch erhoben habe, „seine eigene Karte spielen“ wollen.

Göring will sich im Schloss als Kulturmensch profilieren

So entschied sich Göring für die Nutzung von 16 Räumen im Lynarschen Flügel, dem Mittelbau zwischen den beiden großen Höfen. Im Landesarchiv findet sich eine Baurechnung der Preußischen Bau- und Finanzdirektion von 1937, der zufolge für die notwendigen Baumaßnahmen 44 300 Reichsmark bewilligt worden waren. Verausgabt wurden allerdings nur 44 294,93 RM. Regierungs-Bauinspektor Schultze kommt zu dem Schluss: „Mithin wurden eingespart 5,08 RM.“ Jetzt konnte man die inzwischen umfangreichen Sammlungen repräsentativ ausstellen. Allerdings wurde die Berliner Theatergeschichte im Sinne der NS-Ideologie „arisiert“, also ohne die wesentlichen Beiträge jüdischer Künstler und Bürger präsentiert.

Die Eröffnung des Museums am 6. Januar 1937 fiel relativ bescheiden aus. Weder Göring noch Goebbels ließen sich sehen, auch der Generalintendant der preußischen Staatstheater, Heinz Tiedjen, kränkelte und blieb dem Ereignis fern. So musste man sich mit dem Grußwort eines Ministerialrates zufriedengeben – vielleicht auch ein Hinweis darauf, dass das Schloss während der Nazi-Diktatur nur eine Nebenrolle spielte.

Was nicht heißt, dass hier nicht selbst im Krieg noch investiert wurde: Zwar wurden schon zu Kriegsbeginn Schlossmuseum und auch das Theatermuseum geschlossen, erläutert Ruth Freydank. Doch noch 1941 kostete der Ausbau von Räumen „für Zwecke das Staatsopernballetts“ mehr als 123 000 Reichsmark – mutmaßlich ging es um eine neue Probebühne im ehemaligen Alabastersaal, neben dem Theatermuseum.

Inzwischen kam der Krieg aber immer näher. Die Museen, zwischenzeitlich wieder geöffnet, wurden 1943/44, als die Bombenangriffe immer häufiger der Stadtmitte galten, endgültig dichtgemacht. Das Schloss aber blieb lange weitgehend unversehrt, erst bei einem Luftangriff in den Mittagsstunden des 3. Februar 1945 wurde es von zahlreichen Spreng- und Brandbomben massiv getroffen. Nun war es wirklich gravierend beschädigt – vier Tage lang brannte das Schloss aus. Und war doch bei Weitem nicht zerstört. Beträchtliche Teile waren sogar fast vollständig erhalten, vor allem im Nordwestflügel mit seinem repräsentativen Weißen Saal. Schloss Charlottenburg jedenfalls – jünger in den Fundamenten, dünner in den Mauern – sah zu dieser Zeit schlimmer aus.

Kaum war der Krieg vorbei, entwickelte sich eine heftige Kontroverse um den Umgang mit dem Schloss. Während Hans Scharoun, das für Bauen zuständige Mitglied im Gesamtberliner Nachkriegsmagistrat, im August 1945 Geld für Sicherungs- und Instandsetzungsarbeiten vor allem am Berliner und am Charlottenburger Schloss beantragte, lehnten die Kommunisten im Magistrat dies ab. Scharoun hatte insgesamt 71 200 Mark haben wollen – davon 49 000 für das Charlottenburger Schloss und nur 19 000 für das in der Stadtmitte. Er zog seinen Antrag zurück, schaffte es dann aber doch, einzelne Räume zu sichern. Vor allem der Weiße Saal wurde hergerichtet, in dem dann auch noch, wie Guido Hinterkeuser sagt, vier „aus heutiger Sicht fulminante“ Ausstellungen stattfanden. „Berlin plant“ hieß die erste, und sie zeigte, wie Stadtplaner sich die Auferstehung Berlins aus den Ruinen vorstellten. Spektakulär auch eine Schau moderner französischer Malerei. Zu Weihnachten 1946 folgte ein „Wiedersehen mit Museumsgut“, das wegen des Krieges ausgelagert war. Und schließlich 1948 eine große Ausstellung zum Jahrestag der Revolution vom 18. März 1848.

Beim Abriss mischt wieder ein Liebknecht mit - und bereut später

Dennoch: Die Führung der Deutschen Demokratischen Republik entschied sich gegen das Schloss. Auf dem Parteitag der SED am 23. Juli 1950 kündigte der Erste Sekretär des Zentralkomitees, Walter Ulbricht, den Abriss an: „Das Zentrum unserer Hauptstadt, der Lustgarten und das Gebiet der jetzigen Schlossruine, muss zu dem großen Demonstrationsplatz werden, auf dem Kampfwillen und Aufbauwillen unseres Volkes Ausdruck finden können.“ Damit setzte sich fort, was Arthur Pieck, Sohn des ersten DDR-Staatspräsidenten Wilhelm, bereits 1945 zum Besten gegeben hatte: „Niemand hat ein Interesse an Machwerken, die nur Ausdruck des wilhelminischen Imperialismus sind.“ Oder der später als Ex-Nazi enttarnte KPD-Mann im Magistrat, Edmund Noortwyck, der meinte, es könne nicht Aufgabe des Magistrats sein, „die Erinnerung an die Zeit der Hohenzollern zu konservieren“.

Was blieb. Der Balkon, von dem Karl Liebknecht angeblich die Republik ausrief, wurde ins DDR-Staatsratsgebäude integriert.
Was blieb. Der Balkon, von dem Karl Liebknecht angeblich die Republik ausrief, wurde ins DDR-Staatsratsgebäude integriert.
© picture alliance / dpa

Als im September 1950 gesprengt wird, steht kein Liebknecht bereit, das Volkseigentum zu schützen. Im Gegenteil. Diesmal ist ein Liebknecht vorneweg beim Abriss dabei: Kurt Liebknecht, Neffe von Karl, ein Architekt und Stadtplaner. Doch seine öffentliche Unterstützung des Abrisses widersprach offenbar seiner inneren Überzeugung. In seiner noch zu DDR-Zeiten erschienenen Autobiografie heißt es: „Da ich aus der Sowjetunion gewohnt war, Disziplin zu üben, entsprechend den aktuellen Notwendigkeiten und Möglichkeiten zu bauen und dabei meine persönlichen Empfindungen weitgehend zurückzustellen, habe ich die notwendige Einsicht bei solchen Entscheidungen letztlich doch immer gefunden.“ Im August 1990 wird Liebknecht noch deutlicher. Im Interview mit der „Berliner Zeitung“ sagt er: „Die Initiative zum Abriss ging eindeutig von Walter Ulbricht aus, der damals sehr viele Dinge allein entschied, und ich muss sagen, etliche auch falsch. In vielen Gesprächen, auch früher schon, habe ich die Meinung vertreten, dass das Schloss auf seinem Standort hätte stehen bleiben müssen. Ich wurde durch die Parteiführung dazu gebracht, beim Abriss mitzumachen, ihm zuzustimmen. Aus heutiger Sicht muss ich sagen, es war ein großer Fehler.“

Ein großer Fehler – und ein bitteres Ende für einen Bau, der zu den wichtigsten Kulturdenkmälern nördlich der Alpen zählte. Ein bitteres Ende aber auch für ein Haus, das schon seit Jahrzehnten keine Hohenzollern-Residenz mehr war, sondern eben das Schloss der Republik.

Dieser Text erschien zunächst in gedruckter Form in unserer Samstagsbeilage Mehr Berlin.

Christian Walther

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