Nach dem gescheiterten Putsch: Der Türkei-Konflikt in Berlin
In Köln werden am Sonntag 30.000 Türken erwartet - auch aus Berlin reisen Erdogan-Anhänger an. Deutschlandweit tobt der Kampf: Islamisten gegen Kemalisten, Nationalisten gegen Kurden. Und was ist mit den Aleviten?
Nein! Oder doch? Aber nur fünf Minuten! Vor der Berliner Aziz-Nesin-Grundschule steht ein paar Tage nach dem Putschversuch in der Türkei ein junger Vater, verabschiedet seine Tochter mit einem Kuss auf die Wange, gibt seiner Frau die Autoschlüssel, sagt noch einmal: „Nur fünf Minuten, eigentlich hab’ ich die Schnauze voll davon!“
Aus fünf Minuten werden zwei Stunden, in denen der Vater – Mitte 30, schwarze Locken, weiße Turnschuhe – über all das redet, was ihn am Heimatland seiner Eltern stört: der Türkei. Kein anderer Vater, keine Mutter will sich an diesem Tag vor der deutsch-türkischen Schule in Kreuzberg äußern. Zu heikel. Der junge Vater nennt nur einen Vornamen: Riza.
Vorsicht ist angebracht, denn Riza sagt: „Ich bin durch mit diesem Land!“
Doch dieses Land ist nicht durch mit ihm. Die Türkei hat wie kaum ein Staat Spuren in Deutschland hinterlassen. In der Bundesrepublik leben drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln, in Berlin mindestens 200 000. Was in der Türkei passiert, wirkt sich auf Berlin aus. Am Freitag zogen 1500 Demonstranten durch die Stadt. Motto: „Weder Militärputsch noch AKP-Diktatur!“ Das passte Anhängern von Recep Tayyip Erdogan und seiner AKP nicht, die vom Straßenrand aus Demonstranten provozierten.
Ein Sprecher von Innensenator Frank Henkel sagt, man erstelle „Gefährdungsbewertungen“. Im Klartext: Es droht Gewalt. In Hagen und Köln haben türkische Rechte schon zugeschlagen. In Gelsenkirchen griffen 150 Nationalisten einen Jugendtreff an, der dem Prediger Fethullah Gülen nahestehen soll. Denn Erdogan macht Gülen für den Putschversuch verantwortlich.
Wie viel türkische Innenpolitik wird in deutschen Städten ausgetragen?
„Es muss sich niemand wundern“, sagt Riza, „wenn es in Berlin mal richtig knallt – so wie in Istanbul.“ Er allein kenne Hunderte, die wie er in Berlin aufgewachsen seien, sich aber nicht als Deutsche, sondern als Türken begriffen. Die Türkei jedoch sei ein rückschrittliches Land, wo das Recht des Stärkeren zähle. „Viele Türken sind nie in der Moderne angekommen. Das Leben besteht für sie aus Clan, Religion und Seilschaften.“
Dieses Leben setzen sie, so der Vorwurf, auf deutschen Straßen fort.
Riza lehnt sie alle ab: Die Anhänger Erdogans genauso wie die kemalistischen Militärs. Die Salafisten, die vor ein paar Tagen junge Wehrpflichtige lynchten, und auch die Jünger des Predigers Gülen. Die Kurdenseparatisten, die von allen anderen gleichermaßen gejagt werden, sind Riza ebenfalls suspekt.
Ob Parteien, Sportvereine, Gotteshäuser - fast jede Organisation der Türkei hat in Berlin einen Ableger. Man muss hier nicht nur kein Deutsch können, man kann auch im politischen Kosmos der Türkei stecken bleiben. „Wenn ich in eine Eckkneipe gehe“, sagt Riza, „sitzen da Polen, Deutsche, Kroaten. Die Türken aber wollen oft unter sich bleiben. Mehr als die Hälfte von ihnen stehen hinter Erdogan - oder noch rechts von ihm.
Andere urteilen vorsichtiger. Riza, das sagt er selbst, ist eine Ausnahme. Jemand, der in der Community vernetzt ist und offen, wenn auch diplomatisch über die Lage spricht, ist Kadir Sahin. Den Ereignissen entziehen, das stehe fest, könnten sich die Berliner Türken nicht. „Ob jemand politisch ist oder nicht, die Lage in der Türkei ist so zugespitzt, dass auch in Berlin jeder eine Position dazu hat.“
Sahin, Ende 20, ist Generalsekretär der Alevitischen Gemeinde in der Kreuzberger Waldemarstraße. Rund 4500 Berliner gehören ihr an, insgesamt leben 70 000 Aleviten in der Stadt. Die liberale, obrigkeitskritische Strömung im Islam wird von sunnitischen Muslimen abgelehnt. Sahin, ein studierter Pädagoge, muss die Folgen seiner Statements für alle Aleviten bedenken.
„Der Druck aus Ankara“, sagt Sahin, „auf die Türkischstämmigen in Deutschland könnte steigen.“
Die Aleviten waren immer schon Ziel von Nationalisten, Militärs, Islamisten. In den 70ern töteten Rechtsradikale in der Türkei massenhaft Linke, Kurden und Aleviten. In den 80ern herrschten die Militärs, die Aleviten blieben eine im Verborgenen betende Minderheit. In den 90ern gab es Hoffnung, doch für Aleviten blieb es gefährlich. Nach der Jahrtausendwende fühlten sich die sunnitischen Massen nicht mehr von den kemalistischen Eliten vertreten, der Aufstieg der Islamisten begann. Nach dem gescheiterten Putsch versuchte ein Mob, aus dem heraus immer wieder „Allahu Akbar“-Schreie ertönten, ein Alevitenviertel in Istanbul zu stürmen.
Sahin holt zwei Gläser Tee und lädt in den Gemeindesaal. Auf dem Wandbild prangt ein meterhoher Löwe und Ali, der Schwiegersohn des Propheten Mohammed. Vor einem Jahr beschmierten Unbekannte das Zentrum in der Waldemarstraße. Da war in Ankara gerade die linke, prokurdische HDP mit den Stimmen vieler Aleviten ins Parlament gewählt worden. „Dabei suchen wir den Dialog“, sagt Sahin, „mit Sunniten, Konservativen, Kemalisten.“
Am nahen Kottbusser Tor überfielen damals rechte Türken linke Kurden. Bislang war das, grob vereinfacht, die vorherrschende Gefahr. Vergangenes Jahr verübten türkische Nationalisten offiziell elf Gewalttaten in Berlin. Nun aber droht neue Unübersichtlichkeit, wenn sozialdemokratische Kemalisten auf fromme AKP-Anhänger treffen. Oder die rechtsradikalen Grauen Wölfe auf Gülen-Jünger.
Der Kampf um die Türkei beschäftigt nicht nur die Polizei. Im Kreuzberger Rathaus wird darüber gestritten, dass der Bezirk den Aleviten ein Grundstück für ein Denkmal zur Verfügung stellen will. Damit soll an die Massaker in Dersim in den 30ern erinnert werden, bei denen 60.000 Aleviten starben. Die Türkische Gemeinde lehnt das Denkmal ab. Und sagt, man werde „Teile der Bevölkerung gegen eine Denkmalsetzung“ mobilisieren. Eine andere Stele in Kreuzberg aber steht. Es ist die in Gedenken an Celalettin Kesim. Der Lehrer wurde dort 1980 von einem islamistisch-nationalistischen Mob erstochen.
So weit kommt es diesmal nicht. Das sagt Ilker Duyan, der 1970 zum Studium nach Deutschland kam. Duyan engagiert sich im Türkischen Bund Berlin-Brandenburg, will ein paar Tage nach dem Putschversuch aber als Privatperson sprechen. Duyan sagt: Religiöse und Kemalisten, Türken und Kurden, Sunniten und Aleviten wohnten in Berlin so nahe nebeneinander, dass sie auch künftig miteinander auskämen. „Anders ginge es ja auch nicht!“ Duyan arbeitete als Biologe, seine Kinder studieren. Er warnt davor, die Community als Ganzes zu verdammen. Kadir Sahin, der Versöhner aus der Waldemarstraße, sieht das insofern ähnlich, als dass nur wenige Türken in reaktionären Vereinen organisiert seien.
In Berlin sind die Behörden da skeptisch. Türkische Innenpolitik, heißt es, werde in Deutschland auch deshalb betrieben, weil die Regierung in Ankara das so wolle. „Sicher, türkische Rechte sind eine Minderheit, sagt ein ranghoher Strafverfolger, „aber eine einflussreiche.“ In Moscheen und Fitnesscentern heizten Nationalisten die Stimmung an, während bei deutschen Behörden die Diplomaten intervenierten. Der Beamte sagt: „Zehntausende arbeiten hierzulande quasi einem anderen Staat zu.“
Eine fünfte Kolonne in der Stärke einer Armee - kann das stimmen?
Da sei die „Union Türkisch-Europäischer Demokraten“, sagt der Beamte, die als Auslandsarm der AKP bundesweit Treffen organisiere, zu denen Tausende kämen. Erdogan selbst trat 2008 bei einer solchen Veranstaltung in Köln auf und sagte, Assimilation sei „ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Da sei die „Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion“, kurz Ditib. Sie unterstehe Ankara, leite aber Moscheen in Deutschland. Und da seien einige Deutschtürken, die sich in der CDU, der SPD und bei den Grünen engagiert hätten - aber immer nur mit Blick auf die Politik ihrer Heimat.
In den 90ern hatte der Pate der Grauen Wölfe, ein Armeeoberst, in Essen seine Anhänger aufgerufen, deutschen Parteien beizutreten. Die NPD sei zwar ungeeignet, sagte der Faschistenchef, die CDU aber passabel. Inzwischen sind immer wieder türkische Nationalisten aus deutschen Parteien geflogen. Ein AKP-naher Unternehmer in Berlin hat nun kurz nach der Armenienresolution angekündigt, eine eigene Partei zu gründen.
Schlimmer finden Berliner Sicherheitsbeamte die Arbeit des türkischen Geheimdienstes, des MIT. Der Nachrichtendienst mische in der Community überall mit. So gebe es in der Stadt kleinkriminelle Deutschtürken, die sich jahrelang nur für Spielcasinos und Türsteherjobs interessierten, bis sie - der Kurdenkonflikt eskalierte gerade - plötzlich als „Turkos MC“ auftauchten. Der Politrockerklub führte 2015 antikurdische Aufmärsche an. „Auf einmal hatten die Geld und 'nen Plan“, sagt der Jurist. „Dabei waren das kleine Dealer, letztlich Großmäuler.“ Die seien, schlussfolgert er, angeleitet worden. „Mich erinnerte das sofort an den MIT.“ Außerdem, das berichten auch in Berliner Vereinen organisierte Türken, tauchten bei oppositionellen Veranstaltungen oft neugierige Besucher auf. Diese Männer, hätten Recherchen ergeben, besitzten grüne Pässe - üblich sind rote. Die grünen haben in der Türkei nur hohe Beamte. Kann da etwas dran sein?
Refik Sogukoglu ist der Pressechef in der türkischen Botschaft. Ein höflicher Mann, der sich darüber ärgert, wie sein Land in deutschen Medien präsentiert werde. Die Behauptungen zur Rolle der Botschaft und des MIT seien haltlos. Die Türken in Deutschland hätten nach dem Putschversuch - mit Ausnahme weniger Einzelfälle - gesetzestreu reagiert. Die Botschaft habe sie dazu aufgerufen, „beim Gebrauch ihrer demokratischen Rechte stets auf den legalen Rahmen zu achten“.
Das für Spionageabwehr zuständige Bundesamt für Verfassungsschutz äußert sich nicht zum türkischen Geheimdienst. Die Rolle türkischer Nationalisten in der Außenpolitik Ankaras wird in diesen Tage dennoch neu bewertet. Der Grünen-Politiker Volker Beck sagt, mit der zentralen Predigt zum letzten Freitagsgebet habe Ditib den Konflikt aus der Türkei nach Deutschland getragen. Die „deutsche Politik braucht mehr Mut zu Streit“ mit den islamischen Verbänden.
Zurück in Kreuzberg, bei Sahin, dem Versöhner: „Man kann nicht in Deutschland mehr Rechte einfordern, aber von ausländischen Mächten abhängig sein.“ Um Muslime in Deutschland zu emanzipieren, brauche es Bildung und Brauchtumspflege aus Deutschland, nicht aus Ankara. Sahin befürwortet deshalb das geplante Institut für islamische Theologie an der Humboldt-Universität. Was Erdogan 2008 sagte, sei falsch - doch Assimilationsdruck sei eben auch falsch. „Aber in Deutschland herrscht kein Zwang, sich zu assimilieren“, sagt Sahin. „Wir können unsere Kultur hier leben. Meine Heimat ist Deutschland.“
Riza, der junge Vater, der mit dem Land seiner Eltern abgeschlossen hat, ist nach zwei Stunden Gespräch erschöpft. „Bei diesem Thema immer!“ Nun will er sich an einer Dönerbude einen Kaffee holen, entscheidet sich dann aber für ein Bier. „Schon, um die Läden zu stärken, die Alkohol verkaufen.“ Er sieht das als Beitrag im Kampf gegen die islamischen Tugendwächter.